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  • Guckstu

mehr als 1000 Beiträge seit 18.03.2024

Re: Realpolitik

hdwinkel schrieb am 23.06.2024 15:00:

Liest man die Kommentare zu der Annäherung zwischen Russland und Nordkorea, dann wähnt man sich inmitten eines Sportwettkampfes. Mit großen Emotionen, werden alle Aktionen des gegnerischen Lagers vehement abgelehnt und alle vermeintlichen Schwächen des Gegners lautstark beklatscht.

Das sind keine Sportwettkampfkommentare; wie kommst du auf diese Idee?

Wären das Sportwettkampfkommentare, wäre das alles viel weniger ernsthaft. Nach dem Spiel ist vor dem Spiel, die Kommentare von heute sind nächstes Jahr oder vielleicht sogar nächsten Monat nicht mehr relevant.

Aber das ist es eben nicht. Was Nordkorea heute tut, wird sich noch etliche Jahre lang auswirken.
Und deshalb sind die Kommentare auch sehr viel ernsthafter und werden sehr viel ernster genommen.

Diesen Trend gibt es auch in unserer Regierungspolitik.

Nö. Das hat alles nicht von Sportwettkampfkommentaren.
Deswegen schreiben wir ja auch überhaupt hier. Über die Fußballkommentare würden wir uns ja gar nicht austauschen, oder?

Wir sind längst Teil einer Wiederkehr der politischen und militärischen Blöcke, vor allem einem Blockdenken in dessen Auswirkungen die Schädigung des Gegners in allem politischen und wirtschaftlichen Handeln wichtiger wird, als der Nutzen für einen selbst.

Das ist VÖLLIG falsch.
Ginge es nur darum, hätten wir Russland schon vor Jahrzehnten totsanktioniert und China gar nicht erst in die WTO reingelassen.

Es geht darum, Eroberungskriege als Mittel der Geopolitik so sehr zu ächten, dass sie unattraktiv werden.

Und es geht darum, dass Russland längst in der Phase ist, dass es wichtiger ist, den Gegner zu schädigen, als selbst einen Gewinn zu haben.
Und was soll man gegen so einen Gegner tun, als ihn selbst möglichst stark zu schädigen?

Nicht im Sinne von "wir machen den Angriffskrieg für dich so teuer, dass es wirtschaftlich ein Verlust wird". Darüber ist Russland längst hinaus. Dort war es im Grunde schon bei der Entscheidung, lieber aufzurüsten als in die eigene Infrastruktur zu investieren.
Sondern im Sinne von "wir machen den Angriffskrieg für dich so teuer, dass du für eine erfolgreiche Militäroperation keine Ressourcen mehr hast".

Und da sind natürlich möglichst wirksame Sanktionen nötig.
Und Sanktionen kosten Geld. So wie jede andere Gegenmaßnahme gegen einen Aggressor auch, daran ist jetzt nichts Besonderes.

Und nein, die Selbstschädigung ist den sanktionierenden Staaten alles andere als egal.
Es geht ihnen immer darum, den Schaden für Russland zu maximieren und den eigenen zu minimieren. Gerade deshalb hat Deutschland gerade das aktuelle Sanktionspaket noch blockiert, bevor ein paar Details so geändert wurden, dass die deutsche Industrie weniger belastet wird.

Damit verlassen wir die Realpolitik und machen uns höchst abhängig von einer den Blöcken innewohnenden Eigendynamik.
Der WK1 mit seinem Schafwandeln in eine europäische Katastrophe hatte ähnliche Startbedingungen.

Wo ist da eine Eigendynamik?
Die gelieferten Waffen sind Nutzungsbeschränkungen unterworfen.
Selbst die Sanktionspakete werden fünfmal hin- und hergewendet, bevor sie verabschiedet werden.
Die Ukraine sagt immer und immer wieder, sie will keinen Fußbreit russischen Boden. Mittlerweile so oft, dass es allgemein als Vertrauensbruch gewertet würde, wenn sie am Ende doch nach Russland hineinginge.
Und so peinlichst genau, wie man tatsächliche und eingebildete rote Linien Moskaus beobachtet und diskutiert, ist da wirklich nichts mit Eigendynamik. Ganz im Gegenteil, man analysiert sich bis zur Paralyse.

Die Hinwendung Russlands zu der nordkoreanischen Diktatur ist ein direktes Ergebnis der Sanktionen und damit versuchten Isolierung Russlands.

Das ist mal korrekt.

Nur was wiegt hier schwerer, die Schädigung Russlands oder die damit erreichte Stärkung Nord-Koreas und damit die Erhöhung der dortigen Kriegsgefahren?
Ein irrer Diktator erhält jetzt evtl. Hochtechnologie von Russland.

Das ist wirklich extrem unwahrscheinlich.
Russland hat ja nichts übrig, was es liefern könnte.
Und Nordkorea hat gar nicht die Möglichkeit, Hochtechnologie nachzubauen. Es erhält zuwenig Chips, es erhält zuwenig Hochpräzisionsteile, es erhält zuwenig moderne Werkzeugmaschinen.

Übrigens ist der Kim nicht irre.
Er muss nur den Vertrag mit seinem Volk einhalten - ohne Unterstützung seiner Kader ist er ja schnell EHEMALIGER Diktator.

Und dieser Vertrag lautet: Wir haben hier das beste Wirtschaftssystem der Welt. Wenn wir eure Freiheiten einschränken, dann deshalb, damit alle genug materiellen Wohlstand haben.

Diesen Vertrag konnten sie nicht einhalten.
Und damit brauchten sie eine Rechtfertigung. Die lautete: Wir werden von den fiesen Imperialisten direkt bedroht, also müssen wir unser Militär aufrüsten. Und damit das auch glaubwürdig ist, müssen sie tatsächlich eine große Armee aufbauen und ausstatten.
Aber diese Armee muss gar nicht kampffähig sein.

Und tatsächlich ist der größte Teil der nordkoreanischen Armee Schrott. Unpräzise Artillerie. Flugzeugtechnik aus den 50ern.

Wir können uns jetzt auf die Schulter klopfen für die Sanktionen, erreicht haben wir allerdings eigentlich gar nichts positives. Ob Südkorea jetzt die Ukraine direkt beliefert spielt insofern z.B. gar keine Rolle, da die Nato-Munition insgesamt knapp ist und ohnehin bereits an die Partnerländer geliefert wird, die diese Munition ohnehin in jedem Fall bezahlt. Da kommt jetzt keine Granate zusätzlich.

Die Südkoreaner haben ein Vielfaches der Bestände und Produktionskapazitäten der NATO-Staaten, mit Ausnahme - vielleicht! - der USA.
Sie bereiten sich ja permanent darauf vor, dass der Krieg mit Nordkorea wieder aufflammt.

Südkorea liefert sogar richtig moderne Kampfpanzer an NATO-Staaten.
180 Stück gehen an Polen, weiter 820 wollen die Polen unter Lizenz in einem eigenen Werk herstellen.

Südkoreas Unterstützung ist wirklich wichtig.

Taiwan denkt übrigens über Ähnliches nach. Die haben ihr Militär ebenfalls permanent hochgerüstet gehalten, und sie wären schön blöd, wenn sie das nicht exportieren würden, so wie der Markt gerade explodiert.

Noch mal - es wird keine Kosten-Nutzen Betrachtung im Hinblick auf unsere Interessen durchgeführt. Interessen spielen vor dem Hintergrund eines Blockdenkens eben kaum noch eine Rolle. Das wird nicht nur in Russland zu einer Deformation der Gesellschaft führen, sondern auch bei uns, die uns nicht wohlhabender macht, sondern insgesamt vermutlich ärmer.

Tja, da liegst du halt völlig falsch, wie ich hoffe gerade nachgewiesen zu haben.

Der Verweis auf Putin als Urheber ist da nicht sonderlich tröstlich.

Das nicht, aber tröstlich ist etwas anderes: Unter Putins Dominanz wären wir nicht ein bisschen ärmer, sondern ungefähr so bettelarm wie all die anderen Staaten unter russischer Dominanz.

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