Ja, insgesamt nah dran, aber nicht überall so richtig. Ich kann dir vielleicht eine kleine Anekdote liefern, die meine Mittelschichts-Denkweise ein bisschen illustriert. Wir schreiben das Jahr 2000, ich bin 24 Jahre alt, und habe das erste mal sechsstellig verdient - allerdings war mein Jahresverdienst damals noch in DM, der Euro kam erst zwei Jahre später.
Es versteht sich von selbst, dass mein Monatseinkommen über sämtlichen damaligen Beitragsbemessungsgrenzen lag, und ich somit unmittelbar in eine beliebige private Krankenversicherung wechseln konnte. (Und eine private Pflegeversicherung noch gleich dazu!)
Familie und Kinder gab es keine, meine Gesundheit war - für einen 24-jährigen wenig überraschend - in Ordnung, und mögliche Tricks zum Zurückwechseln in die GKV weit zahlreicher als heute. Das Einsparpotential im Falle eines Wechsels zur PKV (inklusive potentiell eingesparter und bei lockerster Verhandlung dem Gehalt zugeschlagener Arbeitgeberbeiträge) lag bei irgendwas zwischen 8000 und 10000 DM jährlich. Dafür aber zuvorkommendere Behandlung beim Arzt - wenn doch mal was sein sollte.
Welche Kasse war also kurz darauf mein Versicherungsinstitut? Richtig, natürlich die AOK. Weiterhin. Zum Höchstbeitrag. Warum? Weil ich alles andere als unerträglichste Rosinenpickerei gesehen hätte. Außerdem war es für einen denkenden Menschen natürlich vollkommen offensichtlich, dass Rot-Grün dieses absurde, komplett gegen jegliches Gerechtigkeitsempfinden verstoßende Kasperletheater eh schon bald abschaffen würde. War ja klar, so komplett daneben, wie dieses System war, konnte das kein Mensch mit auch nur minimalstem Anstand ernsthaft aufrechterhalten wollen. (Habe ich erwähnt, dass ich jung und naiv war?) Übrigens, bei Steuern natürlich das gleiche: irgendwelche Tricksereien? Nein Danke! Man kann sich auch einfach mal über das Leben in einem sehr zivilen Land freuen, und dies mit seinem eigenen Beitrag unterstützen. Damit es weiterhin zivil bleibt!
Tja. Wir wissen, wie es gekommen ist. Die PKV kann weiterhin Rosinenpickerei betreiben, die Standards der GKV wurden abgesenkt, und so etwas, wie meine (noch halbwegs moderate) Kurzsichtigkeit ist heute offensichtlich keine gesundheitliche Beeinträchtigung mehr, weswegen ich mittlerweile auch die Kosten meiner Brille nebst Gläsern komplett selbst tragen darf. Das Rentensystem forderte von mir massivste Beiträge, und wird mich trotzdem in Altersarmut bringen, und außerdem hat Rot-Grün noch Hartz IV eingeführt. Was in exakt einer Hinsicht tödlich ist: effektiv gibt es keinerlei Unterstützung mehr, wenn man selbst jahrelang Vorsorge betrieben, und gespart hat.
Wir fassen also zusammen:
- meine Solidarität wird über die hohen Sozialbeiträge massivst in Anspruch genommen.
- und zwar *NUR* als beitragspflichtiger Arbeitnehmer! Das Einkommen von Beamten, Selbstständigen, Erben und Vermietern u.v.a.m. ist *NICHT* betroffen. Wohlhabende Familien werden praktisch automatisch wohlhabend bleiben.
- mit den hohen Kosten an sich hätte ich noch *KEINE* Probleme gehabt, siehe mein Verhalten beim Thema Krankenkasse.
Aber, wie geht es weiter, welche Perspektive liefert mir eine rot-grüne Bundesregierung, die im Bereich der Sozialgesetzgebung übrigens sehr viele Dinge ohne Bundesrat beschließen kann? Nun, diese rot-grüne Regierung sagt zu mir folgende Dinge:
- Du zahlst gewaltig da in die Rentenkasse ein, wo wir andere schonen, aber bekommst selbst später nur eine marginale Rente gezahlt. Deine Beiträge verzinsen sich inflationsbereinigt stark negativ.
- Deine AOK kannst du dir in die Haare schmieren, wir kürzen die Leistungen schon jetzt. Wenn du alt bist, werden wir wahrscheinlich massiv weiterkürzen, weil die GKV mit so vielen Rentnern sonst zu teuer wird.
- Nur um es klarzustellen: all dies könnten wir halbwegs abfedern, indem sich alle an der Finanzierung der Sozialsysteme beteiligen, mit denen wir gerade diverse gesamtgesellschaftliche Aufgaben finanzieren. Wir haben die Möglichkeit, dies entsprechend zu tun. Das machen wir aber nicht.
- Die Folge dieser Dinge ist, dass es für dich sehr viel schwerer wird, eigenes Vermögen aufzubauen. Wir nehmen dein Geld, um den Staat maßgeblich zu finanzieren.
- Erbschaften lassen wir hingegen weiterhin massivst in Ruhe, und Vermögenssteuern fallen bei uns auch weg. Wenn deine Familie wohlhabend ist, wird sie es auch bleiben, ist sie es nicht, machen wir es schwerer, das zu ändern. Ach ja, und wir entlasten die Einkommensmillionäre, denn die alten Höchststeuersätze von über 50% senken wir ab. Die Priviliegien der bekannten Gruppen bei den Sozialversicherungen tasten wir weiterhin nicht an.
- Wir wissen, ca. zwei Drittel aller sozialversicherungspflichtig Beschätigen verlieren mit Ende fünfzig, Anfang sechzig mal zeitweilig länger ihren Job. Zum Beispiel, weil sie wegen einer schwereren Erkrankung mal mehrere Monate am Stück ausfallen, und dann gekündigt werden. Früher bekamen diese Leute immer noch zumindest Arbeitslosenhilfe, und konnten so ihr selbst aufgebautes Vermögen halbweg bewahren. Das erschweren wir ab nun massivst. Wir streichen die Arbeitslosenhilfe komplett zu Gunsten von Hartz IV. Dieses ist für Leute wie dich deutlich niedriger, aber keine Sorge, auch von diesem niedrigeren Betrag wirst du nichts bekommen. Ab jetzt hast du im Normalfall die Pflicht, all dein eigenes Vermögen zuerst aufzubrauchen. Und zwar schön in einer von *UNS* festgelegten monatlichen Maximalrate in Höhe vom ALG II! Wer sein Geld schneller ausgibt, bekommt nichts.
- Unsere Botschaft an dich lautet: Wir wollen nicht, dass du dir mit eigener Arbeit ein eigenes Stück Wohlstand aufbaust. Entweder du kommst aus einer reichen Familie, oder wir machen es dir sehr, sehr schwer.
- Deswegen bekommt auch jeder, der trotz aller oben genannten Hindernisse vorsorgt, massiv Ärger mit uns!
- Und außerdem führen wir in Deutschland den größten Niedriglohnsektor aller Industriestaaten ein. Einen Teil deiner Steuern und Abgaben verwenden wir zur Subventionierung von Firmen, die die Löhne so gering halten, dass ihre Arbeitnehmer ihr Geld beim Amt aufstocken müssen. Ach ja, übrigens: diese von dir mitsubventonierten Firmen machen dann auch deiner eigenen Firma Konkurrenz. Kann sein, dass du deswegen langfristig deinen Job verlierst.
Tja. Das ist es, was Rot-Grün mir gesagt hat. Natürlich, strenggenommen kann man so argumentieren, dass es *ALLES* am Ende auf das übrigbleibende Geld hinausläuft. Und ich deswegen nun im Ausland lebe. Aber verstehst du, wieso das in meinen Augen doch etwas kurz gegriffen ist? Oder anders gesagt: ich hätte all die Steuern und Abgaben ohne mit der Wimper zu zucken gezahlt. In den USA hätte ich zum Beispiel mit extremst wenig Steuern ganz hervorragend leben können, und es wäre dennoch komplett unattraktiv für mich geblieben. Ebenso hätte mich das europäische Ausland nicht sonderlich interessiert. Hätte. Wenn man mir nicht selbst von den Parteien, von denen ich es noch am wenigsten erwartet hätte, eine ganz offensichtlich extrem katastrophale Perspektive für meine Zukunft, (und die meiner Generation gleich mit) in Aussicht gestellt hätte.
Deswegen finde ich in meinem Fall den Vorwurf "Letztlich ging es dir nur ums Geld" zwar rein technisch gesehen tatsächlich zutreffend, aber halt doch irgendwie komplett irreführend. (Wenn man es ganz technisch sieht, könnte man den Teilnehmern der französischen Revolution den Vorwurf auch machen: die waren doch nur unerträglich neidisch, dass Adel und Klerus weniger Steuern zahlen mussten!)
Das Posting wurde vom Benutzer editiert (19.08.2014 16:19).