Ansicht umschalten
Avatar von abab
  • abab

742 Beiträge seit 15.07.2016

Russland ist nicht auf Putin zu reduzieren

Das Verhältnis des Westens zu Russland hat eine jahrhundertealte Geschichte. In Russland selber ergab sich im 19. Jh. das folgenreiche geistige Spannungsverhältnis zwischen den sogenannten Slawophilen und Westlern, welches sich auch gegenseitig durchdrang, beeinflusste und gar befruchtete. Diese Auseinandersetzung wiederum reicht grundsätzlich weit zurück in das Christentum und seinen Strömungen - der Westen, mit seinem aristotelisch-rationalistischen Theologen und zum autoritären Gottesgnadentum neigend, welchem der Mensch ein dienender, zu Gehorsam verpflichtender, quasi Untertan war, und die griechisch-platonisch-gnostisch inspirierte Kirche des Ostens mit ihrer Behauptung des Gottmenschen Jesus Christus, zu welchem der Mensch ebenbildlich nacheifernd bestimmt ist. In Russland war von daher ein starker anthropologischer Nährboden vorhanden, der in der russischen Idee kulminierte:
"Vorbereiter dieser Anthropologie wären dann jene Träger der russischen Idee, an denen sich die durch den christlichen Anstoß ausgelöste oder bewegte Dialektik markiert wie: Bakunin und Bjelinskij, Tschaadajew und Herzen, Chomjakow und Fjodorow, Dostojewskij und Tolstoj, Mereschkowskij und Rosanow, neben denen Berdjajew eine Reihe im Westen kaum oder gar nicht bekannter russischer christlicher Denker vorstellt wie Nesmelow, Bucharew, Tarejew. Die russische Idee rechtfertigt sich offenbar allein als christliche Idee, das heißt: soweit sie sich als jene „christliche Berufung des russischen Volkes“ zum Dienen an der Welt versteht, die durch den Kommunismus „entstellt“ worden ist." (Wolfgang Dietrich: NIKOLAI BERDJAJEW, Sein Denken im Prozess, Leben, Werke, Diskurs mit Partnern des Denkens, 2002 © LlT VERLAG Münster - Hamburg - London)
Die russische Idee beinhaltet einen anti zivilisatorischen Zug, der sich vor allem aus einem starken Empfinden für die Dekadenz und der damit einhergehenden Verweltlichung des Westens speiste, dem das geistige Herz abhandengekommen ist und welcher sich im Niedergang befindet. Für den Westen ist von daher schon dieses dunkle Russland eine schwere Kost. Der Westen, der für sich die aufgeklärte und glaubensfreie, der Wissenschaft und ihrem hehren Rationalismus unterstellte reine Vernunft und deren Königsstellung in Anspruch nimmt, ist diese eine sichtbare Welt genug und die einzig wahre, in welcher ausschließlich sich das Glück organisieren lässt in Verbindung mit einem Erlösungsglauben an einen heilbringenden technischen Fortschritt (technische Eschatologie). Schon aus dieser Konstellation heraus ergibt sich ein uralter und bis heute ungelöster Konflikt, der im weitesten und tiefsten Sinne ein Kampf um Leben und Tod darstellt.

Das Posting wurde vom Benutzer editiert (24.02.2024 18:47).

Bewerten
- +
Ansicht umschalten