"Buck Fush" am Times Square
Midtown, Sonntag, 6 pm
"Erstmal" hatte ich am Nachmittag geschrieben, die ausgelassene Stimmung, das gute Wetter und die relative Zurückhaltung des Polizeiapparats während der Demo in der Erinnerung. Doch nach meiner Rückkehr an den PC in der 39ste Strasse kamen wieder die Zweifel auf, die mich schon seit Tagen umtreiben. Von "Konfrontationen" von Demonstranten mit Republikaner-Delegierten und scharfen Polizeieinsätzen lese ich gegen 5.30pm auf der New Yorker Anarcho-"Indymedia"-Webseite. Das Ganze soll sich am "Times Square", 10 Minuten zu Fuss von hier entfernt, abspielen.
Nun sind 10 Minuten Distanz zwischen Punkt A und Punkt B in den Hochhäuserschluchten von Midtown oft Entfernungen zwischen Welten. Was sich einen Häuserblock 50 Meter weiter weg auf der Strasse abspielt, ist selten zu hören oder zu sehen. Und wer in den oberen Etagen lebt oder arbeitet, bekommt den Strassenlärm so oder so nicht mit, und wer, wie "39th street", in der dritten Etage eines Hochhauses beherbergt ist, nimmt das Brummen der Klimaanlage wahr, nicht aber das Heulen von Polizeisirenen, geschweige den einen "riot". Es gab vor zwei Jahren eine seltene Ausnahme, als das Knallen von Schüssen nach oben drang. Unten hatte, wie sich später herausstellte, ein eifersüchtiger Pistolero seine Liebste und ihren Lover mit mehreren Salven niedergestreckt.
Ich öffne ein Fenster - alles normal. Also auf zum "Times Square", den ich nicht nur wegen seiner Touristenströme möglichst vermeide. Er ist wahrscheinlich auch der am meisten durchkommerzialisierte städtische Raum weltweit, für mich das Sinnbild des urbanen Wahns: 50 Meter oder noch höher aufragende Leuchtreklamen, Hunderte an der Zahl, ein Wirrwarr an Strassen, Autos und Fussgängern, die sich von den Bürgersteigen rempeln, und dabei alles so "clean", dass für Spontaneität kein Platz mehr übrig bleibt, dazu ein ohrenbetäubender Lärm, der wegen der Präsenz der Hochhäuser nicht geschluckt wird, sowie im Sommer die dampfende Hitze. Was für die schwitzenden New-York-Besucher wie damals vor fast 10 Jahren für mich auch wiederum ein Faszinosum ist, das man erlebt haben muss. Noch heute bekomme ich nach einem Aufenthalt am "Times Square" Kopfschmerzen. Die Sinnesüberflutung ist überwältigend. Auf dem Weg dorthin fällt mir plötzlich ein, dass viele Republikaner-Delegierte und -Lobbyisten, die inzwischen aus den ganzen USA eingereist sind, in der Nacht vor der "Convention" ihr "Times Square"- und "Broadway"-Erlebnis haben wollen.
42ste Strasse: nur ein einiger Mensch, der sich als Republikaner outet, begegnet mir: ein Mitdreissiger in T-Shirt mit dem Aufdruck "These colours don´t run" auf den amerikanischen Nationalfarben, darüber "Forever Bush". Niemand beachtet ihn. Ich passiere eine Phalanx von aufgemotzten Polizei-Mopeds, und um die Ecke, am Broadway, finden sich erste Anzeichen von Konfrontation. Ein paar Hundert Bush-Gegner haben sich unter die Passanten gemischt. "Buck Fush", "f" und "b" ausgetauscht, wird gerufen, jemand hält ein Plakat hoch mit der eindeutigen Aufforderung "Republicans, go fuck yourselfs", Männer und Frauen weisen aufgeregt in Richtung Norden, wo sich blaugekleidete Cops auf Fahrrädern, andere zu Fuss mit Kampfhelmen, und wieder andere mit Plastikhandschellen über die Strassen auf sie zubewegen. Es wird "hot": die Immigranten, die hier sonst irgendwelchen Ramsch am Strassenstand verkaufen, packen ihre Ware schlagartig in Kisten und tragen sie weg. Auch ich verziehe mich schleunigst. Denn der New Yorker Presseausweis schützt nicht unbedingt vor einer Festnahme. Und als Nicht-Amerikaner von den Cops eingesackt und abgeschoben zu werden, will ich nicht riskieren.
Ein letzter Blick auf den Bildschirm zurück im Büro: über 50 Bush-Gegner sind allein am "Times Square" festgenommen worden, insgesamt beträgt die Zahl mehr als 300. Die New Yorker Behörden werden in den kommenden Tagen offenbar zur rabiaten "Zero Tolerance"-Politik übergehen. Wie hatte es vor Kurzem von einem Polizeisprecher geheissen - man sei auf 1000 Festnahmen täglich eingestellt. Die Provokation, die die Republikaner mit ihrer "Convention" in New York bewusst in Kauf nehmen, scheint ihnen nach Lage der Dinge von heute Abend zu gelingen.