Cyberpunk – oder nicht?
Die Ergebnisse unseres Wettbewerbs zu "Deus Ex – Human Revolution"
Im Vorfeld unserer "Deus Ex – Human Revolution"-Rezension entstand eine Auseinandersetzung zwischen der Redaktion und dem Autor, der das Spiel nach ausgiebigem Test als Beitrag zum Genre "Cyberpunk" interpretierte, was wiederum dem zuständigen Redakteur grundfalsch vorkam. Da auch längere Diskussionen zu keiner Einigung führen konnten, wurde einvernehmlic h beschlossen, eine geradezu salomonische Lösung anzustreben: Die Leserschaft sollte, motiviert von vier begehrenswerten, von Square Enix, Sennheiser und Radeon ausgelobten Sachpreisen, über die Einordnung des Spiels befinden.
Die Beteiligung war nicht nur überraschend groß – bei den meisten Beiträgen handelte es sich zudem um sauber durchrecherchierte Essays von nicht unbeträchtlicher Länge. Selbstverständlich wurden diese Arbeiten einer gründlichen Prüfung unterzogen, bevor die vier Gewinner ausgelobt wurden.
Das Ergebnis war sehr deutlich: Die überwältigende Mehrheit der Teilnehmer schätzt "DE – HR" als Cyberpunk. Die wenigen Andersgläubigen wiesen in erster Linie darauf hin, dass Körpermodifikation durch Nanotechnologie kein Cyberpunk-Thema sei. Ein Einwand, den ein Teilnehmer mit Verweis auf einen Genre-Klassiker entkräften konnte: "Auch in der filmischen Umsetzung … einer anderen William Gibson-Geschichte, Johnny Mnemomic, wird diese Thema erneut aufgegriffen. Der Hauptdarsteller lässt sich hierbei sein Gehirn augmentieren, damit dieses digitale Informationen in ungenutzten Gehirnarealen speichern kann. Ein weiterer Protagonist des Films hat auch entsprechende künstlich verstärkte Gliedmaßen, die die Reflexe und Kraft steigern."
Das Fehlen eines offensichtlich der Punkszene zuzurechnenden, im Rahmen einer Untergrundbewegung agierenden Protragonisten wurde ebenfalls von den Gegnern der Genre-Zuordnung ins Feld geführt. Aber: "Da der Spieler Adam Jensen steuert, kann er nach kurzer Zeit so anarchisch werden, wie er will. Und genau das zu tun, was man will, ohne Einschränkungen im Denken, ist wohl viel eher das Wesen des Punks, als Armut, Drogen oder Irokesenuniform. Also hat es der Spieler in der Hand, wem Adam Jensen dienen wird, ob er sich Regeln beugt, die Hive-Disco mit Gasgranaten ausrottet, Wachleute immer am Leben lässt, mit jedem oder keinem spricht, grundsätzlich nichts oder alles kauft, usw … Und gerade weil das so schrecklich regellos ist, ist das vor allem Punk."
Viele Befürworter bezogen sich in ihrer Zuordnung vor allem auf gesellschaftliche Entwicklungen der Zukunft, " in der die Gegenwart in Form eines ungezügelten Kapitalismus, plutokratischer Konzerne und wuchernder Megacities die klassischen Elemente des Cyberpunk aufgegriffen werden und die Menschheit vor einem neuen Umbruch präsentieren. Die Umwelt und Technik ist vollends sozial, das Soziale vollends technisch, gleichzeitig droht beständig der Untergang, denn die neue Welt ist fragil, Werte garantieren für nichts, soziale Beziehungen sind instrumentell und temporär und die soziale Ordnung ist stets vom Umkippen und Zerbrechen bedroht."
Auch auf ästhetische Zusammenhänge wurde verwiesen: "Das Szenario selbst spricht schon durch seine Schauplätze Bände. Detroit steht für den Niedergang des industriellen Amerikas wie keine zweite Stadt, Hauptsitz der Biotech-Firma "Sarif Industries", Montreal als Paradigma für die moderne, multikulturelle Weltstadt westlicher Prägung, Shanghai als Zentrum der Entwicklung chinesischer Prägung. Gepaart mit dem Renaissancestil der Städte als Analogie für den Menschen als Unikum, als schöpferisches Individuum. Die düstere Atmosphäre einer moralisch, kulturell und ökonomisch gespaltenen Gesellschaft, die mediale Macht und deren Missbrauch bis zur Schmerzgrenze offenbart."
Letzten Endes: "‘Deus Ex‘ … stellt die Frage wie sich unsere sozialen Beziehungen verändern, wenn wir beständig vermittelt über Artefakte interagieren - wie werden wir mit dieser Komplexität umgehen? Atomkatastrophen und Klimawandel verändern Natur, der Mensch sich selbst. Somit ist Deus Ex Cyberpunk - in der nächsten Fassung. Eines ist weiterhin gleich: 'Der Himmel über dem Hafen hatte die Farbe eines Fernsehers, der auf einen toten Kanal eingestellt ist.'"
Die Redaktion bedankt sich für die rege Beteiligung. Nicht jeder der hier zitierten Beiträge konnte mit einem Preis vergütet werden, die vier Gewinner wurden bereits per Mail benachrichtigt.