Das Netz als Dialog: Vergangenheit und Zukunft

Wo sind die Gespräche im Web?

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Als man TCP/IP zusammenschusterte, hatte man durchaus den Begriff des Dialogs im Blick. allerdings weniger den zwischen Menschen als den zwischen Maschinen über Protokolle oder immerhin noch den Dialog zwischen dem Tipper an der Telnet-Kommandozeile und dem entfernten Host.

Bald schon aber entwickelten sich Mailinglisten das Usenet und IRC, der Internet Relay Chat, in Co-Evolution zur Netikette, die ein seltsames Konglomerat aus technischen Empfehlungen und sozialen Verhaltensvorschlägen darstellt.

Mit dem Entstehen des Webs schien zunächst die Metapher des Netzes als riesige Bibliothek gestärkt: Es wurde statische Dokumente abgelegt, ein Dialog fand zunächst nicht statt.

Das änderte sich mit dem Auftauchen der ersten Webapplikationen: Gästebüchern, Foren, Web-Mail und allerlei anderen Web-Schnittstellen zu Diensten, die sich sonst außerhalb von "http" getummelt hatten. irgendwann gab es sogar IRC-Schnittstellen auf Webseiten.

Die Mitte der 90er Jahre markierten dann den Beginn dessen, was man heute das "Living Web", "Social Web" oder relativ unpräzise "Web 2.0" nennt: Einfach bedienbare Programme, bei denen man weder HTML-Kenntnisse brauchte noch verstehen musste, wozu FTP gut war oder welchen tiefern Sinn der Befehl CHMOD hat.

Das erste WikiWikiWeb, das erste manuell geführte Webtagebuch von Justin Hall und das damals wie heute gleich spartanisch anmutende Robot Wisdom Weblog von Jorn Barger, das den Begriff prägte, sie alle kamen zwischen 1994 und 1997 auf.

Während die ersten Weblogs entweder selbstprogrammierte Skripte waren oder sich schon damals auf Diensten wie Xanga, Open Diary oder Blogger.com abspielten, gab es auch erste "fertige" Blogsoftware zum Selbstinstallieren wie Greymatter. Von RSS als effizienter Möglichkeit, Blogs in Massen im Überblick zu behalten, war damals noch nicht die Rede. Es dauerte eine ganze Weile, bis Blogsoftware standardmäßig auch RSS-Output produzierte.

Fast könnte man meinen Blogs und Google hätten sich in einer Art Ko-Evolution im Cyberspace ausgebreitet, jedenfalls stammte immer mehr des Blogtraffics von Google und eine lang-andauernde Haßliebe entwickelte sich.

Während das Platzen der ersten Blase den Blogs kaum geschadet hatte und eher im Gegenteil eine ganze Reihe von Leuten in die Blogosphäre fast buchstäblich "entließ", tat die politische Situation in den USA ihr übriges: Blogs wurden zum Kanal für politischen Dissens und Verlage wie Parteien entdeckten sie als Kanäle.

Blogs sind nämlich gar keine "Publikationen", sondern "Gespräche" - und Gesprächsbedarf gab es auf allen Seiten.

Auf die Ökologie der Blogosphäre setzen in der Folge einige Dienste auf: der Google Reader, das noch ältere Bloglines, Google kaufte Blogger, Podcasting kam auf und Yahoo kaufte MyBlogLog. Die Suchmaschinen boten längst Spezialsuchen für Blogs an und heizten die Gerüchteküche an, man wolle die Blogosphäre aus den Hauptsuchmaschinen entfernen.

Während sich die Pink-Slip-Parties des Dotcom-Crashs in Barcamps transformierten schritt die Vernetzung unter den neuen Diensten an: Widgets, die dynamischen einbinden von RSS-Feeds an beliebiger Stelle auf Webpages erlaubten kamen auf, Chatboxen tauchten in Blog-Sidebars auf und RSS-Aggregatoren wie Jaiku entstanden. Von Web-Video schweigen wir hier mal, aber dass längst Videos auf Videos antworten, ist nichts Neues.

Denn der durchschnittliche Blogger erzeugte lägst mehr als einen Feed: einen von Blog, einen bei Flickr, einen bei delicious , einen bei Upcoming und noch ein paar andere an anderer Stelle. Die galt es nun wieder zusammenzuführen und - wenn irgend möglich - ins Blog zu integrieren.

Der neuste dieser Dienste ist Friendfeed, bei dem sich in nur wenigen Minuten nahezu alle RSS-Ströme eines einzelnen bündeln lassen und der - drohendes Gewölk am Horizont - gar den Kommentare auf seiner Plattform Raum gibt, anstatt zum Kommetieren zu den Blogs oder Kommentarboxen von Flickr zurückzuverweisen.

Während die einen schon das Ende der Blogs - und damit auch das ende der persönlichen Webseite und des 'personal publishing' sehen, bauen andere ihr Blog gleich als Mashup aus den Datenströmen, die sie anderswo erzeugen, und die Dritten bauen Netzwerke wie Facebook oder Friendfeed einfach gleich so verteilt auf, wie es das Usenet war, und jeder hostet - so wie er vorher das eigene Blog gehostet hat - nun auch seinen "Social Graph" (Stichwort dazu wäre: noserub und sein eigenes Twitter in Form von //laconi.ca.

Das alles sind Dienste, die einem Menschen, der nicht RSS atmet, so sinnlos erscheinen müssen, wie einem Finanzbeamten 1990 eine E-Mail.

Was wird?

Das Netz - und das ist größer als das Web - hat sich immer schon in Wellenbewegungen entwickelt. Mal gab es Zentralen, mal wurde wieder kräftig dezentralisiert. Die MUDs gibt es genau so noch, wie das IRC und das Usenet. In den Foren brummt das Leben, auch wenn die Firmen lieber podcasten. Die Wasserköpfe der Social Networks werden vielleicht in Millionen individuell gehosteter PGP-geschützer Kontaktsammlungen zersplittern. Technisch avanciertere Blogs werden vielleicht in Zukunft wieder mehr "Logs", also Logbücher, und weniger bauchnabelige Schwadronierstrecken sein - denn auch weiterhin dürften 99% der Blogs den kontemporären Teenagern zum Auskotzen nach dem Unterricht dienen. Lediglich 1% macht ads aus, was als "Phänomen Blog" auch von den Medien wahrgenommen wird: Blogs mit mehr als fünf Lesern.

Das Web für sich und das Netz im Ganzen sind eventuell etwas weiter vom Bibliotheks-Paradigma abgedriftet, aber sie treiben immer weiter in die Richtung eines globalen Gesprächs.

Und das gilt es zu führen.

Dringend.