Gawker erfindet das Web 3.0

Das Flaggschiff der US-Boulevardblogs und seine Zeitgeist-Flotille behauptet, ab dem ersten Januar ein Schmetterling zu sein, und alle anderen wären Raupen

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Revolution der Blogosphäre: Einer der Kristallisationskerne des Web 2.0 will auf einmal alles anders machen. Das Blog ist tot, Web ist das neue TV und der Nutzer weiss schon wieder nicht, was das soll. Na, gut, dann erklären wir das mal.

Ein zentrales Problem der von uns bewohnten, früh-informationellen Ära: Niemand weiss, wie Publishing wirklich geht. Das wäre nun theoretisch kein Problem, man könnte das ja einfach so laufen lassen, allerdings war im letzten Jahrhundert, in der auslaufenden Industriezeit das Geschäft mit Massenmedien eine echte Goldgrube, mit traumhaften Gewinnmargen plus Gratis-Glamour und stellaren Wachstumsprognosen durch neue und neueste Medien. Der Dot-Com-Crash der beginnenden Nuller hatte uns zu denken geben müssen. Allerdings verbraucht das Herumbummeln auf der Meta-Ebene ("Denken") wertvolle Arbeitszeit, die man lieber auf Quartalsergebnisse konzentrierte – mit den bekannten Folgen.

Das Web als Veröffentlichungsplattform erholte sich nach dem Zusammenbrechen der tödlichen Heissluftspirale der Neunziger relativ schnell, liess sich als Web 2.0 feiern und nutzte die im Vergleich zum nackten HTML der ersten Phase bereits ausgereiftere Programmierkunst für ein tatsächlich mal neuartiges Veröffentlichungsformat: Weblogs.

Im Ernst, es mag ja stimmen, dass Content King ist und, was manche bereits verdrängen, die Queen Community heisst; aber beide üben keine Macht jenseits ihre Thronsaals mehr aus, wenn die GUI nicht stimmt. Das Interface. Die Benutzeroberfläche. Also etwas, das nicht nur Computerspiele richtig machen müssen, sondern alle technischen Anwendungssituationen, ob das nun eine Schlagbohrmaschine ist, ein Kleinwagen, die Tageszeitung oder das nächste Smartphone-Betriebssystem.

Weblogs schafften es, die GUI-Metapher der Tageszeitung endgültig ins Museum der Medien-Geschichte zu verschieben und den Inhalt wie auch die Reaktionen der Benutzer ganz an den Gebrauch mit Maus und Tastatur anzupassen. Unter den Pionieren der Weblog-Oberfläche: Das Nick-Denton'sche Innovationsimperium aus Gawker, Lifehacker, Kotaku, Jezebel, Jalopnik, Gizmodo, io9 und andere, zielgruppenfokussierten und kommerziell erfolgreichen Weblogs. Was die Blogosphäre, und überhaupt die Medienindustrie heute ganz selbverständlich nutzt, ist dort und in den anderen 2.0-Epizentren wie dem Doctorow-Jardin-Frauenfelder-Komplex Boing Boing oder den inzwischen vom untoten AOL-Konzern aufgesaugten Weblogs Inc. (Engadget, Joystiq, Download Squad et al.) entwickelt worden.

Sowohl der Umgang mit dem Inhalt als auch die Aufzucht und Pflege von Trollen (Kommentarmoderation) und das Verteilen werbeumsatzträchtigen Contents auf der endlichen Bildschirmoberfläche befanden sich hier auf Dauerprüfständen. Deren Ergebnisse nicht immer in klare, nebensatzfreie Formulierungen zu fassen waren.

Jetzt will sich die Gawker-Blog-Wolke zu einer neuen Generation weiterklonen und stellt die Benutzeroberfläche der Zwotausend-Zehner zur Diskussion, die auf den erwähnten Seiten mit Beginn des kommenden Jahres eingeführt werden soll. Denton und seine Web-Ingenieure machten nämlich ein zentrales Problem der Blogs aus und hoffen es mit dem aktualisierten Layout zu beseitigen: Die Beliebigkeit der Inhalte.

Rein theoretisch nämlich haben in einem (inzwischen auch schon klassischen) Blog-Layout alle Artikel denselben Stellenwert. Flüchtige, hastig dahingetwitterte Meldungen, die ihres nahen, unausweichlichen Dementis harren, ebenso wie grosse Enthüllungsstories, die eine kaum bezahlbare Manpower verschlangen, um grossen Gegenwartsthemen auf die Zahnwurzel zu fühlen. Und tatsächlich, solche massiven Unterschiede lassen sich weder durch verschiedenfarbige Buttons markieren, noch durch fettere Überschriften und grössere Aufmacherbilder wie im heute bereits nostalgie-umflorten goldenen Zeitalter der Tageszeitung. Radikale Lösungen müssen her, und die Denton-Werke entwickeln folgerichtig einen potentiellen Publishing-Raketenmotor, der auf Bewährtes beider elektronischer Welten zurückgreift: Web und TV.

Im Layout für das neue Jahrzehnt hofft Gawker also der Stickyness-Falle zu entrinnen und die Leser durch überlebensgrosse Stories zu beeindrucken, damit sie werbeumsatzwirksam auf möglichst viele Folgeartikelheadlines in der neuen, rechten Überschriftenspalte klicken. Die grossen Geschichten sind es, das gilt nicht erst seit der Pixel-Ära, die neue Leser anlocken. Bricht Denton damit mit der jungen Blogtradition, trägt er das zentrale Medium des digitalen Aufbruchs zu Grabe? Revolutioniert Gawker 2011 das Webpublishing und verschmilzt es den grossen Journalismus des Papierzeitalters mit der massiven Medienmacht des Fernsehens und der Atemlosigkeit des schnellen Web? Shafft das ein "role model" für eine künftige Generation des Online-Veröffentlichens? Ist das Web 3.0 da?

Die Antwort ist hier immer: Nein. Sorry. Aber Denton und seine Gawker-Gang tun hier gar nichts Revolutionäres, beenden nichts und beginnen nichts wirklich Neues. Statt dessen leisten sie etwas anders, sehr Wertvolles: Sie reden laut und deutlich über ihre inkrementellen Verbesserungen der Medientechnik (a.k.a. "marketing"), statt etwa ewiggestriges Selbstmitleid in eherne Leistungschutzrechtsgesetze giessen zu wollen, wie wir das derzeit hierzulande erleben. Das heisst: Wir wissen auch nach dem Gawker-Beta-Launch immer noch nicht eindeutig "wie Publishing heute geht". Aber wir können sehen, dass es sich lohnt, hart an kleinen Verbesserungen zu arbeiten. Dafür dann vielen Dank nach New York.

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