General mit 0.6 Promille
Polens Unmut über den russischen Abschlussbericht zum Flugzeugunglück von Smolensk
"Mgla – Nebel." So lautet der Titel des ersten polnischen Films über das Flugzeugunglück von Smolensk, der am 3. Januar vor fast 500 Zuschauern, darunter dem Ex-Premier Jaroslaw Kaczynski, in Warschau seine Premiere feierte.
Zu den Klängen des patriotischen Rocksongs Heiliger Gott, einem Meisterwerk propagandistischer Popkultur, in dem der Sänger der in Polen bekannten Band De Press, Andrzej Dziubek, um Beistand für die polnische Nation betet, erzählen die engsten Mitarbeiter des tödlich verunglückten Staatspräsidenten Lech Kaczynski die Geschehnisse von Smolensk aus ihrer Sicht. Die Botschaft der ehemaligen Mitarbeiter der Präsidialkanzlei und der Macher des Films ist simpel: Lech Kaczynski, seine Ehefrau Maria sowie die 94 anderen Menschen mussten sterben, weil der Präsident dem Kreml und der aktuellen polnischen Regierung von Donald Tusk ein Dorn im Auge war.
Die These des Films, der zwei Tage nach seiner Uraufführung als DVD der nationalkonservativen Wochenzeitung Gazeta Polska beigelegt war, die den Film auch produzierte, ist nicht neu. Nachdem die Nationalkonservativen mit der Beisetzung der Kaczynskis auf dem Krakauer Wawel den verstorbenen Präsidenten mit Nationalhelden wie Jozef Pilsudski, Wladyslaw Sikorski oder Adam Mickiewicz gleichzusetzen versuchten, wurde in den letzten Monaten immer mehr an der These gesponnen, dass das Flugzeugunglück von Smolensk das Ergebnis eines Anschlags ist, hinter dem Russland und die jetzige polnische Regierung stecken.
Zuletzt fragte sich Jaroslaw Kaczynski sogar öffentlich, ob in der Krypta tatsächlich der Leichnam seines Zwillingsbruders bestattet sei und heizte so das politisch angespannte Klima noch mehr an. Als der russische Staatspräsident Dimitrij Medwedew am 6. Dezember in Polen einen offiziellen Staatsbesuch absolvierte, demonstrierten vor dem Warschauer Präsidentenpalast die Anhänger der Kaczynskis und forderten auf ihren Spruchbändern die "Wahrheit" über das Unglück von Smolensk.
Dieselben Spruchbänder konnte man am Mittwoch nun erneut vor der Residenz des polnischen Staatsoberhaupts lesen. An diesem Tag stellte die Internationale Luftfahrtkommission (MAK) ihren 20.000 Seiten umfassenden Abschlussbericht zu dem Unglück von Smolensk vor, der mit den Behauptungen der polnischen Nationalkonservativen nichts gemein hat. Demnach stürzte die Präsidentenmaschine ab, weil der Flug schlecht vorbereitet war und weil die Piloten unter enormen Druck standen. Als die Piloten den Protokollchef Kaczynskis darauf aufmerksam machten, dass der Nebel eine Landung in Smolensk unmöglich mache, forderte dieser sie auf, die "letzten Reserven zu mobilisieren", damit die Delegation pünktlich zu den Gedenkfeierlichkeiten in Katyn ankommt. Nachdem noch Luftwaffenchef General Blasik, der 0.6 Promille in seinem Blut gehabt haben soll, ins Cockpit kam, wuchs noch mehr der Druck auf die Piloten. In Verbindung mit den schlechten Wetterverhältnissen eine tödliche Kombination.
Dementsprechend harsch fiel die Reaktion der polnischen Nationalkonservativen auf den russischen Abschlussbericht aus. Der Zwillingsbruder des toten Präsidenten, Jaroslaw Kaczynski, bezeichnte den Abschlussbericht als eine Verhöhnung Polens. Seine Partei, die nationalkonservative Recht und Gerechtigkeit (PiS), wollte für diese Woche gar noch eine Sondersitzung des Parlaments einberufen, da einem polnischen General "medial hinterrücks in den Kopf geschossen wurde". Und mit dem Promillewert in General Blasiks Blut tun sich die polnischen Nationalkonservativen am meisten schwer. "Sie stellen uns der Welt als ein unorganisiertes, chaotisches und versoffenes Volk vor. Irgendjemand erlaubt es, irgendjemand will es", sagte Tadeusz Rydzyk in seinem Radio Maryja und sprach den Nationalkonservativen aus dem Herzen.
Doch nicht nur Polens Nationalkonservative üben Kritik an dem russischen Abschlussbericht. "Dass betont wird, General Blasik hätte O.6 Promille gehabt, ist ein reines politisches Spielchen, um die Polen der Weltöffentlichkeit als diejenigen darzustellen, die nur wegen ihrer betrunkener Befehlshaber solche Katastrophen herbeiführen", sagte Verteidigungsminister Bogdan Klich am Freitag in einem Radiointerview. Und Bedenken hat auch Premierminister Donald Tusk, der am Mittwoch wegen dem Abschlussbericht des MAK seinen Dolomitenurlaub abbrach. Wie schon vor einem Monat, als Tusk den Zwischenbericht des MAK zurückwies, bezeichnete er den Abschlussbericht während einer Pressekonferenz am Donnerstag als "nicht vollständig", da dieser nicht auf den Zustand des Smolensker Flughafens und das Verhalten der Fluglotsen eingeht. Zudem bemängelte der Regierungschef, dass polnischen Ermittlern der Zugang zu Dokumenten, die den Flughafen und die Lotsen betreffen, von der russischen Seite verweigert wurde.
Aus diesem Grund erklärte Tusk, mit der russischen Seite Gespräche führen zu wollen, um eine gemeinsame Wahrheit zu finden: "Wir lassen es nicht zu, dass der Bericht fälschlicherweise einseitig ist. Das Ziel Polens ist kein Kompromiss, sondern eine maximale Aufklärung der Geschehnisse." Sollte Russland den Abschlussbericht jedoch weiterhin als endgültig ansehen, kündigte der polnische Regierungschef internationale Schritte an, die laut der Artikel 84 und 85 des Chicagoer Abkommens möglich sind. Zudem sprach Tusk von einem eigenen, polnischen Abschlussbericht, der demnächst veröffentlich werden soll und der noch tiefer auf die Fehler der polnischen Seite eingehen wird als der des MAK.
Doch bis zu diesem Bericht werden sich Warschau und Moskau weiterhin um den Bericht des MAK streiten. Und da beide Seiten, die sich erst in den letzten Monaten angenähert haben, eine Verschlechterung des polnisch-russischen Verhältnisses fürchten, scheint eine weitere Fassung des MAK-Abschlussberichts nicht ausgeschlossen zu sein. "Wir verstehen die Gefühle der polnischen Seite. Wir werden eine Verschlechterung unserer Beziehungen zu Polen nicht zulassen, die sich gerade jetzt normalisieren", erklärte jedenfalls der russische Außenminister Sergej Lawrow am Donnerstag.