Nervosität, Wunderwaffen, Behördenzwist
Midtown Manhattan, Donnerstag, 8 pm, zwei Stunden vor der Bush-Rede
Zum unterirdischen Bahnhof "Penn Station", über dem der "Madison Square Garden" gelegen ist, kommt an diesem Abend nur durch, wer eine Eisenbahnfahrkarte vorzeigen kann. Der Andrang von Passagieren ist minimal, auf einen einzigen Passanten dürften an diesem Sicherheits-Nadelör heute 20 Beamte von Polizei, Geheimdiensten und "Secret Service" kommen. Hier und dort huscht ein Republikaner-Delegierter vorbei, deutlich erkennbar an einem "Bush-Cheney"-Sticker am Revers und einem Convention-Ausweis, der vor der Brust baumelt. Ein sichtlich erschöpfter und trotzdem um Freundlichkeit bemühter Angestellter der "New Jersey-Transit"-Behörde empfiehlt, so schnell wie möglich den nächsten Zug aus der Stadt zu nehmen oder den Bahnhof zu verlassen. "Es ist verrückt", sagt er, "selbst wir werden hier mehrmals am Tag durchsucht". Selbst eine der wenigen Bahnhofstoiletten zählt zum Hochsicherheitsbereich. Wer pinkeln geht, wird von zwei streng dreinblickenden, übergewichtigen Anzugträgern mit Knopf im Ohr und ausgebeulten Taschen dabei beäugt. Stehenbleiben und Innehalten in der Bahnhofshalle erweckt Misstrauen. "Move on, Sir", bellen drei Beamten gleichzeitig aus verschiedenen Ecken. Selbst der Presseausweis bietet keine Schutz vor Belästigung: Taschendurchsuchung, und: "Schönen Tag noch. Und jetzt verzieh dich".
Sechs Häuserblocks von "Madison Square Garden" entfernt haben sich auf der 8th Avenue mehrere Tausend Demonstranten versammelt. Die Kundgebung ist von der "Workers World Party" angemeldet - Palästinenser, Haitianer, Latinos und europäischstämmige Weisse sind über zwei Strassenzüge zwischen mobile Metallzäune und mehrere Phalanxen der New Yorker Polizei gepfercht. Redner der Partei lesen über eine weit hörbare Lautsprecher-Anlage die Beschwerdeliste über die Bush-Regierung ab - vom "Patriot Act" über die mangelnde Gesundheitsversorgung bis zum Völkerrechtsbruch im Irak. "Four more months" (noch vier Monate) skandieren Tausende als Gegenstück zum Republikaner-Spruch "Four more years", mit dem sich die Republikaner seit Montag aufputschen. Die Polizei hat um die Demonstration einen Häuserblock entfernt einen zweiten Sicherheitscordon gezogen und lässt niemanden mehr hinein. Je näher die Bush-Rede rückt, desto nervöser werden die Beamten. Eine Frau sagt, sie habe über Handy die Nachricht erhalten, dass sich Hunderte von schwerbewaffneten Polizisten in Richtung Demonstration bewegen.
Eine halbe Stunde Fussmarsch vom "Madison Square Garden" entfernt hält das Bündnis "United for Peace and Justice", das am vergangenen Sonntag mit einer halben Million Demonstranten gegen Bush Schlagzeilen gemacht hatte, eine eigene Versammlung ab. Auch hier am "Union Square" haben sich kurz vor der Bush-Rede zehntausend Menschen versammelt. Die Stimmung ist ausgelassener, die Plakate und Verkleidungen sind bunter als bei der "Workers World Party". Daran könne auch die über Manhattan kreisenden Hubschrauber nichts ändern. Auffallend viele Veteranen aus dem 2. Weltkrieg, dem Vietnamkrieg und sogar einige Irakkriegssoldaten haben sich unter die Menge gemischt. "Peace", "Stop Bush", "No" und eine durchgestrichenes "W" - die Mittelinitiale George W. Bushs - dominieren T-Shirts, Plakate und Aufkleber. Eine witzige Idee ist die von zwei afroamerikanischen Jugendlichen, die auf einem Silbertablett einen Haufen Hundekot herumtragen. In ihm steckt ein papierener Pfeil mit der Aufschrift "We found it: Bush´s Brain" (Wir haben es gefunden, Bushs Hirn). Auch am Rande des "Union Square" halten sich grosse Kontingente Polizei bereit: die wegen ihrer Brutalität in den letzten Tagen bekannt gewordenen Zivilcops auf wendigen Schnellmopeds, Beamte mit Mountainbikes, "riot police", die Helme bereits aufgezogen und Knüppel griffbereit. Auf mehreren Webseiten sind tagsüber Bilder einer angeblichen Wunderwaffe zur "crowd control" aufgetaucht, die in Bagdad getestet wird: ein nur 22 Kilogramm schweres Gerät, das mit 150 Dezibel auf eine Entfernung von 100 Metern einen sprichwörtlich ohrenbetäubenden und extrem schmerzhaften Lärm ausstossen und zum Gehörverlust führen kann. Laut einem Sprecher der "American Technology Corp.", die das Instrument entwickelt hat, wurde es ursprünglich als Warnsignal für amerikanische Kriegsschiffe gedacht. Demonstranten glauben, das System unweit des "Madison Square Garden" und am "Union Square" einsatzbereit gesehen zu haben.
"Indymedia", die Webseite der Autonomen, berichtet eine Stunde vor der Bush-Rede, an mehreren Stellen in der Nähe des "Madison Square Garden" würden sich rechte Schlägertrupps - möglicherweise Undercover-Cops - formieren. Das Gebot der Stunde lautet für die Bush-Gegner: sich auf keine Provokationen einlassen, der rechtslastigen Presse keinen Anlass liefern. Den Boulevard-Medien zufolge sind es "Anarchisten", die die Stadt seit Tagen im Atem halten. Nur noch diesen Abend möglichst frei von Übergriffen durch Provokateure und Polizei überstehen, heisst es, und dann ist New York den Republikaner-Spuk wieder los.
Und was ist eigentlich mit den fast 1800 Menschen, die in den vergangenen Tagen festgenommen worden sind ? Nur wenige sind freigekommen. Offenbar bleibt die grosse Mehrheit nach dem Willen der Stadt eingesperrt, bis Bush seine Rede beendet hat. Es stellt sich heraus, dass "Law" und "Order" heute gegeneinander arbeiten. Eigentlich hätten auf richterliche Anweisung mindestens 470 Menschen unverzüglich, das heisst innerhalb von 24 Stunden freigelassen oder aber einem Richter vorgeführt werden müssen. Inzwischen ist fast die doppelte Zeit verstrichen. Ein Richter befand am Nachmittag, dass die Stadt gegen seine Anordnung verstossen hat, und hat der Stadt pro Gefangenen, der widerrechtlich festgehalten wird, eine Strafe von 1000 Dollar aufgebrummt. Das wäre fast eine halbe Million Dollar - für die Stadtverwaltung offenbar kein Problem. Zudem ist nicht einmal die Zahl der Inhaftierten klar. Ganz klar haben die Behörden über viele Festgenommene keine Akten angelegt oder diese "verschwinden" lassen. Sie werden mit Sicherheit aber wieder höchst wundersam "gefunden" werden - wenn Bush die Stadt verlassen hat. Die Gerichte sind jedenfalls buchstäblich verstopft - was die Behörden von vorneherein in Betracht gezogen und in Kauf genommen haben. Denn vor der heissen Woche hatte es geheissen, man sei auf bis zu 1000 Festnahmen pro Tag eingestellt.