Ziviler Ungehorsam unter einem Zeppelin

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Midtown Manhattan, Mittwoch 11 pm

Versuch, die Ereignisse der letzten Tage, insbesondere den Dienstag, rückblickend in einen Kontext zu stellen. Richtig ist die Feststellung, dass die Behörden in den USA - Stichworte Homeland Security und Patriot Act - auf innenpolitischer Ebene die Schrauben anziehen. Aber falsch ist es zu behaupten, bei den rund 1000 Festnahmen am Dienstag, die die Gesamtzahl der in Plastikhandschellen abgeführten Bush-Gegner seit der Grossdemonstration vom Sonntag auf etwa 1500 erhöht haben, handele es sich um das "wahre Gesicht” des Staates, den Beweis für ein zunehmendes "Klima der Einschüchterung” oder neue Anzeichen für eine sich immer mehr militarisierende Gesellschaft.

Thema verfehlt, am Ziel vorbeigeschossen, würde ich sowohl meinen aufgeregten überseeischen Emailfreunden als auch den diversen Postings auf links-autonomen Websites wie "indymedia” entgegenhalten.

Denn erstens wollten und wollen am Dienstag Tausende von New Yorkern und Nicht-New-Yorkern festgenommen werden und damit an die politisch meist wirksame und moralisch höchst ehrenvolle Tradition des "zivilen Ungehorsams” anknüpfen. Ja, Tradition. Wer sich ein bisschen in die Geschichte der "civil disobedience” in den USA hineinliest, wird herausfinden, dass "illegale”, nicht angemeldete Märsche, Sitzblockaden etc… Bestandteil des kollektiven Gedächtnisses der amerikanischen Bevölkerung und ihres politischen Mainstreams sind. Die Geschichte der Bürgerrechtsbewegung ist Bestandteil des Lehrplans an jeder öffentlichen Schule und wird auch Immigranten beigebracht. Es gibt einen nationalen Feiertag namens "Martin Luther King Day”, und Bush wird sich hüten, ihn nicht hochoffiziell zu begehen. Ziviler Ungehorsam - von der afroamerikanischen Bürgerrechtsbewegung vor einem halben Jahrhundert zu einem amerikanischen Massenphänomen gemacht - gilt als "best American tradition”.

Viele Leute wollten am Dienstag also festgenommen werden. Den New Yorker Cops, den Undercover-Agenten, dem Secret Service - von letzterem befinden sich seit mehr als einem Jahr Hunderte von Mitgliedern aus Washington in New York - und weiteren klandestin operierenden Staatsdienern obliegt die Aufgabe, den reibungslosen Ablauf der Convention zu gewährleisten - was in dieser aufgeladenen Woche heisst, die Unversehrtheit der Republikaner-Delegierten, den "Madison Square Garden" und seine unmittelbare Umgebung zu schützen sowie, ganz banal, den Verkehrsfluss aufrechtzuerhalten. Potentielle "Störer" werden seit mindestens einer Woche rund um die Uhr beschattet und die "affinity groups" sind vermutlich vollends infiltriert.

Das Instrumentarium der Repression verfeinert sich gleichzeitig. Am Himmel von New York schwebt zur Zeit beispielsweise eine Zigarre mit der Aufschrift "Fuji". Wer genauer hinschaut, kann am Bauch des Zeppelins in Kleinschrift "NYPD" erkennen. Oder: Das "Department of Homeland Security" hat in ein Pilotprojekt gestartet. 200 Cops laufen mit winzigen Kameras herum, die auf ihre Helme montiert sind und die Daten live in die Zentrale einspeisen.

Erst im Verlauf des Dienstags wurde mir, der an den Treffen der Anarchisten und Autonomen nicht teilgenommen hat, klar, was die staatlichen Infiltrierer mit Sicherheit im Vorfeld bereits wussten: dass das Ziel am Tag des zivilen Ungehorsams darin bestand, nach unangemeldeten Protestkundgebungen und Umzügen in der Stadt am Abend möglichst nahe an den MSG heranzukommen und an den zu erwartenden Polizeiabsperrungen mit Sitzblockaden medienwirksam den Verkehr zu stoppen. Es funktionierte nicht. Die Cops setzten Ansammlungen von Menschen zu unterschiedlichen Tageszeiten fest - beginnend morgens an der Wallstreet, dann am Nachmittag an verschiedenen Sammelpunkten und darauf am "Herald Square" und am Broadway unweit des MSG. Im Grossen und Ganzen verzichtete die Polizei auf den von Vielen befürchteten "Showdown". Denn die meisten Festnahmen erfolgten mit dem einfachen Mittel der Umzingelung. Oft war eine Rolle orangefarbener Plastikgitter, wie sie an Baustellen verwundet werden, ausreichend. Sie wurde blitzschnell von wenigen Cops um Gruppen von 10 bis 50 Demonstranten gewickelt. Meist wartete die Polizei auf einen Anlass, der die Festnahmen legal erscheinen liess: Ordnungswidrigkeiten wie "Ignorieren einer Polizeianordnung" (sich nach Aufforderungen über Megaphon nicht wegbewegen) oder "disorderly conduct". Die Mehrzahl der Festgenommenen musste einer richterlichen Anordnung innerhalb von 24 Stunden - Mittwoch 1 Uhr morgens New Yorker Zeit - wieder freigelassen werden. Sie werden heute am Donnerstag wieder auf die Strassen gehen. Was wiederum nicht heisst, dass es keine Sündenboecke geben wird. Einem Demonstranten wird beispielsweise vorgeworfen, einen Zivilpolizisten von einem Motorrad geworfen und bewusstlos geschlagen zu haben.

Zweiter Punkt meiner Argumentation gegen die These vom brutalen Polizeistaat in New York: 1000 oder 1500 Festgenommene, das erscheint auf den ersten Blick wie eine ungeheuerliche Zahl. Gemessen an der halben Million Teilnehmer an der Sonntagsdemonstration sowie an der Tatsache, dass Festnahmen in New York wegen Ordnungswidrigkeiten, vor allem im Sommer, Rekordhöhen erreichen, spricht gegen die These von einer scharfen Convention-Repressionswelle.

Letzter Punkt, den ich aber, um nicht allzu oberlehrerhaft daherzukommen, nur andeuten will: ich bekomme nach drei Tagen Convention den Eindruck, dass den Polit- und Wahlkampfstrategen der Republikaner im Weissen Haus Demonstrationen eher unwichtig sind, ja dass sie "clashes” zwischen Demonstranten und Polizei, die sie Kerry und den Demokraten vielleicht anhängen wollten, ("Unterstuetzer von Anarchisten, Gewalttaetern und Terroristen"), nicht in Betracht ziehen. Zumindest jetzt nicht. Die New Yorker Demotage böten eigentlich mittels "agents provocateurs" den besten Anlass. Vielleicht sind die Arroganz der Macht und die Meinung, unerschütterlich fest im Sattel zu sitzen, ja doch bei den regierenden Eliten ja doch tiefer verankert, als ich bislang vermutet habe.

Aber mal sehen. Wenn Bush morgen Abend im MSG seine Krönungsrede hält, werde ich mich draussen zur grossen - und angemeldeten ! - Demonstration begeben und dann gleich in die 39 street laufen, um meine Erlebnisse aufzuschreiben.