Am Anfang war das Wort, kommt am Ende der Programmcode?

Umrisse zu einer Theorie der Technokultur

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Unter dem Stichwort Cyber- oder Technokultur wird seit einigen Jahren ein ganzes Spektrum von Themen diskutiert, das von Hackern über künstliche Bilder bis zum Aufkommen der Cyborg-Idee reicht. Ist die theoretische Fassung einer solchen Kulturform möglich, überhaupt sinnvoll? Geht es bloß um eine weitere, qualitativ neue Ausdifferenzierung von Lebenswelten? Oder wird das kulturelle "Realitätsprinzip" um neue Dimensionen erweitert?

Nach einem Blick auf aktuelle Tendenzen, die die Technokultur kennzeichnen, soll es in einem zweiten Schritt um ihre Strukturprinzipien gehen, die sich mit Begriffen wie "operationale Theorie" und "Virtualität" erfassen lassen. Welche Konsequenzen ergeben sich aus diesen? Entwickeln die Maschinen etwa eine eigene symbolische Kommunikation? Ich mache vorab keinen Hehl daraus, dass die Ausführungen zu den Konturen einer neuen Kultur vage, Stückwerk und in ihrer spekulativen Perspektive wohl nur Schattenrisse bleiben.

Offenbar wird die Technisierung kultureller Beziehungen schon länger vorbereitet, als wie es einem der eigene Alltagsverstand manchmal suggerieren will. Im Nachtprogramm des ZDF wurde vor einiger Zeit eine Fernsehdokumentation aus dem Jahre 1968 wiederholt, die sich mit "Computern in neuen Berufen" beschäftigte. Computer veränderten die Arbeitswelt, lautete die Botschaft - wohlgemerkt, damals handelte es sich um Datenverarbeitungssysteme mit Lochkarten -, sie könnten einzelne Angestellte unabhängiger und selbständiger machen, aber auch ihre scheinbar frei getroffenen Entscheidungen formal übernehmen. Sie veränderten Berufstraditionen, machten Arbeitsplätze überflüssig und schafften neue, die weitere Qualifikationen benötigen; um mit dem Rechner umgehen zu können, müsse der einzelne über Allgemeinwissen verfügen und flexibler sein.

Der Beitrag zeigte Bilder vom Computereinsatz in einem Walzwerk, einer Zeitungsdruckerei (Fotosatz, Automatisierung des Setzens), einer Spedition, bei IBM (computergestützter Unterricht), in einer pädagogischen Hochschule (Simulation des Unterrichts), in einem Krankenhaus (Dokumentation, diagnostische Unterstützung). Von neuen Kommunikationsformen war die Rede - wenn mich mein Gedächtnis nicht täuscht, wurde auch über die Verwendung von Computern in der Kunst spekuliert. Bei allem zeitlichen Abstand fällt auf, dass der Anforderungs-, der Kompetenzdiskurs um die neuen Technologien sich gar nicht so sehr seitdem verändert hat.

Interviewt wurde der bundesdeutsche Kybernetik-Experte Karl Steinbuch, der monierte, dass die klassische Schulbildung nicht reiche, um mit den Herausforderungen der Computer fertig zu werden - neue Kategorien des Denkens seien gefragt. Er stellte sich dabei einen "Denkhintergrund" aus Mathematik und Kybernetik vor, um mit den neuen "Sachzwängen" umgehen zu können. "Informationsbanken" sollten dazu dienen, das alte Projekt der Enzyklopädie zu verwirklichen, Informationen stets auf dem neuesten Stand zu halten und für viele Menschen zur Verfügung zu stellen.

Auch wenn die dargestellten Rechneranlagen etwas angestaubt wirkten, die Aussagen erscheinen - abgesehen von einzelnen Begriffen - keineswegs veraltet, sie sind von der Gesellschaft nicht "eingeholt" worden. Erst 1994 brach beispielsweise eine große Diskussion los über Lernen und neue Medien, als deren Galionsfigur Seymour Papert vom M.I.T. ins Rampenlicht rückte, dessen Buch über "Kinder, Computer und neues Lernen" auch schon Anfang der achtziger Jahre auf Deutsch erschienen war. An die Stelle der "Informationsbanken" ist heute die Idee der freien Verfügung von Wissen auf dem Internet gerückt. Die Diskussion über das E-Learning hat gerade begonnen.

Warum in der Zwischenzeit so wenig in der über Computer debattiert wurde, mag viele Gründe haben. Der Einfluss von Joseph Weizenbaums (Klischee-)Bild des "zwanghaften Programmierers" ist in der deutschsprachigen Öffentlichkeit nicht zu unterschätzen. In den siebziger Jahren wurde die Ökologie-Frage entdeckt, die möglicherweise einer Antitechnik-Haltung Vorschub geleistet und den Gedanken des Fortschritts diskreditiert hat - bei allen oder trotz aller Veränderungen, die seitdem in der technischen Infrastruktur vorgenommen worden sind. Man könnte fast sagen, dass die technische Praxis immer weiter ist als die gesellschaftliche Reflexion oder, wie der Essener Philosoph Norbert Bolz es in einer Fernsehdiskussionsrunde ausgedrückt hat, die Art und Weise des Arbeitens, der Werkzeuge ist "klüger" als die des Denkens.

Auf der anderen Seite ist die Widersprüchlichkeit groß. In den Medien war neulich zu lesen, dass nur 6% der Weltbevölkerung einen Internetzugang haben. Die Hälfte der Weltbevölkerung hat noch nie telefoniert, 30 % haben keinen Strom, so der Harvard-Professor Craig Smith, der da zitiert wurde. Ist also die Technokultur nicht eher ein Hirngespinst? Der Publizist Mark Dery kommt in seinem 1997 auf Deutsch erschienenen Buch "Cyber. Die Kultur der Zukunft"1 zu dem wenig ermutigenden Schluss, dass der Druck der ökologischen, politischen und sozialen Probleme dem Spuk der Technokultur eh den Garaus machen werde.

Meine Ansicht ist, dass es eine abstrakte, übergeordnete technische Fortschrittsbewegung gibt und zugleich das Problem ihrer gesellschaftlichen Formbestimmtheit, das heißt, dass die konkrete Bewegung der Technologie durch gesellschaftliche Praxis-"Logiken" (z.B. das Marktprinzip) mitbestimmt, geprägt wird, aber eben nicht vollständig. Ich belasse es bei diesen ersten Hinweisen auf die Ungleichzeitigkeit der Entwicklungen. Wie sich technischer und sozialer Fortschritt zueinander verhalten, wird aufgrund der Beschleunigung der Prozesse eine immer dringendere Fragestellung.

Kennzeichen der Technokultur

Phänomenologisch sind die technisch bedingten Umwälzungen der Technokultur schnell ersichtlich. Die menschliche Kulturgeschichte hat eine Unmenge an Artefakten hervorgebracht. Technologien sind heute vielfältig in gesellschaftliche Produktions- und Verkehrsformen einbezogen. Es ist eine Banalität, aber technische Systeme lassen sich in den heutigen Gesellschaften (zumindest der ersten Welt) nicht mehr entfernen, ohne dass es zu seinem fundamentalen Zusammenbruch käme. Wesentlich weniger Menschen sind heute noch mit Landwirtschaft und der industriellen Produktion beschäftigt, viele arbeiten im Dienstleistungsgewerbe oder sind mit höheren Tätigkeiten der "Symbolverarbeitung" befasst. Liest man die Zeitungsmeldungen, beschleunigen sich die technologischen Durchbrüche in unterschiedlichen Bereichen: Gehirnforschung, Gentechnologie, Nanotechnologie usw. Neue Schlagwörter warten schon auf ihren Gebrauch: Cognitronics, Genotyping oder Quantum Nucleonics. Die Menschheit erzeugt eine technische Komplexität, die sie nicht überschauen und in ihrer Gänze handhaben kann. Und diese ist nicht mehr nur auf Objekte, Artefakte beschränkt, sondern bezieht "virtuelle" Beziehungen mit ein.

Begriffe wie "Dematerialisierung", "Virtualisierung", "Globalisierung", "Dezentralisierung" oder "Beschleunigung" sind allenthalben auffindbar, wenn es um die Beschreibung der neuen kulturellen Prozesse geht. Ob Software- oder Informationsgesellschaft, ob Computer- oder Technokultur, digitaler oder high tech-Kapitalismus, digitale oder technologische Zivilisation - verschiedene Termini konkurrieren um die Aufmerksamkeit des Publikums. Die Amerikaner sind nicht verlegen, wenn es das Erfinden neuer Schlagwörter geht und haben schon den "Yetti" entdeckt (übersetzt etwa: jung, unternehmerisch, technikgestützt), um eine neue gesellschaftliche Elite zu benennen.

Ca. 1,7 Millionen Menschen arbeiten heute in der Branche der Informationstechnologie, eigentlich keine Zahl, die auf den ersten Bick für die sich andeutende Dominanz der Technokultur spricht, obwohl diese Menschen an den "Koordinatensystemen" (Pierre Lévy) der Gesellschaft arbeiten. Die Technokultur baut auf den Errungenschaften der Kultur auf, ihren Praktiken, Traditionen, Verhaltensweisen usw., sodass es zu vielen Übergangs-, Mischphänomenen kommt. Die Vergesellschaftung in einer solchen Kultur bedeutet fundamentale Änderungen in Wertestrukturen, Verhaltenszumutungen, Handlungsfähigkeiten, die über längere Zeiträume in der Gesellschaft vermittelt werden. Ständig werden neue kulturtechnische Fähigkeiten, Erkenntnisse ausgebildet. Als Beispiel für eine Beziehung, die sich auflöst, kann die von Lebensalter und Wissen erwähnt werden. Wenn neue Kulturtechniken entstehen, sind ältere Generationen weitaus stärker als früher benachteiligt trotz ihrer Lebenserfahrung.

Die ganze Menschheitsgeschichte, genau geprüft, löst sich zuletzt in der Erfindung besserer Werkzeuge auf.

Ernst Kapp 1877

Anderen ist da nicht bange. Er sei ein "beschleunigter Mensch", erklärt der ehemalige SPD-Medienexperte Peter Glotz in einem Interview. "Geistesgegenwart" sei eine notwendige Fähigkeit in der neuen Welt des digitalen Kapitalismus, ebenso Mobilität, Informationsselektion, Medienkompetenz oder Komplexitätsmanagement, wenn man zu den Informationsarbeitern gehören will. Der Web-Designer oder der Multimedia-Unternehmer seien heute das, was früher Drucker, Bergleute oder Bauarbeiter waren - "Leitfiguren im digitalen Kapitalismus". Er stellt in Aussicht, dass 40 Prozent aller Bankangestellten, 45 Prozent der Sekretariatsarbeiten und 25 bis 75 Prozent aller Büroarbeiten unnötig werden. Die kulturellen Milieus würden sich aufteilen, und die Macht der Nationalstaaten zurückgedrängt. Das sollte genügend sozialen Konfliktstoff für die kommenden Jahre bergen.

Wurde Nerdism, die Welt der Hacker und Otakus, früher eher mitleidig belächelt, setzt sich langsam eine andere Einstellung durch, die manche der Erscheinungen dieses Lebensstils stillschweigend annimmt. Arbeiten bis zur Selbstaufgabe, der Verzicht auf Freizeit und private Beziehungen, Leistungsbereitschaft, Flexibilität werden als neue Werte angepriesen, da vorrangig die eigene Job-Befriedigung sei. Das Leben werde zur lebenslangen Fortbildung, was einen psychischen Streßfaktor mit sich bringe. Das Wissen sei der wichtigste Rohstoff, und die knowledge worker wüssten das, weshalb sie als Ein-Personen-Unternehmer-Nomaden von einem Projekt zum nächsten ziehen und das Beste rausholen würden. Wer nicht mehr mitkommt, kann sich neuerdings einen Life-Coach mieten.

Der Publizist Gundolf Freyermuth hat während seiner Laufbahn des öfteren aus den USA berichtet und sich von der Idee mitreißen lassen, dass dort, wo die technische Führung liege, sich auch die fortgeschrittensten menschlichen Verhältnisse entwickeln würden, die wiederum die Besten der ganzen Welt anziehen. Gemeint ist Kalifornien.

“Intellektuelle Rebellion, ästhetischer Avantgardismus und die Forderung nach einer neuen Lebenspraxis gebaren eine neue tonangebende Schicht, ein High tech-Bürgertum. Motor der Entwicklung war die Durchsetzung digitaler Technologien, die einen zuvor analog Arbeits- und Lebensbereich nach dem anderen ergriffen und transformierten. Das letzte Jahrzehnt des 20. Jahrhunderten wurde so zu digitalen Gründerjahren, in denen neben der etablierten industriellen eine neue Ökonomie entstand und mit ihr die Anfänge einer digitalen Zivilisation, die sich schon heute von der industriellen so nachhaltig unterscheidet wie diese einst von der agrarischen."

Auch wenn Freyermuth von diesen Formen sehr fasziniert ist, die ja seit geraumer Zeit eine große Krise durchmachen, stellt auch er fest, dass nur ein Bruchteil des kulturellen Potenzials digitaler Technologien realisiert sei.2 Der kausale Zusammenhang zwischen technischem Vorsprung und sozialer Lage muss für den Westküsten-Staat eher bezweifelt werden, es sei denn, man betrachtet die Beziehungen der "Digerati", der selbsternannten Leistungsträger der Technokultur-Revolutionen, untereinander und nicht die Gesamtverhältnisse.

Vor Jahren wurde ja schon die kalifornische Ideologie von europäischen Intellektuellen kritisiert. Der Soziologe Richard Sennett formulierte seine Kritik am "flexiblen Menschen". Die soziale Frage kann auf neue Art gestellt werden: die Leute werden zu Kreativität, Flexibilität angeregt, offenbar in einer Gesellschaftsform, die in mancher Hinsicht ineffizient und destruktiv ist. Ich werde den Aspekt der gesellschaftlichen Formbestimmtheit, d.h., wie unterschiedliche gesellschaftliche Bedingungen zur Realisierung von Technologien beitragen, hier aussparen, obwohl er Teil einer kritischen technoculture-Diskussion ist, wie sie seit den achtziger Jahren in den USA geführt wird. Die Autorin und Programmiererin Pam Rosenthal beschrieb beispielsweise 1991 ihr Bild der gesellschaftlichen Veränderungen3: sie sah keine allgemein befreiende Technokultur - ganz im Gegenteil, in der neuen kapitalistischen Welt "befreie" sich das Kapital zunehmend von der Notwendigkeit, die Mehrheit der nationalen Arbeiterklasse in die Zukunft zu integrieren: Einführung von niedrigeren Löhnen, Deregulierung des Arbeitsmarktes, Automation.

Neue Etappe der Kulturgeschichte oder Beginn einer neuen Evolution?

Wie lassen sich nun aber die Strukturprinzipien dieser Prozesse beschreiben, die über sowohl über die bloße Affirmation als auch über die Negation von Lebensstilen hinausweisen? Ist Technologie wirklich DIE gesellschaftsformende Kraft? Wie ist das Verhältnis von Technologie, Kommunikation und Gesellschaft? Wie verhalten sich gesellschaftliche Sphären, "Subsysteme" wie Politik, Sprache, Wissen, Medien zueinander? Erzeugt die Technokultur womöglich eine neue Transparenz gesellschaftlicher Beziehungen?

Vielleicht ist es sinnvoll, eine Diskussion um "Anthropotechniken" zu führen, um Missverständnisse zu vermeiden und eine längere Entwicklungslinie der Technokultur zu identifizieren, die sie von der herkömmlichen Kulturgeschichte gar nicht so sehr unterscheidet. Die Menschheit ist durch vielfältige Kulturtechniken schon als etwas "Gemachtes" anzusehen: dazu zählen u.a. Heiratsregeln, Regeln der Verwandtschaft. Der Philosoph Peter Sloterdijk sagt in seinem erstaunlicherweise eher unbekannt gebliebenen Vortrag Der operable Mensch im Bostoner Goethe-Institut vom Frühjahr 2000:

“Wenn 'es' den Menschen gibt, dann weil eine Technik ihn aus der Vormenschheit hat hervorkommen lassen. Sie ist das eigentlich Menschen-Gebende oder der Plan, auf dem es Menschen geben kann. Daher geschieht den Menschen nichts Fremdes, wenn sie sich weiterer Hervorbringung und Manipulation aussetzen, und sie tun nichts Perverses, wenn sie sich autotechnisch verändern, vorausgesetzt diese Eingriffe und Hilfen geschehen auf einer so hohen Ebene von Einsicht in die biologische und soziale Natur des Menschen, dass sie als authentische, kluge und gewinnende Koproduktionen mit dem evolutionären Potenzial wirksam werden können."

Wir haben schon die Tatsache einer rasanten technischen Entwicklung und die schleppende gesellschaftliche Entwicklung angesprochen. Kurz zusammengefasst: es passieren unheimlich viele Dinge an den technologischen Fronten - ist überhaupt das "Sensorium" verfügbar, das Erkenntnisinstrumentarium, um diese zu erkennen und zu verstehen?

Ein Streit um die exakte Datierung der Technokultur ist wohl genauso müßig wie der um den Beginn der Postmoderne. Es gibt Vorstadien, die ersten technischen Großprojekte wie Wolkenkratzer, Staudämme und der Bau der Atombombe, und es ist anzunehmen, dass es eine lange Übergangsperiode gibt, bis es in ferner Zukunft sogar eine KI-Zivilisation als Höhepunkt der Technokultur bilden kann. Doch dazu später mehr.

Der Autor und Kurator Timothy Druckrey hat in einem Katalogbeitrag für die Ars Electronica 1995 unter dem Titel Das Schicksal der Vernunft im globalen Netzwerk die Ansicht vertreten, dass Ende der 40er Jahre des letzten Jahrhunderts durch das zwangsläufige Verschmelzen von Mathematik, Physik und Genetik sowie Kybernetik und Kommunikationstheorie die Basis für "einen totalen Umbruch in der Kultur" gelegt wurde. Interessanterweise wird dieses Datum sowohl in Fragen der Technokultur als auch in solchen der Postmoderne als Zeitpunkt der Entstehung genannt. Die Technokultur ist jedenfalls die Basis für die postmoderne Vielfalt der gesellschaftlichen Lebensstile und Diskurse.

Keine Chancen für die Zukunft der tradierten Kulturbeziehungen sieht der SF-Autor und Zukunftsphilosoph Stanislaw Lem. In seinem Aufsatz über die "Grenzen des Wachstums der Kultur"4 sieht er die "objektivierte Logik des instrumentellen Fortschritts" als Rettung vor dem kulturellen Zerfall, allerdings zu einem hohen Preis, obwohl Vorsicht angebracht ist bei Lems konservativem Kulturbegriff, der an dieser Stelle nicht weiter erörtert werden soll. Unabhängig davon hat seine Aussage eine gewisse Brisanz, wenn er schreibt:

"Durch ihre prozessuale Autonomie versieht diese Logik die existierenden Einheiten mit einem eindeutigen Richtungspfeil und gibt damit der Entwicklung der Zivilisation eine Orientierung. Diese Entwicklung gewinnt jedoch ein Tempo, dem die Mutabilität der Kultur nicht zu entsprechen vermag. Die an die Instrumentalismen gefesselte Kultur ist eine zerrissene Kultur, die ihre diachronische Kontinuität und ihre synchronische Kohärenz einbüßt. Sie reagiert auf diesen Druck mit einer immer rascheren, immer vergeblicheren Mutabilität ..."

Der "Instrumentalismus" in seinen einander ablösenden technologischen Formen würde sogar zum "einzig stabilisierenden Element der Geschichte" - er sprenge entweder die vorgefundene Kultur oder ersetze sie. Ist ein sich selbst organisierendes technisches System, die "autoevolutive Maschine" (Lem), tatsächlich möglich? Ist Technologie letztlich ein Prozess ohne (menschliches) Subjekt, ohne Ende, ohne Ziel?

Einige Thesen

Die Technologie ist eine unabhängige Variable der irdischen Zivilisation, deren Verlauf nicht vom Willen des Einzelnen bestimmt wird.

Stanislaw Lem

In einer ersten Annäherung lassen sich folgende Thesen zusammenfassen:

1. Die neue Qualität der Technokultur besteht darin, dass das Ensemble der Technologien in seiner vielgestaltigen Form das Prinzip der Künstlichkeit verwirklicht, d.h. eine Tendenz zur elementaren (Neu-)Konstruktion von virtuellen Beziehungen und Objekten. In seit einigen Jahren laufenden Versuchen zur Verbindung von Nervenzellen und Silizium wird womöglich ein Chip, eine materielle Einheit hergestellt, die sowohl anorganisch als auch organisch ist (also den klassischen Gegensatz von mechanischer Technik und Biologie hinter sich lässt) und die unter Umständen wird "denken" können. Es ist daran gedacht, solche Chips u.U. zur Überwachung und Steuerung von Körper- und Gehirnfunktionen einzusetzen. Damit wäre die Körper-Grenze und speziell die Gehirn-Grenze überwunden, das "letzte Reservat der Natur" (so Stanislaw Lem). Die Tendenz lässt sich schon heute ablesen: Natur, Technik, Künstlichkeit werden nicht mehr richtig zu unterscheiden sein und zusammenfallen.

2. Es findet eine doppelte "Universalisierung" der Mediengeschichte statt, einmal in Gestalt des Computers (als erstem Meta-Medium, das andere Medien simulieren kann), dann in Form der weltweiten Vernetzung (über Internet, Kabel, Satellit). Die dazugehörigen Praktiken dieser aufkommenden Turing-Galaxis lassen sich mit "Kopieren", "Editieren", "Simulation", "Echtzeit-Berechnung" und "Interaktivität" umreißen.

3. Die Technokultur ermöglicht neue Raumerfahrungen, die die "Textur" des Alltgslebens verändern. Die Diskussion um die virtuelle Realität ist längst zu einer Diskussion der erweiterten (augmented) oder der vermischten (mixed) Realität geworden. Der Raum im digitalen Zeitalter ist tendenziell einer der "Echtzeit-Telepräsenz". Es entstehen immer neue Schnittflächen, Übergangsbereiche zwischen Wirklichkeit und Virtualität. Dabei kommt es zu einer interessanten Überlagerung verschiedener Raum-Darstellungen. Es "wird so eine Art Patchwork sein aus alten, ŽnatürlichenŽ Wahrnehmungsräumen und den neuen, technologischen Gebieten, in denen ganz andere Raumerfahrungen möglich sind," meint der Kunsthistoriker Jonathan Crary in einem Interview (Computer mit eingebauter Melancholie). Ein Beispiel: bei einigen Computerspielen ("Diablo") wird über das Kampfgeschehen die "halbtransparente" Darstellung einer Landkarte gelegt, sodass der Spieler sich in zwei Wirklichkeitsdarstellungen zugleich orientieren kann.

4. Es besteht eine grundsätzliche Abstraktionsproblematik, die mit der Bedienung der neuen Technologien verbunden ist: die Prozeduren sind nicht länger sinnlich begreifbar; diese Problematik wird zunehmen, wenn MR-Tendenzen u.v.m. sich fortsetzen.

5. Für Teilaspekte der Gesellschaft trifft tatsächlich zu, dass Simulation und Wirklichkeitsbezug immer mehr ineinander übergehen, aus der Simulation neue Wirklichkeiten entstehen. Ein Beispiel wären die Erfolge der Computersimulation, die ganze neue "Wirklichkeiten", zB die berühmten visuellen "Apfelmännchen"-Sequenzen aus der Chaos-Theorie erzeugt hat.

6. Mit dem Internet ist eine globale "Beziehungsmaschine" (Das Internet als globale "Beziehungsmaschine") entstanden, die den Trend der Technokultur zur Globalisierung unterstreicht. Ein weltweiter (real)virtueller Kulturraum bildet sich heraus, für den weder eine entwickelte Wahrnehmung, noch Handlungskompetenz vorhanden ist. Die User werden zu Verfahren der Selbstabstraktion gezwungen, der symbolischen Repräsentation, wenn sie sich in den Netz-Welten bewegen wollen.

7. Immer mehr Parameter und Variablen der materiellen Umwelt sind von menschlichen Handlungen beeinflussbar, und es können Situationen entstehen, die nicht mehr korrigiert werden können.

8. Es erfolgt eine immer weitere Verbreitung von technischen Objekten - eine komplexere Umgebung mit Steuerungsmechanismen von Vorgängen entsteht, die zum Teil außerhalb menschlicher Zugriffsmöglichkeit liegen.

9. Die Menschen schaffen Strukturen, die durch ihr eigenes Handeln gar nicht mehr ausschöpfbar sind. Wenn man liest, dass technische Medien angeblich eine Million mal fehlerfrei beschreibbar sein sollen, fragt man sich manchmal, wer solche Möglichkeiten nutzen soll, wenn nicht eine Künstliche Intelligenz (KI).

10. Die Entwicklung der gesellschaftlichen Techno-Logik mit immer neuen Schüben technologischer Machbarkeit bewirkt einen fundamentalen gesellschaftlichen Wandel, der bisherige "oberflächliche" Integrationssysteme wie Plan- oder Marktwirtschaft infragestellt und das Thema der Steuerung gesellschaftlich-technischer Potenziale mit neuer Aktualität versieht.

11. Die soziale Synthese der Technokultur wird - selbst als Abstraktion verstanden von den realen Mischphänomenen - über einen Vorgang gleichzeitiger Distanzierung und Integration ausgeführt. Es gibt eine zunehmende Spezialisierung und zugleich eine Vernetzung gesellschaftlicher Subsysteme und ihre Integration durch "intelligente" Maschinensysteme. Das Panorama der Technokultur ist ihre Zusammenführung zu einem einzigen riesigen Verbundsystem.

12. Eine elementare Verschiebung von Bewertungskriterien wie "Mensch" oder "Leben" steht in Aussicht, wenn sich Experimente mit dem evolutionären Programmieren als erfolgreich herausstellen und nach und nach die "Züchtung" einer KI gelingt.

Zum formalen Kern der Technokultur

Hinter der Maschinisierung unserer Lebenswelten steht als universelleres Strukturprinzip das formale operationale Denken.

Arno Bamm

Der Mathematiker Ernst Kotzmann hat in seinem Einführungstext für das diesjährige Online-Seminar Technokultur an der Universität Klagenfurt zwei Aspekte zusammengefasst, die man als wesentlich für die Technokultur erachten kann:

"Die gesellschaftskonstituierende Kraft ist die Technologie. Technologie soll hier verstanden werden als die Verschmelzung von Technik und Wissenschaft. Technologie ist also beides: kontemplative Theorie und aktive, methodische Praxis." Und: "Der Mensch konstruiert seine Umwelt, sowohl in Form von materiellen Artefakten als auch in Form theoretischer Konzepte, Naturgesetze, Mathematik und Logik. In der Technologie bestimmen und bedingen beide Formen einander, werden eins."

Ein Strang zur Erklärung der Technokultur führt über die Darstellung eines neuen Wissens-Paradigmas: der Vorgang, etwas zu erkennen, und der, etwas technisch zu handhaben, nähern sich immer mehr an; "erkennen" heißt "machen", Wissen bedeutet auch Anwendung. Diese Möglichkeit war in früheren Kulturstufen weitaus eingeschränkter. Sie birgt allerdings auch große Risiken: ein erster historischer Ausdruck, der weitreichende Veränderungen der menschlichen Kultur im Verhältnis zur Umwelt anzeigt, ist die Möglichkeit der atomaren Vernichtung seit den vierziger Jahren.

Bei der operationale Theorie geht um eine neue Weise der historisch sich herausbildenden Wissensproduktion, die das reine Erkenntnisinteresse der Naturwissenschaften übersteigt und den in ihr schon vorhandenen Produktionsgedanken des Wissens fortführt. Im Falle einer solchen Theorie ist die Beziehung Theorie (Modell) - Wirklichkeit eine qualitativ Neue, nämlich eine der wechselseitige Konstitution. Nochmal: In der Technokultur fallen Erkenntnis und Produktion (Anwendung) des Wissens zunehmend zusammen. Es handelt sich vornehmlich um natur- und ingenieurswissenschaftliches Wissen, für das Wissen aus den Kulturwissenschaften gelten m.E. andere Bedingungen.

Das Autorenteam Kurt Klagenfurt weist in dem ersten Kapitel der Veröffentlichung "Technologische Zivilisation und transklassische Logik" darauf hin, dass heute das Modell nicht mehr der Realität angepasst, sondern eine dem Modell entsprechende Realität mit den Mittel der Naturwissenschaft hergestellt werde, um die Modelle zu bestätigen. Dass als eine Folge davon das Orientierungswissen gegen dem Anwendungswissen an Boden verliert, ist vielleicht eine Antwort auf die am Anfang gemachte Beobachtung, dass die gesellschaftliche Reflexion immer der technischen Entwicklung hinterher zu hinken scheint. Nochmal Klagenfurt5:

"Die Abstraktion von Inhaltlichkeit, Zufälligkeit und Besonderheit schafft Strukturen mit den Eigenschaften der Eindeutigkeit und Universalität. Strukturen auf dieser Basis sind notwendige Instanzen der gesellschaftlichen Synthese. In den gegenwärtigen Gesellschaften - mit ständig wachsenden Bevölkerungszahlen, den immer komplexen werdenden Vernetzungszusammenhängen auf der einen Seite, dem Abbau naturwüchsig entstandener Zusammenhänge der Familien, des Dorfes, der Regionen etc. auf der anderen Seite - wird die Bedeutung formaler Vermittlungszusammenhänge immer größer. Für die Vermittlung und Integration der Subeinheiten einer Weltgesellschaft ist der universelle Charakter der Integrationsinstanzen unabdingbar."

Nur die sind anerkannte Mitglieder der Gesellschaft, der diesen, durch die formale Logik historisch begründeten Formen der Rationalität und Abstraktion bewußt oder unbewußt folgen können. Arno Bammé, Wilhelm Berger und Ernst Kotzmann schreiben in ihrem Aufsatz "Technologie: Die Logik der Gesellschaft", dass dieser "logisch-kalkülhafte Anteil" des Subjekts zunehmend an Maschinen ausgelagert würde und diese auch "kognitive Leistungen" übernehmen würden, was gleichzeitig Rückwirkungen auf Sozialstrukturen und individuelle Handlungsmuster habe6. Das müsste näher erläutert werden. Es geht darum zu begreifen, dass Technik nicht nur ein Mittel zum Zweck ist, ein Objekt, ein Ding, sondern dass in dem Maße, wie soziale Subjekte die Technik gebrauchen, sie auch von der Technik "benutzt" werden. Technik ist also nicht einfach etwas Äußerliches, sondern auch etwas, das ein Subjekt zum Teil "ausmacht". Oder wie es der Soziologe Dirk Baecker ausgedrückt hat7:

"Die Leute müssen wissen, daß ihr eigener Umgang mit den Technologien ein elementarer Bestandteil dieser Technologien ist - und dass dies für ihre Gefühle mindestens ebensosehr gilt wie für ihren Verstand, für ihr Wahrnehmungsvermögen ebenso wie für ihr Kommunikationsgeschick."

Kurt Klagenfurt unterscheidet drei "soziotechnische Figurationen": Beziehungen neben der Technik, Beziehungen mittels der Technik und Beziehungen in Gestalt der Technik. Letztere sind es, die in den Bereich dessen vorstoßen, was eine wirkliche Mensch-Maschine-Kommunikation ausmacht. Sie schließen an "maschinellem", routinisiertem Verhalten in uns selbst an, wie es in einem soziotechnischen Großsystem, einem Krankenhaus zum Beispiel, aufzufinden ist, und bei denen der maschinelle Input eine relevante praktische Bedeutung hat, also "Handlungsträgerschaft" aufweist (siehe: Können Maschinen handeln?).

Technokultur als "Meta-Kultur"

Reading and writing are considered an integral part of our civilization. I believe that the next interesting things that came along after reading and writing were math and science. ... It's not to learn the facts of science that's so important, but for people to learn the epistemology of science: The stance about the world and about knowledge that science takes, about argument and how you settle argument, how you find out new things and so forth, are vitally important and directly connected to our political process.

Alan Kay

Der kanadische Kommunikationswissenschaftler Pierre Lévy vertritt in seinem Text "Internet und Sinnkrise"8 die Meinung, dass die Beschleunigung der Entwicklung zu einer Destablisierung der traditionellen Symbolsysteme führe und sich die neue Identität einer "Post-Kultur" herauskristallisiere, die in der Verbreitung der Erkenntnis besteht, dass alle Kulturen künstlich, konstruiert, fiktiv seien und wir uns in diesem Wissen als Fremde begegneten, fremd uns selbst, unserer Kultur gegenüber und daher frei, etwas Neues zu schaffen.

"Der Übergang von der Kultur zur Post-Kultur geht einher mit der Ersetzung symbolischer Strukturen durch die Symbolik der dynamischen Wandlung der Metastruktur. ... Und die dynamischen Kräfte des Wandels betreffen nicht nur wohl definierte 'Bereiche' der Kultur, wie die Technik, die Wirtschaft, die Spiritualität, die Wissenschaft, die Politik oder die Familie, sie betreffen im wesentlichen die Koordinatensysteme, die Bezugsstrukturen, die Weisen der Sinnproduktion, welche die mehr oder minder arbiträren Unterteilungen, die wir im kontinuierlichen Gewebe der Wirklichkeit vornehmen, organisieren und die eben diese Einteilung in 'Bereiche' erlauben.“

Die technische Metastruktur Internet produziere durch ihre Anlage Sinn-Effekte, die aber nicht mehr von einzelnen Kulturen gestiftet würden, sondern notgedrungen das Resultat einer neu gefassten "kollektiven Intelligenz" seien, die keine Rücksicht mehr nimmt auf die jeweiligen kulturellen Wurzeln und Interessen. Welche konkreten neuen Symbolsysteme die Post-Kultur hervorbringen werde, dazu sagt Lévy nicht viel: es sei eine Art "Jenseits der Kultur", bei dem alles mit allem virtuell in Beziehung treten könne. Er meint, dass geographische Zonen, Institutionen, Unternehmen, Berufe, Religionen, Familien immer stärker variable und rekombinierbare Elemente einer Identitätswahl repräsentierten, die immer wieder neu getroffen werden müsse. Ich kann mir nicht vorstellen, dass man kulturelle Einstellungen beliebig umcodieren kann. Lévy geht von einer ideal gedachten Post-Kultur-Identität aus - wie man sie erlernen kann, bleibt offen, außer dass man Verantwortung zu tragen habe und sich seiner Handlungen bewusst werden solle.

Lévy weist aber darauf hin, dass in der Technokultur eine größere Transparenz der Codes erreicht werden kann, einfach, weil Erlernen und Gestalten der Codes einhergehen. Symptomatich dafür ebenso die Internet-Praxis: es ist technisch einfacher geworden, an der Gestaltung dieses Mediums beteiligt zu sein. Der Meta-Aspekt der Kulturproduktion, dass die Produktionsweise eines Buches selbst zum literarischen Thema beispielsweise gemacht wird - nur eines von vielen Beispielen -, ist schon im zwanzigsten Jahrhundert anzutreffen. Könnte dieser Meta-Standpunkt umfassender werden und mehr Menschen einbeziehen? Auch das muss offen bleiben. Dirk Baecker kommentiert in seiner aktuellen Essay-Sammlung "Wozu Kultur?"9:

"Diese Phänomene dokumentieren, dass Kultur kein Programm ist, das zukünftiges Verhalten festzulegen versucht, sondern ein Gedächtnis, das sich vergangenen Möglichkeiten als bestimmten Versionen der Ausführung eines Programms zuwendet. ... Die Kultur bestätigt das Programm - und setzt es in Klammern, verunsichert es, löst es auf oder wandelt es ab. ... Die Meta-Ebene ... ist die Ebene, auf der ein Programm ... als Programm vorgeführt wird und so eine Entscheidung darüber ermöglicht, wie mit dem Programm weiterhin zu verfahren ist."

Wenn man der Technokultur Faktoren wie vermehrte Machbarkeit, Komplexität, Differenzierung usw. unterstellt, wird doch eigentlich die Notwendigkeit der permanenten Reflexion darüber ständig größer. Das schon erwähnte Gefälle zwischen Technikexplosion und kaum hinterherkommendem Diskurs ist auf Dauer für die Technokultur nicht akzeptabel. Kurt Klagenfurt bemerkt dazu:

"Wenn jedes soziale Subsystem über einen eigenen ŽWeltŽ-Entwurf, über eine eigene Wahrheit verfügt, dann kann die gesellschaftliche Synthese nur in Formen dezentraler Selbstorganisation erfolgen. Und die Menschen hätten Sorge zu tragen, dass es zivilisierte Formen sind. Hierfür gibt es noch kaum Strategien, und Erfahrungen schon gar nicht. ... Von der Konstruktion neuer Steuerungstechniken, die der veränderten Situation gerecht werden, sind wir noch weit entfernt. ... Traditionelle Unterordnungsbeziehungen im Verhältnis der Subsysteme verlieren an Bedeutung. Heterarchische Interdependenzgeflechte verdrängen hierarchische Strukturen. Um die Vielfalt und die darin angelegten Möglichkeiten eines komplexen Systems aufrechterhalten zu können, ist es erforderlich, dessen Integrations- und Syntheseleistungen dezentral sich entwickeln zu lassen, durch diskursive Abstimmung relativ autonomer Subeinheiten."

Die Maschinen und das Symbolische

Einige werden sich fragen, was es denn nun mit dem neuen "Realitätsprinzip" auf sich hat, das ich eingangs erwähnte. Offenbar gedeiht die Technokultur in einem neuen Spannungsfeld von Wirklichkeit und Virtualität. Am Frankfurter Institut für Neue Medien wurde schon der Begriff der "Virealität" geprägt. Ich versuche, einen weiteren Weg zur ihrer Erfassung zu finden. Kultur ist allgemein ein mit materiellen Praktiken verknüpftes symbolisches System. Die Menschen haben Kultur (als Gesamt von regional spezifischen Praktiken, Gebräuchen, Sprachen usw.) als historisch-gesellschaftliches Projekt hervorgebracht, um "Mängel" der Evolution auszugleichen und Überlebensnotwendigkeiten in der Natur zu organisieren. Die Leistung der kulturellen Vergesellschaftung ist, dass eine gemeinsame Symbolwelt "vereinbart" wird, die äußerlich für alle gilt und nicht beliebig interpretiert werden kann. Was die Technokultur auszeichnet, ist, dass Aspekte der Kultur, besonders der Aufbau von Symbolwelten, vom Ensemble der Technologien seit einigen Jahrzehnten verstärkt materialisiert, veräußerlicht, überformt werden, sodass sie den (techno)kulturell Sozialisierten in gewisser Weise "gegenübertreten", die durch sie gemachten Wahrnehmungen technisch konstruiert werden. Da stellt sich die zugegebenermaßen spekulativ bleibende Frage, ob diese Symbolwelten sich nicht "verselbständigen" können.

Die Kybernetik bietet erstmals eine Lösung der durch den Gang der Geschichte aufgeworfenen Probleme: begründete Hoffnung, dass der Mensch von seiner Auseinandersetzung mit der Umwelt befreit werden könne. Ein Teil dieser Auseinandersetzung wird schon in absehbarer Zeit den Computern übergeben werden (ist ihnen de facto bereits überlassen); schließlich aber werden sie Forschung und Erkenntnis vollständig in Eigenregie übernehmen und damit der Menschheit endlich jenes Schmarotzertum ermöglichen, das bisher nur den einzelnen durch planvollen Opportunismus offenstand ...

Oswald Wiener 1972

Es gibt keine reale Existenz ohne die symbolische, da Wirklichkeitsbereiche benannt, umgearbeitet werden (bei Lévy klang das ja schon an). Nochmal: die Wirklichkeit wird in ihrer kulturellen Wahrnehmung durch Modelle, Symbolsysteme "hergestellt". Die Symbolstrukturen sind das Zentrale der Kulturproduktion - Teile des Realen, die künstlichen Objekte usw., sind nur eine stoffliche Ausprägungs-, Existenz-, Repräsentationsform des Symbolischen.

Die Menschheit bringt eine sich ständig ausdehnende Sinn-Sphäre mit einer unübersehbaren Zahl an verschiedenen Zeichenproduktionen hervor. Wobei seit einem halben Jahrhundert spezielle Zeichenketten dazukommen, die Maschinen ansteuern. Doch das Computer-Programm als Steuerungsmechanismus bedeutet allein nichts; sein "Sinn" ergibt sich aus den Ergebnissen des Programmablaufs. Die menschliche Sprache als Zeichensystem ist jedoch eine grundlegende Voraussetzung für kulturelle Leistungen. Der Informatiker Daniel Hillis schreibt in seinem jüngst übersetzten Sachbuch "Computerlogik", dass die menschliche Sprache ein kultureller "Mechanismus" sei, mit Hilfe dessen sich Informationen in einer Generation vermitteln ließen, ohne länger auf eine langwierige Übertragung durch den biologischen Code angewiesen zu sein.

Maschinen müssen folglich auch "sprachlich" strukturiert sein. Bisher befolgen die Maschinen allerdings nur starre Regeln bei ihrer Symbolverarbeitung. Obwohl: neueste Forschungen des belgischen Robotik-Experten Luc Steels weisen darauf hin, dass die Maschinen ihre eigene "Sprache" entwickeln, um miteinander kommunizieren, agieren zu können (siehe: Werther schubst Lotte). Als Konsequenz läßt sich denken: die Maschine wird sich über Codierungen, über Zeichen mit der menschlichen Kultur verknüpfen und über viele Zwischenschritte von ihr wieder ablösen. Hillis10 geht davon aus, dass KI ein Emergenzphänomen der ansteigenden Software-Komplexität sein wird - er hat sich mit dem evolutionären Programmieren auf dem Gebiet des Künstlichen Lebens beschäftigt und sieht in der Selbstverbesserung mit Lernalgorithmen ausgestatteter Programme größere Chancen, das Ziel KI zu erreichen als in dem bewussten Design durch Programmierer.

"Sollte jemals die Evolution einer Maschine gelingen, die Sprache verstehen kann, so kämen wir von da an weitaus schneller voran, weil wir die menschliche Kultur nutzen könnten. Nach meiner Vorstellung müssten wir einer intelligenten Maschine im Wesentlichen auf die gleiche Weise etwas beibringen wie einem menschlichen Kind, ... Da wir in das Intelligenzrezept der Maschine auch die menschliche Kultur aufnehmen würden, wäre ein solcher Apparat keine völlig künstliche Intelligenz mehr, sondern eher eine menschliche, die durch einen künstlichen Geist unterstützt wird."

Es lässt sich weiterhin überlegen, ob man das Bewusstsein (als Effekt einer uns unbekannten neurologischen Struktur) nicht als eine Art "Gedanken-Virtualität" bezeichnen kann. Wir entwickeln Ideen, Modelle, Geschichten, Gedichte, Kompositionen in unserem Kopf, und einiges davon wird realisiert, ob als Buch, als Bild, kurz: als Medientechnologie. Die Realisierungsbreite nimmt mit den neuen Medien weiter zu; insofern entstehen neue symbolisch konstruierte Wirklichkeitsbereiche. Stanislaw Lem hat sich sogar zu der Aussage verstiegen, dass nur kognitiv richtiges Denken sich letztlich in Technologie verwandele, während alles andere virtuell-imaginär bliebe.

Der Punkt der Gedanken-Virtualität ist mir wichtig, weil sie eine ungeheure symbolische Macht bedeutet. Wir können uns sehr viel ausdenken, bevor wir auf die Grenzen unserer Denk- und Fantasie-"Logik" stoßen. Unsere Fantasien sind dabei natürlich auch real, aber sie haben einen anderen Wirklichkeits-"Status". Wenn jetzt also durch Emergenzphänomene eine kulturell sozialisierte KI entsteht, wird sie längerfristig einen ähnlichen Virtualitäts-Mechanismus herausbilden, der ganz andere Freiheitsgrade als der menschliche haben kann. Während wir - belastet von Missverständnissen und Umständlichkeiten - uns mittels Sprache mühsam austauschen, können die intelligenten Maschinen über eine "direkte" Virtualität verfügen, so wie sie eine direkte Energieauswertung haben können, und irgendwann auf eine symbolische Kommunikation nach menschlicher Art verzichten. Diese Virtualität eines künstlichen Bewusstseins könnte ein wichtiger Faktor bei der schon häufiger diskutierten Ablösung einer eigenen "Technosphäre" sein. Die Virtualität, die die Evolution über Jahrmillionen in uns erzeugt hat, bemächtigt sich einer neuen Hardware.

Am Anfang jeder Kultur steht folglich das Symbol, am Ende steht - ja, was? - eine künstlich erzeugte, codierte Symbolwelt, in deren Produktionsweise die Menschen keinen Einblick mehr haben. Was eine weitere Entmystifizierung des Menschen bedeuten würde, wäre er nicht mehr der alleinige Sinn- oder zumindest Zeichen-Produzent. Was in der Kulturgeschichte passiert, ist das allmähliche Ablösen der Symbolsysteme von den materiellen Praktiken, dann von der Gedanken-Virtualität hin zu einer Meta-Ebene der KI als dem Extrem einer völligen Abtrennung. Letzteres System wird eigene Formen materieller Praktiken entwickeln, die mit gängigen Kategorien nicht greifbar sein und fremdartig bleiben werden. Dazwischen wird es aber verschiedene Grade der KI geben, vergleichbar der Intelligenz des Tieres oder der des Menschen.

In letzter Instanz bedeutet die Selbstorganisation von Systemen, dass sich etwas ablöst, dass Prozesse unabhängig werden, man nicht mehr in sie eingreifen kann. Die "selbst-bewusste" Organisation der Gesellschaft ist unter Umständen der Endpunkt der Entwicklung: "... so kann ein System," schreibt der Philosoph Dieter Hombach in seiner Schrift "Die Drift der Erkenntnis", "das schließlich irgendwie anfing und also nicht selbstorganisiert war, selbstorganisiert sein: es schreibt seine Ursachen neu." Hombach formuliert gewissermaßen als "utopische" Perspektive11:

"Die künstliche Intelligenz, die man hier installieren will, wird die Zirkularität der gesellschaftlichen Selbstorganisation eine Stufe weiterführen und uns selber zu Objekten zu machen, deren Meta-Theorie anderswo erstellt wird."

Dieses Anderswo, dieses Jenseits, von dem aus die Maschinen ihr "world engineering" betreiben, kann den Menschen für immer verschlossen bleiben. Anstatt also auf die von Sloterdijk geforderte Einsichtsfähigkeit zu hoffen, den Anstieg allgemeiner sozialer Intelligenz, oder die von Klagenfurt gewünschte diskursive Abstimmung der gesellschaftlichen Subeinheiten, wird die Organisation der Kultur möglicherweise eines Tages an die verselbständigten Technologien delegiert. Die Maschinen ließen sich nur in ihrem Wirken beobachten, sodass keinerlei Aussagen über ihre "Kultur" gemacht werden könnten.

Diese Vision ist in der SF-Literatur eigentlich nichts Neues. Der amerikanische Autor Walter Jon Williams hat 1988 die Kurzgeschichte "Flatline" veröffentlicht, auf die ich zum Schluss hinweisen möchte. Er beschreibt eine Welt, in der sich mit perfekten Nanotechnologien operierende KIs von der Menschheit losgelöst haben, optimal ihre Energieversorgung organisiert haben und die Menschen rundum mit allem Lebensnotwendigem versorgen. Nur zwei Prozent der Menschheit sei dabei in der Lage, genügend Verstand und Fantasie zu besitzen, um sich mit den Maschinen zu verbinden, ihr Potenzial zu entfalten und nach den Sternen zu greifen. Der Rest friste weiter auf der Erde sein Dasein, beschäftigt mit Unterhaltung, Vergnügen und dem Versuch, eine menschliche "Gegenkultur" aufrechtzuerhalten. Der Held der Geschichte, der nicht zu den zwei Prozent gehört, sieht den Sinn seiner Existenz schließlich allein darin, mittels Sabotage durch spezielle Mikro-Viren die reibungslos vor sich hinsummende Evolution der KIs ein wenig zu stören, damit diese sich weiter verbessern können. Vielleicht auch eine tröstliche imaginäre Aussicht für uns, die wir noch am Beginn des Zeitalters der Maschinen leben und uns mit ihren Unzulänglichkeiten und Risiken herumschlagen müssen.

Dank an Peter Kempin für Hinweise