BSW zur EU: Wagenknecht-Partei fordert Ende der europäischen Illusionen

Seite 2: BSW zu EU: Grenzen und Chancen der EU-Integration

Das sieht auch das BSW so: "Heute zeigen sich die Grenzen der politischen Integration" heißt es gleich auf der ersten Seite des Programms. Und im Folgenden zieht sich dann durch alle wichtigen Politikfelder das Muster der differenziellen und flexiblen Integration, wenn auch nicht mit dieser Begrifflichkeit.

BSW-Initiativen: Kooperation und Autonomie

So wird mehr Kooperation gefordert bei Klima- und Umweltschutz, Technologie und hier insbesondere Digitalisierung, sowie bei der Regulierung der Finanzmärkte und der Steuerpolitik, darunter dem Kampf gegen Steuerdumping. Mehr Europa soll es auch geben bei höheren Steuern für Reiche, bei der Energiepolitik und der Infrastruktur, darunter der Ausbau von Hochgeschwindigkeitsstrecken der Bahn. Also alles, nur keine Abschottung in der nationalen Wagenburg.

BSW und EU-Außenpolitik: Ein neuer Ansatz

Auch eine "eigenständige Außenpolitik" wird angestrebt, "die zumindest von einer größeren Zahl europäischer Länder gemeinsam getragen wird." Variable Geometrie also, wohl realistischerweise mit der Einschätzung, dass etwa mit Polen und Balten Gemeinsamkeiten in zentralen Fragen geringer sind angesichts deren jahrhundertealten Erbfeindschaft mit Russland und ihrem 150-prozentigen Transatlantismus.

Im Zentrum für das BSW stehen die Grundsätze der "Diplomatie, der Konfliktvermeidung und der guten Nachbarschaft … Abrüstung und neue Rüstungskontrollvereinbarungen" sowie eine europäische Friedensarchitektur unter Einbeziehung von Russland. Daher auch die Forderung nach Waffenstillstand im Ukraine-Krieg, Verhandlungen und den Abbau von Sanktionen.

Ein durchgängiges Leitmotiv zielt auf mehr Unabhängigkeit von den USA. Damit ist das Programm zunächst anschlussfähig an die Diskussion um strategische Autonomie, wie sie schon mit der Präsidentschaft von Donald Trumps in den USA Fahrt aufgenommen hatte, mit Biden aber wieder abflaute, und nun aus Furcht vor einer zweiten Amtszeit Trumps wieder aufkommt.

EU-Politik: Mit Autonomie zum Frieden

Allerdings wird Autonomie nicht als machtpolitische, militärische Großmacht definiert, wie Brüssel das tut, sondern als friedenspolitische Alternative zu einem Kalten Krieg 2.0. Dazu passt auch das Festhalten am Einstimmigkeitsprinzip bei der Außen- und Sicherheitspolitik mit dem Argument, dass sonst die Schwelle für eine aggressive Außenpolitik und militärische Abenteuer gesenkt würde.

Eigenständigkeit wird dabei auch ausdrücklich ökonomisch und technologisch definiert. Im Falle der Abhängigkeit von den Big Five der digitalen Industrie – Google, Facebook etc. – kommt auch eine demokratiepolitische Komponente gegen die "Datenkraken" hinzu, und der Umbruch des internationalen Systems hin zu einer multipolaren Weltordnung, in der die EU als ein Player gesehen wird – wobei Eigenständigkeit von ihrer inhaltlich-politischen Substanz allerdings auf andere Art definiert wird als bei Emmanuel Macron, oder gar den Fans einer europäischen Atombombe wie Joschka Fischer bei dem Grünen.

Subsidiarität und Demokratie im BSW-Programm

Auch das Prinzip der Subsidiarität, wonach Probleme dort bearbeitet und gelöst werden sollen, wo die größte Kompetenz dafür vorhanden ist, also in Kommunen, Regionen und auf nationalstaatlicher Ebene, spielt eine große Rolle in dem Programm. Dazu wird "eine grundlegende Korrektur der EU-Beihilfe- und Vergabepolitik" gefordert.

Um ein Beispiel herauszugreifen: Mit dem Unsinn, dass eine finnische Stadt ein Infrastrukturprojekt EU-weit ausschreiben und dann nach Brüsseler Regeln eventuell eine portugiesische Firma beauftragen muss, soll Schluss sein. Direkt zurückgebaut werden sollen die Schuldenbremse und die Hebel, mit denen die neoliberale Austeritätspolitik durchgezogen wird, wie das "Europäische Semester" oder das Konzernklagerecht, das abgeschafft werden soll.

Zudem kommt dem Subsidiaritätsgedanken auch einiges ökologisches und demokratisches Potenzial zu. Die jeder Bürokratie innewohnende Dynamik, immer mehr Kompetenzen an sich zu ziehen, führt zu immer stärkerer Zentralisierung in Brüssel und hat autoritäre Züge.

Wenn dann noch die autokratischen Anmaßungen einer Ursula von der Leyen hinzukommen, dann wird deutlich, dass das Demokratie-Problem der EU nicht nur im Aufstieg der Rechtspopulisten besteht.

BSWs kritische Sicht auf EU-Direktiven

Einigen Kommentatoren ist immerhin ein europapolitisch brisanter Punkt im BSW-Programm aufgefallen, in dem es heißt, man trete "für die Nichtumsetzung von EU-Vorgaben auf nationaler Ebene ein, wenn sie wirtschaftlicher Vernunft, sozialer Gerechtigkeit, Frieden, Demokratie und Meinungsfreiheit zuwiderlaufen." In der FAZ hat sich das BSW damit den Vorwurf der Verfassungswidrigkeit eingehandelt (29.1.2024; S. 1).

Allerdings ist so etwas kein Alleinstellungsmerkmal von BSW. Schon die Schröder-Regierung hat die Schuldengrenzen des Maastricht-Vertrags ignoriert. Als Frankreich es ihr gleichtat und die Gralshüter neoklassischer Haushaltspolitik monierten, warum das nicht sanktioniert würde, gab es die berühmte Antwort Jean-Claude Junckers: "Weil es Frankreich ist."

Auch bei der Aufteilung von Migranten auf die Mitgliedsländer sind es nicht nur Polen und Ungarn, die achselzuckend ihr Ding durchziehen, auch Frankreich bleibt weit unter den vereinbarten Quoten. Oder wer erinnert sich noch daran, als in Corona-Zeiten einige Länder vertragswidrig einfach ihre Grenzen dichtmachten? Ganz zu schweigen von der EZB, die jahrelang de facto Staatsfinanzierung betrieb, was den Verträgen nach nicht zulässig ist.

Und last not least ein Beispiel mit aktuellem Bezug: die EU-Direktive von 2015, die für Importe aus dem Westjordanland und Gaza eine gesonderte Kennzeichnungspflicht verlangt, und Made in Israel dafür untersagte, wurde nicht nur in Deutschland ignoriert.

Im Übrigen sind schon bei den letzten EU-Wahlen mehrere linke Parteien explizit mit der Ankündigung angetreten, Brüsseler Entscheidungen gegebenenfalls zu boykottieren, darunter La France Insoumise und der portugiesische Linksblock.

Europapolitische Diskussion: Neuer Impuls durch BSW

Auch wenn das EU-Parlament kein vollwertiges Parlament ist, so bieten die Wahlen im Juni die Möglichkeit, mal wieder über Grundfragen der EU zu reden. Seit der Eurokrise findet eine solche Diskussion kaum mehr statt. Dabei haben sich seither einige bedeutende Veränderungen ergeben.

An der Spitze die zunehmende Militarisierung sowie ein krisengetriebener Staatsinterventionismus. Das BSW-Programm könnte einige neue Impulse für die Diskussion liefern, vorausgesetzt, diese Diskussion verläuft sachlich.

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