Cannes 2023: Filmfest zwischen Streaming Wars und Ukraine-Krieg

Seite 4: Antirussische Lobbyarbeit

Andere Probleme zeigen sich im Fall von Russland.

Auch wenn es in diesem Jahr keinen ukrainischen Film im Programm von Cannes zu sehen gab und zur Erleichterung vieler Besucher der ukrainische Präsident Selenskyj diesmal auf jeden Auftritt bei der Eröffnung oder an anderer Stelle auf dem Festival verzichtete, führte der russisch-ukrainische Krieg beim Filmfestival auch in diesem Jahr zu Kontroversen.

Offiziellen russischen Delegationen und Unternehmen mit Verbindungen zur Regierung war es zwar erneut untersagt, am Marché du Film in Cannes teilzunehmen. Zugleich lief der russische Film "Grace" von Ilya Povolotsky, der vor dem Beginn der Kämpfe mit der Ukraine gedreht und in der Quinzaine gezeigt wurde.

Für die Ukraine selbst gilt dagegen: "Die Industrie ist im Moment tot", so der Produzent Vladimir Yatsenko gegenüber Variety. Und das, obwohl Kinofilm für die Ukraine im ersten Kriegsjahr ein sehr nützliches Medium politischer Propaganda waren. Jetzt sind die ohnehin schon spärlichen Mittel der staatlichen ukrainischen Filmagentur zugunsten der Kriegsanstrengungen versiegt. Viele männliche Filmemacher kämpfen an der Front.

Laut Variety waren allerdings sehr wohl einige ukrainische Filme beim Festival eingereicht worden, hatten es aber nicht in die offizielle Auswahl geschafft haben. Ausnahme: Der Kriegsdokumentarfilm "In the Rearview" des polnischen Regisseurs Maciek Hamela - eine ukrainische Minderheitskoproduktion - der in der inoffiziellen ACID-Sektion lief.

Dafür verlegen die Ukrainer ihre Bemühungen in Cannes auf anti-russische Lobbyarbeit: In einem offenen Brief forderte die ukrainische Filmgewerkschaft die Teilnehmer des Filmmarktes auf, alle Geschäfte mit Russland einzustellen. In der Erklärung wird behauptet, dass die Veröffentlichung von Filmen in Russland einer "Unterstützung des Terrorismus" gleichkommt.

Die Autoren nannten explizit die Namen mehrerer führender internationaler Indie-Weltvertriebe, darunter Lionsgate, STXInternational, FilmNation, A24 und Pathé, deren Filme auch nach Beginn des Krieges in Russland veröffentlicht wurden.

"In Russland weiterhin Geschäfte zu machen, bedeutet, den russischen Terrorstaat mit Steuern zu unterstützen", heißt es in der Erklärung. "Diese Steuern werden dann in Waffen verwandelt, mit denen friedliche ukrainische Städte zerstört und unsere Freunde und Kollegen getötet und verstümmelt werden."

Obwohl viele Hollywood-Studios nach der Invasion in der Ukraine ihre Reihen geschlossen haben und Filme wie "The Batman" von Warner Bros. und "Morbius" von Sony aus den russischen Kinos zurückgezogen wurden, wurden nach Angaben des russischen Kinofonds, der den Kartenverkauf bei den Kinobetreibern des Landes verfolgt, im vergangenen Jahr dennoch mehr als 140 US-Filme in dem Land veröffentlicht.

Mehrere internationale Filme sind in Russland weiterhin gut im Geschäft, darunter "John Wick: Kapitel 4" von Lionsgate, der im Land und in den ehemaligen sowjetischen Gebieten der GUS-Staaten, bisher fast 14 Millionen Dollar eingespielt hat, und der Oscar-Preisträger "Everything Everywhere All at Once" von A24, der mehr als 2,3 Millionen Dollar einspielte.

Guy Ritchies Spionage-Action-Komödie "Operation Fortune", die von STXinternational weltweit veröffentlicht wurde, hat in Russland/GUS mehr als 9 Millionen Dollar eingespielt, und "Die drei Musketiere" von Pathé fast 8 Millionen Dollar.

Die Verträge für viele ausländische Filme, die nach Russland verkauft wurden, wurden vor dem Einmarsch in die Ukraine unterzeichnet. Andere finden ihren Weg in die Kinos des Landes auf verworrenen Wegen, oft über Tochtergesellschaften russischer Verleihfirmen mit Sitz in anderen Ländern oder über Drittverleiher. (Die russische Veröffentlichung von "John Wick 4" wurde beispielsweise von Unicorn Media, einem in Malta registrierten Unternehmen, abgewickelt).

Während die Zusammenarbeit mit Drittvertriebsfirmen und ähnlich umständliche Arrangements völlig legal sind, wenn keine sanktionierten Unternehmen beteiligt sind, bestehen erfahrene europäische Vertriebsmitarbeiter gegenüber Branchenmagazinen darauf, dass sie ausländischen Unternehmen einen bequemen Vorwand ("cover") bieten, um weiterhin ihre Kassenschlager auf dem sechstgrößten Kinomarkt der Welt zu präsentieren.

"Die Realität ist, dass es finanziell weitaus lukrativer ist, den Handel mit Russland fortzusetzen, als den Verlust zu erleiden, wenn die Filme raubkopiert werden", sagte der Vertriebsmitarbeiter, der anonym bleiben wollte.

Alle Facetten des Kinos

Cannes war auch in diesem Jahr der Ort für alle Facetten des Kinos. Natürlich ist dies ein Tempel der "siebten Kunst", ein Gipfel des Glamours mit den Stars aus Hollywood, es ist das ökonomische Herz der weltweiten Filmindustrie.

Aber dies ist auch ein Ort der Kennerschaft, der Reflexion, der Eleganz und der Anmut; des geistigen Austauschs, des produktiven Streits der Experten. Cannes ist eine sinnliche Erfahrung und es ist ein intellektueller Ort!