Citizen Data Journalism: die Rückeroberung der Information

Wie offene Daten und Tools zur Modellierung den demokratischen Austausch begünstigen können

Deutschland ist notorisch das Land der 80 Millionen Bundestrainer. Mit der Covid-19-Pandemie, so wird bisweilen kritisiert, haben wir uns zu einem Volk der Hobby-Epidemiologen gewandelt. Ein oft erhobener Vorwurf ist, dass frei zugängliche Daten simplifiziert verwendet werden, um Forderungen nach bestimmten Maßnahmen im Umgang mit Pandemie zu untermauern. Dieses "Cherry Picking" ist in der Tat eine der prominentesten Taktiken der Desinformation.

Diese Kritik darf aber nicht über den Nutzen hinwegtäuschen, den der öffentliche Zugang zu Daten und die Verfügbarkeit von Tools zur Analyse und Modellierung mit sich bringen. Sie ermöglichen es jedem einzelnen – vorbei an Thinktanks, Regierungssprechern oder Lobby-Verbänden – die Entwicklung in kritischen Bereichen wie der Covid-19-Pandemie zu verfolgen. So wird es möglich, Vorschläge zu Maßnahmen besser zu bewerten, die in die öffentliche Diskussion eingebracht werden. Auch der Dialog über Alternativen kann so unterstützt werden.

Citizen Data Modeling im Einsatz

Diesen Ansatz verfolgen Menschen wie Dirk Paessler, Gründer des Software-Unternehmens Paessler AG und jetzt im Hauptberuf CEO eines Klima-Startups. In beiden Firmen gehören Datenanalysen zum Alltag. Seine Coping-Strategy für die Pandemie ist die Aufarbeitung der Daten und die Modellierung des weiteren Verlaufs.

Diese Beschäftigung mit den Zahlen ist natürlich auch der Versuch, etwas gegen die von uns allen erlebte Hilflosigkeit zu tun. Bei der Datenanalyse kann man im ersten Schritt lernen, wie die Zusammenhänge sind, um dann im zweiten Schritt auf die Suche nach Lösungen zu gehen. Gerade bei komplexen Problemen wie dem Klima oder eben auch der Pandemie finden sich dabei schnell bestimmte Hebel, die eine große Wirkung haben können, die man intuitiv unterschätzt hätte.

Dirk Paessler

Um die Diskussion über Covid-19-Maßnahmen mit Fachinformationen zu unterstützen, hat Paessler ein Modell zur Simulation des weiteren Verlaufs der Pandemie unter verschiedenen Szenarien entwickelt. In seinem Blog veröffentlicht er regelmäßig aktuelle Berechnungen, so etwa eine zum jüngsten Vorschlag des "Brückenlockdowns". Die zugrundeliegenden Daten bezieht er von Institutionen wie dem Robert-Koch-Institut (RKI), offenen Datensätzen und wissenschaftlichen Veröffentlichungen. Das gesamte Modell liegt als dokumentierte Open-Source Datei vor.

Wie sieht demnach die aktuelle Prognose des Pandemie-Verlaufs in Deutschland aus? Wie wirken sich verschiedene Vorschläge aus, und was sind die Kosten an Menschenleben und chronisch Kranken? Beispielhaft sei hier ein Szenario dargestellt, das folgende Annahmen voraussetzt:

  • Keine weiteren Lockdowns
  • Impfprogramm wie geplant

Es ergibt sich dann folgende Verlaufskurve:

Die Modellrechnung zeigt einen exponentiellen Anstieg, weil es keine oder kaum neue Gegenmaßnahmen gibt und die seit Dezember geltenden Lockdown-Regeln nicht ausreichen, um das Wachstum der infektiöseren Virus-Variante B 1.1.7 und anderer Mutationen auszubremsen.

Die rechte Grafik zeigt, dass die Belastung der Intensivstationen in der dritten Welle doppelt so hoch ausfallen würde wie in der zweiten Welle, wenn es keine Verschärfungen gibt. Fast identische Aussagen kommen auch aus dem Modell des Intensivregisters Divi.