Comeback von Rot-Grün?

Im Eiltempo basteln SPD und Bündnisgrüne an einer Minderheitsregierung für NRW. Die demonstrative Handlungsfähigkeit zielt nicht nur gegen die schwarz-gelbe Geschäftsführung im Düsseldorf Landtag, sondern vor allem gegen die Linkspartei

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Nach dem undurchsichtigen Ergebnis, das die Landtagswahl den Parteien in Nordrhein-Westfalen am 9. Mai bescherte, schien Zeit zunächst keine Rolle zu spielen. Die SPD nahm die Grünen ins Schlepptau und begab sich tiefenentspannt zu Sondierungsgesprächen mit der Linkspartei, der CDU und der FDP. Keine Verhandlung führte zu befriedigenden Ergebnissen und so beschlossen die Sozialdemokraten eines schönen Junitages, sich aus der Opposition heraus Mehrheiten für den angestrebten Politikwechsel zu organisieren.

Doch die Genossen an Rhein und Ruhr hatten die Rechnung ohne den kleinen Koalitionspartner und ohne die eigene Berliner Parteiführung gemacht. Beide drängten auf die Bildung einer Minderheitsregierung, um die schwarz-gelbe Mehrheit im Bundesrat zu brechen und bei entscheidenden Vorhaben der Bundesregierung in Sachen Sparpaket oder Verlängerung der Laufzeiten für Kernkraftwerke ein gewichtiges Wort mitsprechen zu können.

Innerhalb weniger Stunden rückte die nordrhein-westfälische SPD wieder von der Idee einer Oppositionsregierung ab und empfahl sich mit allerlei durchsichtigen Argumenten für "eine stabilere Regierung, als sie Herr Rüttgers noch bieten kann“.

Seitdem hat es Hannelore Kraft eilig, denn nun muss die Landesvorsitzende beweisen, dass wenigstens mit den Grünen eine Koalition gebildet werden kann. Der in nur zwei Wochen ausgearbeitete Vertrag liegt seit gestern vor (Kurzfassung) und soll am Samstag von den jeweiligen Landesparteitagen in Neuss und Köln verabschiedet werden. Schon in der nächsten Woche könnte die gefühlte Ministerpräsidentin dann ganz real Regierungschefin im Düsseldorfer Landtag werden.

Handlungsschnelligkeit gegen Schwarz-Gelb …

Dass sich Hannelore Kraft mit ihrer - für viele Beobachter unausweichlichen - Entscheidung zu viel Zeit ließ, liegt auf der Hand. Doch die Konkurrenz konnte die Denkpause der Sozialdemokraten nicht zu ihren Gunsten nutzen. Im Gegenteil: Auf Seiten der bisherigen Landesregierung, die nach dem Scheitern der Sondierungsgespräche im Mai und Juni geschäftsführend im Amt bleiben musste, machten sich Auflösungserscheinungen breit.

Die FDP, die nach dem herausragenden Ergebnis bei der Bundestagswahl 2009 in Richtung Fünf-Prozent-Hürde absackte, bemühte sich am Ende auch noch mit SPD und Grünen um den Erhalt der schmalen Machtpositionen, musste dann aber einsehen, dass ihre programmatische Ausrichtung offenbar nicht mehr konsensfähig war.

Im Vergleich zur CDU ging es für die Liberalen freilich noch glimpflich ab. Die Union verlor nicht nur die Wahl, sondern auch ihren in den eigenen Reihen vergleichsweise unangefochtenen Landesvorsitzenden und Ministerpräsidenten, der kein Interesse mehr daran hatte, sich einer zermürbenden Abstimmung zu stellen und die Partei mittel- oder langfristig wieder aus dem Stimmentief zu führen.

Als es um seinen Fahrer, den Dienstwagen, die Sekretärin und das Büro ging, zeigte sich Jürgen Rüttgers anhänglicher. Nach dem Willen der Staatskanzlei sollte der zurücktretende Regierungschef die Privilegien eines Ministerpräsidenten bis zum Ende der laufenden Legislaturperiode im Jahr 2015 nutzen dürfen. Der Bund der Steuerzahler Nordrhein-Westfalen, der bereits moniert hatte, dass die Düsseldorfer Minister nach fünf Jahren Amtszeit ab dem 60. Lebensjahr eine monatliche Pension von 4.047 Euro beziehen, protestierte energisch und erfolgreich. Rüttgers stehen die gewünschten Accessoires für „nachwirkende Aufgaben“ nur noch ein Jahr zur Verfügung.

Für seine Partei fangen die Probleme gerade erst an. Ihre Bandbreite reicht von der kontroversen Nachfolgedebatte, die am Dienstag mit der Wahl von Noch-Sozialminister Karl-Josef Laumann zum neuen Fraktionsvorsitzenden nicht endgültig beantwortet sein muss. Neben Laumann fühlten sich auch sein Gegenkandidat Armin Laschet und Generalsekretär Andreas Krautscheid grundsätzlich für höhere Aufgaben berufen.

Dabei vertritt die nordrhein-westfälische CDU-Prominenz durchaus unterschiedliche, mitunter kaum zu vereinbarende Positionen. So distanzierte sich der geschäftsführende Integrationsminister Armin Laschet am Montag unmissverständlich von der strategischen Ausrichtung seines ehemaligen Vorgesetzten Jürgen Rüttgers:

Ich weiß aus Gesprächen in den Kreisverbänden, dass das Image der CDU als Arbeiterpartei nicht bei allen Begeisterung ausgelöst hat.

Armin Laschet

Wichtiger noch erscheint die Notwendigkeit einer inhaltlichen Neuausrichtung. Eines der zentralen Wahlkampfthemen ging schließlich komplett an der Union vorbei: Viele Wählerinnen und Wähler konnten nicht nachvollziehen, warum sich die CDU in der Schulpolitik grundlegenden Erkenntnissen der neueren Bildungsforschung verweigerte und lieber auf ideologische Standardpositionen zurückzog. Ähnliches galt für die Wirtschafts- und Energiepolitik, und auch wenn durch die Gespräche der letzten Wochen Bewegung in festgefahrene Sichtweisen gekommen sein mag, liegt vor der NRW-Union vermutlich noch ein weiter Weg.

Für Rot-Grün kann diese Selbstfindungsphase zum entscheidenden Vorteil werden. Welche politischen Projekte sie umsetzen, ist dabei nicht zwingend von Belang. Allein der Umstand, dass zwei Parteien aktiv werden, während andere an widerstreitenden Strategien mit zweifelhaftem Ausgang arbeiten, dürfte ihnen bei vielen Wählerinnen und Wählern Pluspunkte einbringen.

… und die Konkurrenz im linken Lager

Nach einem vierstündigen Meinungsaustausch wurde die Idee einer rot-rot-grünen Koalition im Mai verworfen. An der Linkspartei, die nicht ganz zu Unrecht von "Scheinsondierungsgesprächen" sprach, klebt seitdem das Etikett "nicht regierungsfähig". Überdies attestierten SPD und Grüne dem nordrhein-westfälischen Landesverband schwerwiegende Probleme mit der Demokratie und der DDR-Vergangenheit seiner ostdeutschen Vorgängerpartei.

Unter dem Einfluss der Bundespolitik wurde das Konfliktpotenzial in den vergangenen Wochen noch einmal erhöht. In der Bundesversammlung konnten sich SPD, Grüne und Linke nicht auf einen gemeinsamen Kandidaten einigen, verpassten so die Chance, die schwarz-gelbe Regierung weiter zu schwächen, und lieferten sich anschließend einen bizarren öffentlichen Schlagabtausch.

Die Linke lässt kaum etwas unversucht, um die zielsicher gestreuten Vorurteile durch geschichtsblinde Vergleiche und tumbe Kommentare zu untermauern (Dank an die Stasi). Zuletzt verstieg sich der europapolitische und mittelstandspolitische Sprecher der Bundestagsfraktion Dieter Dehm zu einem Vergleich zwischen den Präsidentschaftskandidaten Gauck und Wulff auf der einen und Hitler und Stalin auf der anderen Seite, den er anschließend mit der "inquisitorischen Zumutung eines Springerjournalisten" begründete und in der zitierten Form überhaupt nicht angestellt haben wollte.

Wenn die Protagonisten des demokratischen Sozialismus auf diesem Niveau weiterarbeiten, dürfte es Rot-Grün zunehmend leichter fallen, das eigene Zweierbündnis als einzige ernstzunehmende Alternative zu Schwarz-Gelb zu präsentieren. SPD und Grüne verfolgen mit der Nominierung von Joachim Gauck denn auch erkennbar das gleiche Ziel wie mit der Bildung einer Minderheitsregierung in Nordrhein-Westfalen. "Es geht auch ohne Linkspartei", lautet die Botschaft für die Wählerinnen und Wähler, die in den kommenden Wochen und Monaten vermutlich bis zur allseitigen Erschöpfung verkündet wird.

Die Wahrheit sieht bis auf weiteres allerdings anders aus. Ohne die Stimmen der Linkspartei gab es keinen Bundespräsidenten Gauck - und ohne die Stimmen oder die Enthaltung der Linkspartei gibt es auch keinen "Politikwechsel" in Nordrhein-Westfalen.

Entsprechend selbstbewusst gibt sich der Landesverband, der eine Wahl von Hannelore Kraft und die Verabschiedung "gemeinsamer" Projekte nicht verhindern, aber auch nicht als willfähriger Mehrheitsbeschaffer fungieren will.

Wir werden dem Versuch eines Politikwechsels durch SPD und Grüne nicht im Wege stehen. Wir werden allerdings dem Konstrukt einer Minderheitsregierung nicht zu eigenständigen Mehrheiten in parlamentarischen Gremien verhelfen, wenn damit grundlegende demokratische Regeln missachtet werden.

Die Linke – NRW

Schließlich erhebt die Partei, die in Nordrhein-Westfalen mittlerweile immerhin 9.000 Mitglieder zählt, nun ihrerseits einen Alleinvertretungsanspruch auf linke Positionen und eine verlässliche Marschroute zum Idealzustand sozialer Gerechtigkeit.

SPD und Grüne haben während des Wahlkampfes, gleich danach und während des Scheinsondierungsgespräches mit der LINKEN von Wahlversprechen Abstand genommen und wollen sie in der Regierung "einem Realitätscheck" unterziehen. Auch deshalb können und werden wir dieser Koalition keine Blankoschecks ausstellen! SPD und Grüne brauchen Druck von LINKS – damit es in diesem Land gerechter zugeht!

Die Linke – NRW

Was bringt Rot-Grün?

Es gab Zeiten, da Rot-Grün als reformfreudiges Erfolgsmodell auf Bundes- und Länderebene galt. Doch die siebenjährige Regierungszeit in Berlin stand eben nicht im Zeichen eines bürgerfreundlichen, ökonomisch plausiblen und sozial ausgewogenen "Politikwechsels". Stattdessen verschärften SPD und Grüne die neoliberalen Ansätze der späten Kohl-Ära, verloren - vor allem auf Seiten der Sozialdemokraten - Millionen Stimmen am linken Rand und fütterten damit einen Konkurrenten, der den günstigen Moment schnell erkannte und sich von den ostdeutschen Bundesländern auf die gesamte Republik ausdehnte.

Um wenigstens einen Teil des verspielten Kredits und politische Kernkompetenzen zurückzugewinnen, braucht insbesondere die SPD eine inhaltliche Kurskorrektur und ein Regierungsprogramm, das ihre Befähigung, noch einmal Motor der gesellschaftlichen Entwicklung zu werden, überzeugend dokumentiert.

Parteichef Sigmar Gabriel möchte zu diesem Zweck die "neue Mitte" gern wieder gegen die "alte Mitte" eintauschen, doch das aktuelle Beispiel Nordrhein-Westfalen zeigt zum wiederholten Male, dass mit Absichtserklärungen noch kein Staat zu machen ist.

Da hilft es wenig, dass zentrale Wahlversprechen wie die Abschaffung der Studiengebühren, die Finanzspritze für Städte und Gemeinden, die Verabschiedung eines Stadtwerke-Rettungsgesetzes oder die verbesserte Gesundheitsvorsorge für Migrantenkinder oder Behinderte eingehalten werden sollen.

Allein die Rücknahme der Campusmaut schlägt jährlich mit 250 Millionen Euro zu Buche, die aus dem Landeshaushalt ergänzt und so andernorts eingespart werden müssen. Die Maßnahmen zur Verbesserung der frühkindlichen Bildung kosten ebenfalls rund 250 Millionen Euro, das Rettungspaket für die Kommunen umfasst weit mehr als das Doppelte. Nach Angaben der künftigen Regierung müssen zudem Fehlplanungen des Finanzministers Helmut Linssen (CDU) korrigiert werden, der deutlich höhere Ausgaben vorgesehen habe als im Etatplan angegeben wurden.

Rot-Grün wird die Neuverschuldung noch in diesem Jahr um mindestens eine Milliarde Euro erhöhen, die allerdings in den nächsten Jahren wieder eingespart werden soll.

Ein großer Wurf mit grundlegender Strukturreform sieht vermutlich anders aus. Der Neubau fossiler Kraftwerke wird bei allem Vorrang für erneuerbare Energien nicht ausgeschlossen, und selbst das Prestigeprojekt Gemeinschaftsschule startet mit behelfsmäßigen Notlösungen. Die Säulen des dreigliedrigen Schulsystems bleiben erhalten. Zusätzliche Lehrkräfte sollen nicht eingestellt werden, stattdessen plant die potenzielle Regierung, Pädagogen aus Gymnasien, Haupt- oder Realschulen zu versetzen oder - wie es im Koalitionsvertrag heißt - in die Gemeinschaftsschule "einzuladen".

Ein namenloser "Verhandlungsteilnehmer" erklärte gegenüber der örtlichen Presse zu Protokoll: "Das ist neu, bislang gab es für neue Projekte immer auch neues Personal." Peter Silbernagel, Vorsitzender des Philologen-Verbands NRW wurde noch deutlicher: "Einen klareren Offenbarungseid in der Schulpolitik kann man sich kaum vorstellen. Rot-Grün versucht offenbar, die Lehrer für dumm zu verkaufen."

Regierung auf Zeit?

Gesetzt den Fall, die neue Minderheitsregierung stolpert nicht schon über ihre eigene Wahl, scheint es doch unwahrscheinlich, dass sich SPD und Grüne mit dem geplanten Hilfskonstrukt über die komplette Legislaturperiode retten können. Spätestens bei der Verabschiedung eines neuen Haushalts braucht die Wunschkoalition eine absolute Mehrheit und somit Stimmen von CDU, FDP oder Linkspartei. Und das nicht nur im Jahr 2010. Kein Wunder also, dass der neue Koalitionsvertrag um eine möglichst breite Zustimmung jenseits der eigenen Parteigrenzen wirbt.

Wir laden die Bürgerinnen und Bürger, die gesellschaftlichen Gruppen, Vereine und Verbände, die Gewerkschaften und die Unternehmen genauso wie die Kirchen und die Religionsgemeinschaften ein, diesen Weg mit uns zu gehen. Diese Einladung richten wir ausdrücklich auch an die anderen Parteien und Fraktionen des Landtages.

Koalitionsvertrag SPD/Grüne – NRW

Nordhrein-Westfalen wird den Parteien demnach weit über den Wahltag hinaus Gelegenheit bieten, die Chancen und Grenzen eines Fünf-Parteien-Systems auszuloten und Präzedenzfälle für die gesamte Republik zu generieren. Dass dieses Experiment eines - vielleicht nicht allzu fernen - Tages mit überraschend anberaumten Neuwahlen endet, ist keineswegs ausgeschlossen.