Die Oppositionsregierung

Enthaltung im Bund, Machtverzicht in Nordrhein-Westfalen: Die eigenwillige Strategie der SPD

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Sie könnte ein Bündnis mit Linkspartei und Grünen, FDP und Grünen oder eine Große Koalition bilden, aber auch eine Minderheitsregierung mit den Grünen durchsetzen. Doch die nordrhein-westfälische SPD lässt sämtliche Optionen ungenutzt. Hannelore Kraft will aus der Opposition für den viel zitierten Politikwechsel sorgen.

Die SPD habe seit der Landtagswahl am 9. Mai "an Glaubwürdigkeit gewinnen können", stellte Hannelore Kraft nach den gescheiterten Sondierungsgesprächen mit der FDP fest, denen ebenso ergebnislose Annäherungsversuche mit Linkspartei und CDU vorangegangen waren.

Keine Dienstwagen, keine Ministersessel

Den inhaltlich klar positionierten Genossen, die sich für umfassende Bildungsreformen, eine Neuordnung der Gemeindefinanzen oder die Stärkung von Mitbestimmungsrechten eingesetzt hätten, sei es eben "nicht um Ministersessel und Dienstwagen, sondern um eine bessere Politik für das Land" gegangen.

Nun soll die Gestaltungsfähigkeit des Parlaments auf die Probe gestellt werden. Die SPD will Gesetzentwürfe in den nordrhein-westfälischen Landtag einbringen und sich dafür notfalls wechselnde Mehrheiten suchen. Neben der angekündigten Abschaffung der Studiengebühren stehen Neuregelungen zur Mitbestimmung im öffentlichen Dienst auf dem Programm. Auch die Gemeindeordnung und das Mietrecht sollen kurzfristig verändert werden. Der neue Kurs der Genossen wurde kurzfristig von vier Regionalversammlungen und am vergangenen Montag auch vom Landesparteirat abgesegnet.

"Dafür haben wir Mehrheiten, dafür brauchen wir nicht einmal die Linken", meinte Kraft, deren Rechenexempel freilich nur dann aufgeht, wenn ihr die Linkspartei keine Hindernisse in den Weg legt. Zwar verfügen SPD und Grüne über zehn Stimmen mehr als die nun geschäftsführende schwarz-gelbe Landesregierung. Doch wenn der in gerade einmal vier Stunden schnöde abgewiesene und offenkundig enttäuschte Sondierungsgesprächspartner aus taktischen Gründen die Seiten wechselt, ist jedes Projekt zum Scheitern verurteilt.

Noch sieht es nicht so aus, denn die LINKE setzt trotz aller Differenzen und persönlichen Animositäten weiter auf eine rot-rot-grüne Kooperation. Der Landessprecher und Fraktionsvorsitzende Wolfgang Zimmermann erneuerte am Wochenende sein Gesprächsangebot. Außerdem sei seine Fraktion bereit "eine Minderheitsregierung von SPD und Grünen bei gemeinsamen Inhalten zu stützen".

Modellfall Hessen

Augenfällige Parallelen zwischen der aktuellen Situation der nordrhein-westfälischen SPD und der Lage der hessischen Genossen im Jahr 2008 drängten sich in den vergangenen Wochen immer wieder auf. (siehe Ypsilanti, die zweite?). Auch für Hannelore Kraft schien ein Bündnis mit der Linkspartei, das sie vor der Wahl betont unwirsch ausgeschlossen hatte, plötzlich ein probates Mittel zu sein, den knappen Stimmenvorsprung der CDU einzuschmelzen und selbst die Regierungsgeschäfte zu übernehmen.

Die Begründung dieser Kehrtwende fiel um einiges klüger und souveräner aus als der unbeholfene Machtpoker der Kollegin Ypsilanti, doch der Verlauf der Sondierungsgespräche verwirrte so manches Erklärungsmuster, das noch gebraucht werden könnte. Wenn eine angeblich nicht regierungs-, ja kaum demokratiefähige Partei nach wenigen Stunden aus dem Kreis der möglichen Koalitionspartner gestrichen wird, dürfte es schwierig werden, sie im Bedarfsfall als Idealbesetzung für die Tolerierung einer Minderheitsregierung zu präsentieren.

Hessen bietet allerdings auch einen Modellfall für das in vielen Kommunen durchaus taugliche Vorhaben, parlamentarische Mehrheiten auf Länderebene zu organisieren. Noch vor dem gescheiterten Versuch, Andrea Ypsilanti zur Ministerpräsidentin zu machen, setzten SPD, Grüne und Linke die Abschaffung der Studiengebühren gegen den Willen einer geschäftsführenden Landesregierung durch. Überdies wurde die Anstellung von zusätzlich 1.000 Referendaren an den Schulen des Landes beschlossen.

Doch schon beim neuen Abgeordnetengesetz zerbrach das linke Interessenbündnis, und als Finanzminister Karlheinz Weimar (CDU) Anfang Juli eine Haushaltssperre verhängte, stieß der Aktionsspielraum der auf den Oppositionsbänken festsitzenden Politikwechsler erneut an seine Grenzen.

"Zu defensiv und nicht zu Ende gedacht"

Die Grünen haben jedenfalls keine guten Erinnerungen an die hessischen Verhältnisse und machten in Nordrhein-Westfalen nach den gescheiterten Vorgesprächen zur ungeliebten Ampel-Koalition abweichende Ansichten deutlich. Nachdem ihre Verhandlungsführerin wochenlang die dienstbeflissene Chefsekretärin für die große Vorsitzende des gemeinsamen Reformprojekts gespielt hatte, übte sich Sylvia Löhrmann mit den Landesvorsitzenden Arndt Klocke und Daniela Schneckenburger am Sonntag im offenen Widerspruch.

Die Pläne der SPD seien "zu defensiv und nicht zu Ende gedacht", heißt es in einem Brief an die Partei, der vor allem moniert, dass der mutmaßliche Wunschpartner, mit dem übrigens gar keine Koalitionsgespräche geführt werden konnten, "die zentrale Rolle der Landesregierung bei den anstehenden wichtigen Bundesratsentscheidungen außer acht" lässt.

Der von schwarz-gelb geplante Sozialabbau des Sparpakets und die Verlängerung der Laufzeiten der Atomkraftwerke ist so nicht zu verhindern. Wir haben Verständnis dafür, dass Hannelore Kraft enttäuscht ist, nachdem sie fast alles versucht hat. Das kann aber nicht das letzte Wort von Hannelore Kraft und ihrer SPD sein. Wir sind überzeugt, dass man genau prüfen muss, ob man die schwarz-gelbe Minderheitenregierung, die jetzt noch ohne Mehrheit und Legitimation im Amt ist, durch eine rot-grüne Minderheitenregierung, die am 9. Mai von den WählerInnen gewählt wurde, ablösen kann.

Grüne NRW: Brief an die Partei, 13. Juni 2010

Zwei Tage später sprach Löhrmann gar von einem "Förderprogramm für Politikverdrossenheit", und für die grüne Bundespartei, deren Umfragewerte sich offenbar recht stetig der 20 Prozent-Marke nähern, steht ohnehin außer Frage, dass sich die SPD nicht zum "Steigbügel für das unsoziale Sparpaket und die Atompläne der Regierung Merkel" machen darf.

Die SPD muss sich aus ihrer Schockstarre über die Verweigerung von Linkspartei und FDP lösen und für den versprochenen Politikwechsel in Nordrhein-Westfalen sorgen

Claudia Roth

Sigmar Gabriel sieht das offenbar ähnlich. Wenn die wichtigen Entscheidungen im Bundesrat anstünden, müsse in Nordrhein-Westfalen neu über eine Regierungsbildung geredet werden, gab der SPD-Chef zu bedenken. Man darf gespannt sein, wie die grüne Basis die Gesamtlage beurteilt. Am kommenden Samstag tagt die Landesdelegiertenkonferenz der Bündnisgrünen in Neuss.

"Derzeit" keine SPD-Regierung

Nach dem klaren Jein, mit dem die SPD auf die Verabschiedung der letzten milliardenschweren Hilfspakete im deutschen Bundestag reagierte, verzichtet sie nun also vorerst auf die Machtoptionen in Nordrhein-Westfalen und damit gleichzeitig auf die Möglichkeit, über den Bundesrat wieder weitreichende Gestaltungsmöglichkeiten zu gewinnen. Ob dieses eigenwillige Vorgehen tatsächlich auf inhaltliche Gründe zurückzuführen ist, darf allerdings bezweifelt werden.

Der Vergleich der Wahlprogramme von SPD, Grünen und Linken weist zahlreiche Gemeinsamkeiten auf (siehe Machtpoker in Nordrhein-Westfalen), daneben signalisierte auch die CDU Zugeständnisse in einem Umfang, der den nahezu gleichstarken Koalitionspartnern wohl annähernd entsprochen hätte. Noch am Freitag will Generalsekretär Andreas Krautscheid der SPD erneut "modifizierte inhaltliche Positionierungen" übermittelt haben, auf deren Basis "eine gemeinsame, stabile Politik" seiner Einschätzung nach möglich gewesen wäre. Die strikte Ablehnung der Genossen löste denn auch bei der geschäftsführenden Landesregierung einiges Rätselraten aus.

Nach fünf Wochen Sondierungsgesprächen, vielstündigen Sondierungsrunden und Gremiensitzungen stellen die SPD und Hannelore Kraft fest, dass mit keiner anderen Partei in NRW eine ausreichende, mehrheitsfähige Gesprächsbasis vorhanden ist.

Andreas Krautscheid (CDU)

Niemand möchte die SPD nötigen, um jeden Preis die Regierungsgeschäfte zu übernehmen. Doch die Konsequenzen, die sich aus der Realität des Fünf-Parteien-Systems ergeben, könnte sie wenigstens zur Kenntnis nehmen. Mit Nadelstichen und Einzelprojekten werden die Genossen kaum zu alter Stärke zurückfinden, auch wenn so manches Manöver dieser Tage, so etwa die Nominierung von Joachim Gauck zum rot-grünen Bundespräsidentschaftskandidaten, durchaus von politischem Raffinement zeugt.

Doch für eine Volkspartei, die angetreten ist, das soziale und gesellschaftliche Klima in diesem Land zu verändern und einen grundlegenden Politikwechsel herbeizuführen, reicht das nicht aus. Von ihr erwarten die Wählerinnen und Wähler ein klar strukturiertes Programm und ein Mindestmaß an Macht- und Gestaltungswillen, ohne den sich die zuletzt gern und oft zitierten "Inhalte" nun einmal nicht umsetzen lassen.

Der Versuch, dem am Wahlsonntag demontierten Jürgen Rüttgers nun den Schwarzen Peter zuzuschieben, ist freilich mehr als ein albernes Possenspiel, denn der SPD fehlt die inhaltliche und personelle Kontur, die sie selbst zum überzeugenden Handlungsträger machen könnte. Innerhalb der eigenen Partei sind viele Fragen ungeklärt, allen voran der Umgang mit der Ära Gerhard Schröder und den entsprechenden Altlasten im Umkreis der Agenda 2010. Doch auch in den Bereichen der Wirtschafts-, Energie- und Umweltpolitik ist - gerade in Nordrhein-Westfalen - noch keineswegs geklärt, wie und wo sich die Genossen zwischen den mal ambitionierten, mal exzentrischen Positionen der linken und grünen Mitbewerber aufstellen wollen.

Folgerichtig spielt die SPD auf Zeit - in der womöglich trügerischen Hoffnung, die schwarz-gelben Koalitionen in Berlin und Düsseldorf schrittweise zermürben oder der noch bequemeren Selbstzerstörung überlassen zu können. "Derzeit" stehe eine Minderheitsregierung nicht zur Debatte, wollte Hannelore Kraft festgestellt wissen. Wenn das Sparpaket und die Verlängerung der Laufzeiten für Atomkraftwerke den Bundesrat passieren, werden sich die Sozialdemokraten neu sortieren - oder in kaum lösbare Erklärungsnöte geraten.

Schwarz-Gelb und ein Botschafter für die Soziale Marktwirtschaft

Während Beobachter allerorten über ein vorzeitiges Ende der schwarz-gelben Bundesregierung spekulieren, ist ihr 2005 in Nordrhein-Westfalen gewählter Prototyp bereits Geschichte. Der Versuch, das sogenannte "bürgerliche Lager" zum bestimmenden politischen Faktor zu machen, scheiterte jedoch nicht nur an dünnen, sozial unausgewogenen Konzepten und einem Personalangebot, das mit dem zuletzt viel gebrauchen Adjektiv "suboptimal" halbwegs korrekt beschrieben werden kann.

CDU und FDP haben sich offenkundig längst vom gemeinsamen Projekt verabschiedet und suchen nun - unabhängig voneinander - nach neuen Koalitionspartnern und erfolgversprechenden Machtstrategien. Jürgen Rüttgers begann damit weit vor dem 9. Mai; Andreas Pinkwart, der eine Zusammenarbeit mit SPD, Grünen und Linken zunächst kategorisch ausgeschlossen hatte, zog anschließend nach, um seine Partei nach alter FDP-Tradition auf der Regierungsbank oder doch wenigstens im Gespräch zu halten.

"Ich hatte bei Frau Kraft das gute Gefühl, dass sie einen Anlauf nehmen wollte", ließ Pinkwart anschließend verlauten. Er wollte die Sondierungsgespräche durchaus als Signal verstanden wissen, die in vielerlei Hinsicht einseitige Bindung an die CDU zu überdenken.

Es ist auf jeden Fall ein Signal der Offenheit den anderen Parteien gegenüber, gerade auch der SPD. Ich halte das auch für dringend notwendig, dass die demokratischen Parteien untereinander gesprächsfähiger werden, gerade in einem Fünf-Parteien-System, in dem, wie wir es jetzt hier in Nordrhein-Westfalen gesehen haben, Zweierkonstellationen es schwer haben, auch Mehrheiten zu erringen, (...) Das erwarten die Bürgerinnen und Bürger zurecht von uns. Insofern ist es gut, wenn gerade auch die FDP als Gestaltungskraft in der politischen Mitte ihren Beitrag dazu leistet.

Andreas Pinkwart

Vor diesem Hintergrund bleibt abzuwarten, ob sich auch in Nordrhein--Westfalen Liberale finden, die dem schwarz-gelben Präsidentschaftskandidaten Christian Wulff in der Bundesversammlung die Gefolgschaft verweigern. Der Landesvorstand der FDP hat dazu am 6. Juni einen "Beschluss" veröffentlicht, in dem interessanterweise nicht beschlossen, sondern nur begrüßt und beschrieben wird.

Deutschland zeichnet aus, dass sich stets exzellente Persönlichkeiten um das Amt des Bundespräsidenten bewerben. Die FDP-NRW begrüßt, dass FDP und CDU/CSU den amtierenden niedersächsischen Ministerpräsidenten Christian Wulff als gemeinsamen Kandidaten für das Amt des Bundespräsidenten nominieren.

Christian Wulff zeichnen langjährige Erfahrung, ein ausgleichender Auftritt und wirtschaftliche Kompetenz aus. Damit ist Christian Wulff im In- und Ausland ein überzeugender Botschafter für die Soziale Marktwirtschaft.

Landesvorstand der FDP Nordrhein-Westfalen