Machtpoker in Nordrhein-Westfalen

Große Koalition oder Neuwahlen - die Optionen scheinen begrenzt zu sein

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Der Hosenanzug ist nicht ganz knitterfrei, der Himmel über Düsseldorf leicht bewölkt. Doch die Frau, die für die Feiertagsausgabe einer großen Boulevardzeitung am Rheinufer Modell steht, hat ein klares Ziel: Hannelore Kraft, SPD-Spitzenkandidatin in Nordrhein-Westfalen und seit nunmehr zwei Wochen gefühlte Wahlsiegerin, möchte Ministerpräsidentin werden. Artig nimmt sie gleich zu Beginn des Interviews ein "Wort des Dankes" entgegen. Die unvoreingenommen Journalisten loben die "Klarheit", mit der Kraft vor wenigen Tagen die mögliche Regierungsbeteiligung der Linkspartei "vom Tisch gewischt" hat: "Denn Nicht-Demokraten dürfen in diesem Land keine Macht bekommen!"

So wie es aussieht, werden in Nordrhein-Westfalen aber auch FDP und Grüne nicht an der Regierung beteiligt. Die Liberalen verbauten sich eine Ampelkoalition (die vor der Wahl kategorisch ausgeschlossen wurde, nach dem 9. Mai aber plötzlich wieder zur Debatte stand) mit dem bizarren Versuch, den potenziellen Koalitionspartnern ein Gesprächsverbot mit der Linkspartei aufzudrängen. Dass die FDP es sich noch einmal überlegt und auf der Glaubwürdigkeitsleiter unverdrossen weiter nach unten rutscht, kann keineswegs ausgeschlossen werden, gilt derzeit aber auch nicht als besonders wahrscheinlich.

Den Grünen blieb damit nur das ungeliebte Linksbündnis, sie kamen nach dem kurzen Sondierungstreffen Mitte letzter Woche aber offenbar zum gleichen Ergebnis wie die SPD. Mit der Linken sei ein "verlässliches Regierungshandeln" nicht möglich, es gebe kein "gemeinsames Demokratieverständnis" und überdies grundlegende Differenzen bei den Themen Verfassungsschutz und Haushaltspolitik.

Schade, aber so tragisch nun auch wieder nicht - in diesem Tenor schrieben die Vorsitzenden einen Brief an ihre Partei, die sich angesichts ihres sensationellen Ergebnisses von 12,1 Prozent nicht allzu weit aus dem Fenster lehnen möchte. Wer weiß schon, wann das nächste Mal gewählt wird?

Der Ball liegt jetzt im Feld von SPD und CDU. Sollte es zu einer Großen Koalition kommen, machen wir, was wir gut können: eine offensive, fundierte Oppositionspolitik mit einer deutlich gestärkten Grünen Fraktion. Wir streiten weiter für mehr Bildungsgerechtigkeit, eine Energiewende und handlungsfähige Kommunen.

Sylvia Löhrmann, Daniela Schneckenburger und Arndt Klocke (Grüne NRW)

Am Donnerstag will die SPD nun Sondierungsgespräche mit der CDU führen. Die Zeit drängt, denn am 23. Juni soll im Düsseldorfer Landtag die neue Ministerpräsidentin oder der neue Ministerpräsident gewählt werden. Hannelore Kraft hat das Datum auf ihrer Homepage unter "Meine Termine" an die erste Stelle gesetzt. Scheitern die Verhandlungen zwischen den beiden stärksten Parteien ebenfalls, dürften Neuwahlen die einzige Option sein.

Der lange Schatten der DDR oder: "Politische Integrationsaufgaben"

Wenn die innenpolitische Sprecherin der Linken im Bundestag in einem Grußwort an ehemalige Stasi-Mitarbeiter vor einer "Dämonisierung der DDR und insbesondere des MfS" warnt, haben ihre Parteifreunde in ganz Deutschland ein veritables Imageproblem (Dank an die Stasi). Darüber hinaus kann kaum ernsthaft bestritten werden, dass der nordrhein-westfälische Landesverband in kurzer Zeit Linke aller Art und Couleur in die politische Arbeit einbezogen und damit wissentlich Probleme heraufbeschworen hat, die auch in anderen Bundesländern schon vor Jahren zu beobachten waren (Unliebsame Genossen).

Andererseits sind SPD und Grüne wohlweislich die Erklärung schuldig geblieben, was genau die DDR und ihre ewiggestrigen Fähnchenträger mit der Regierungsbildung in Nordrhein-Westfalen zu tun haben. Oder warum eine Koalition mit der Linkspartei in Berlin und Brandenburg trotz allem möglich ist und in Hessen zumindest denkbar gewesen wäre. Die nordrhein-westfälische Linkspartei bestreitet jedenfalls vehement, sich von den Ereignissen im Osten Deutschlands nicht klar genug distanziert zu haben.

Wir haben mehrfach erklärt, dass die DDR kein demokratischer Rechtsstaat, sondern eine Diktatur war. DIE LINKE war auch bereit, eine gemeinsame Erklärung als Präambel zu einem Koalitionsvertrag zu vereinbaren, in der analog des SPD-LINKEN-Koalitionsvertrages in Brandenburg diese Haltung unmissverständlich klargestellt wird.

Die LINKE NRW

Das Mantra der Nicht-Regierungsfähigkeit, das übrigens auch vom eigenen, nunmehr ehemaligen Bundesgeschäftsführer Dietmar Bartsch nachgebetet wurde, kann unter diesen Umständen durchaus als rot-grüne Variante der "Rote-Socken-Kampagne" verstanden werden, die der unvergessene CDU-Generalsekretär Peter Hintze 1994 ins Leben rief.

Die Botschaft ist klar: Wer nicht regierungsfähig ist und schon beim ersten Sondierungsgespräch zum politischen Nachhilfeunterricht geschickt werden muss, gehört eigentlich auch nicht in den Landtag. Die Grünen, die einst selbst aus der außerparlamentarischen Opposition kamen, würzten diesen Befund mit dem gönnerhaften Attest allemal bedauerlicher Erfahrungsdefizite.

Die Linke hat sich nicht auf ihre Rolle als Parlamentsfraktion vorbereitet. Sie kommt aus der außerparlamentarischen Opposition, ihr fehlen grundlegende Kenntnisse der Landespolitik. Auch das hat zu den grundlegenden Zweifeln an einer Regierungsfähigkeit der Linken beigetragen.

Sylvia Löhrmann, Daniela Schneckenburger und Arndt Klocke (Grüne NRW)

In ähnlicher Weise hatte der frühere SPD-Bundestagsabgeordnete Reinhard Schulz nach der Landtagswahl in Hessen vor einer "Zusammenarbeit mit der postkommunistischen Linkspartei" gewarnt. Der mögliche Koalitionspartner werde dadurch "eher gestärkt als bekämpft" und "nach links abgewanderte Wähler" könnten ohnehin nicht zurückgeholt werden. Schultz empfahl seinen Genossen im Januar 2009 gegebenenfalls die schrittweise "Vernichtung" der störenden Konkurrenz.

Die Option "Linkspartei" kann nur in Frage kommen, wenn diese über mehrere Jahre zuverlässig den Nachweis der Demokratie-Treue, der außenpolitischen Bündnistreue und des politischen Realismus abgelegt hat. Oder: Die SPD bekämpft die Linkspartei und vernichtet sie Schritt für Schritt. Auch die NPD saß bereits Ende der 60er/Anfang der siebziger Jahre in etlichen Landtagen (in Westdeutschland). Die CDU ist mit dieser Herausforderung trotz aller Versuchungen (Die Wahl des CDU-Bundespräsidenten Carl Carstens erfolgte mit Stimmen der NPD.) sehr gut fertig geworden. Sie hat als eher rechte Volkspartei politische Integrationsaufgaben am rechten Rand. Die SPD hat dieselbe Aufgabe am linken.

Reinhard Schulz, SPD-Bundestagsabgeordneter im Januar 2009

Phantom Politikwechsel

Hannelore Kraft steht also am Rheinufer und möchte Ministerpräsidentin werden. Was sie dann genau beabsichtigt, bleibt allerdings so unklar wie die mutmaßliche Skyline der nordrhein-westfälischen Landeshauptstadt, die sich im Bildhintergrund auf die Größe einer Weltstadt emporzurecken versucht. Vor der Wahl konnten sich die Konkurrenten im linken Lager wenigstens auf die Beschwörung eines "Politikwechsels" einigen, für den die Linkspartei "etwa 80 Prozent Überschneidungen" in den vorgestellten Wahlprogrammen sah.

Weitgehend zu Unrecht, denn seit dem Debakel bei der Bundestagswahl 2009 besteht das Programm der SPD aus einer Grauzone, in der die - in diesem politischen Spektrum nie angedachte - Nibelungentreue zu Altkanzler Gerhard Schröder, seiner Agenda 2010 und dem fortschreitenden Abbau des Sozialstaats ebenso möglich ist wie deren genaues Gegenteil. Hannelore Kraft mochte in den vergangenen Monaten ebenso wenig Position beziehen wie ihr Bundesvorsitzender Sigmar Gabriel oder der geduldete Ex-Hoffnungsträger Frank-Walter Steinmeier.

Die persönlichen Erfolgsgeschichten stehen im Vordergrund, auch wenn es grundsätzlich schön wäre, von offizieller Seite mehr Unterstützung zu bekommen. Falls das nicht geht, klappt es bei den SPD-Oberen aber auch so.

Meine Eltern konnten mir kaum Bildung bieten, dafür umso mehr Liebe und Zuneigung. Wir lebten in einfachen Verhältnissen - wenige Bücher, keine Kunst und Kultur. (…) Wenn es das Angebot einer Ganztagsbetreuung damals gegeben hätte - ich hätte es gerne wahrgenommen. Es hätte vieles in der Schule leichter gemacht. (…) Bei manchem Lehrer hat man klar gespürt, dass der Sohn von Herrn Doktor oder die Tochter von Herrn Professor einfach keine schlechtere Note bekommen konnte, als die Hannelore aus Dümpten. (…) Aber unterkriegen lassen war natürlich auch nicht. Also biss ich mich durch. Nicht brillant. Aber immerhin.

Hannelore Kraft

So war er eben, der nordrhein-westfälische Klassenkampf in den 70er Jahren des letzten Jahrhunderts. Hannelore Kraft hat ihn tapfer bestanden und will jetzt einen Politikwechsel. Der sieht - laut Interview vom Wochenende - folgendermaßen aus:

Wir wollen die Studiengebühren abschaffen und durchsetzen, dass die Kinder in NRW künftig länger gemeinsam unterrichtet werden. (…) Das Land muss die Kommunen in ihrer finanziellen Notlage unterstützen. NRW muss wieder Mitbestimmungsland Nummer eins werden und Vorkämpfer sein gegen den Missbrauch bei der Leih- und Zeitarbeit. Für uns ist das gute Arbeit. Und dann kommt noch die ökologische Wirtschafts- und Industriepolitik mit einem klaren Ausbau der erneuerbaren Energien.

Hannelore Kraft

Das ist allzu nicht viel, birgt wenig Neues und dürfte nur bedingt geeignet sein, ernsthafte Verhandlungen mit der CDU platzen zu lassen. Gegen den Missbrauch der Leih- und Zeitarbeit sind schließlich - irgendwie und irgendwann - auch alle anderen Parteien. Gleiches gilt für den Ausbau erneuerbarer Energien. Überflüssig zu erwähnen, dass die geschasste Linkspartei nun genau diese Beliebigkeit der Standpunkte gegen den anvisierten Koalitionspartner in Stellung bringt:

SPD und Grüne wollten nicht über Inhalte reden. Denn dabei wäre klar geworden, dass sie ohnehin vorhaben, von ihren Wahlprogrammen abzurücken. So wurde deutlich, dass sie planen, entgegen der Versprechungen in ihren Programmen den Investmentbereich der WestLB zu privatisieren. Sie wollten außerdem nicht ausschließen, 8.700 Stellen im Landesdienst, die von der Rüttgers-Regierung zum Wegfall vorgesehen sind, zu streichen. Auf die Frage, wie die eigenen Wahlforderungen finanziert werden sollen, wich die SPD aus.

Die LINKE NRW

Unabhängig von der Meinung der Linken werden die Inhalte der Sondierungsgespräche austausch- und verhandelbar sein - vieles oder alles hängt an der Person der künftigen Ministerpräsidentin/des künftigen Ministerpräsidenten.

Und was macht eigentlich Jürgen Rüttgers?

Der Noch-Regierungschef und selbsternannte Arbeiterführer durfte nicht mitspielen, als öffentlich über seine Nachfolge verhandelt wurde. Rüttgers übte sich daraufhin in staatsmännischer Gelassenheit, und die Parteifreunde erholten sich erst einmal vom anstrengenden Wahlkampf der vergangenen Wochen und Monate.

Gut zwei Wochen lang war auf www.cdu-nrw.de keine neue Pressemeldung zu lesen, auf seiner eigenen Homepage gratulierte der Amtsinhaber acht Tage nach dem Wahldebakel immerhin DGB-Chef Michael Sommer zur Wiederwahl.

Auch und gerade in Krisenzeiten gilt es den Zusammenhalt in der Gesellschaft zu wahren. Das geht nur im Schulterschluss mit den Gewerkschaften und den Arbeitgebern. Wirtschaftliche Vernunft und soziale Gerechtigkeit schließen sich nicht aus, sondern sind zwei Seiten derselben Medaille. Lassen Sie uns auch in Zukunft gemeinsam dafür kämpfen!

Jürgen Rüttgers

Nach dem schnellen Ende der Sondierungsgespräche zwischen SPD, Grünen und Linkspartei geschah ebenfalls erstaunlich wenig. Rüttgers beschränkte sich im Wesentlichen auf zwei vollständige Sätze, in denen auch noch der Wahlkampf-Refrain von den "stabilen Verhältnissen" untergebracht werden musste.

Ich begrüße, dass die SPD mein Angebot aus der letzten Woche zu Gesprächen aufgreifen will. Damit besteht die Chance, in Nordrhein-Westfalen zu einer stabilen Regierung zu kommen.

Jürgen Rüttgers

Der Generalsekretär der nordrhein-westfälischen CDU brauchte für seine "Botschaft zur aktuellen politischen Lage" ganze 69 Sekunden. In einem unaufwändigen Video vor hoffnungsvollem Frühlingsgrün kündigte auch Andreas Krautscheid den Versuch an, nun "eine vernünftige, eine stabile Regierungspolitik zu konzipieren", die selbstredend vom alten und neuen Ministerpräsidenten Jürgen Rüttgers gestaltet werden soll.

Auf dieser Personalie scheint - ähnlich wie bei der SPD - das Hauptaugenmerk der Partei zu liegen, die sich schon in den vergangenen Wochen vor einengenden Festlegungen hütete. Eigentlich sollte Schwarz-Gelb fortgesetzt werden, aber auch eine Zusammenarbeit mit den Grünen wurde als realistische Alternative gehandelt, und die Große Koalition geht ohnehin immer. Vor allem, wenn man knapp 6.000 Stimmen mehr vorzuweisen hat als der künftige Regierungspartner und sich mit diesem Vorsprung auf die "Spielregeln der Demokratie" berufen kann.

Inhaltlich spricht - abgesehen von den immerhin gravierenden Differenzen in der Bildungspolitik - wenig gegen eine Große Koalition. Beide Parteien haben keine klare Vorstellung davon, wie sie den gewaltigen Strukturwandel in Nordrhein-Westfalen begleiten oder gar steuern sollen und werden sich schnell darauf einigen können, die nächsten fünf Jahre mit Rezepten und rhetorischen Floskeln aus dem Industriezeitalter über die Runden zu bringen.

An der entscheidenden Personalfrage könnten die Verhandlungen trotzdem scheitern, und dann müssen eben die Restwähler - diesmal vielleicht nur noch die Hälfte aller Stimmberechtigten - für klare Verhältnisse sorgen. Indem sie die FDP oder die Linkspartei oder gleich beide unter die 5-Prozent-Marke drücken und zwischen CDU und SPD einen größeren Sicherheitsabstand schaffen. Die drei im Landtag verbleibenden Parteien würde es freuen. In diesem Fall wäre (fast) alles so wie früher.