Die Ästhetik von Punktlasten

Über Baukultur - und das (mangelnde) Zusammenspiel von Architekt und Ingenieur

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Über "Baukultur" wird in den letzten Jahren sehr viel gesprochen. Sie stellt ein positives Attribut dar, das man allenthalben in Anspruch nimmt. Hinter die Kulissen jedoch guckt man weniger gern. Verständlich, denn was wäre dort schon zu entdecken? Ingenieure, die ihre kulturelle Verantwortung vernachlässigen, Architekten, die elementare Gesetze der Statik nicht kennen, Baufachleute, die weder kommunizieren noch zusammenarbeiten. Sicher, dies befördert nicht eben die Baukunst; doch die kreative Kooperation, die zu einer Integration von Form und Struktur führen sollte, ist schwer zu definieren. Außer dem gegenseitigen Unverständnis und Misstrauen zwischen Architekten und Ingenieuren bedroht vor allem das Streben nach kurzfristiger Gewinnmaximierung im Bauwesen die Daseinsberechtigung beider Disziplinen. Und vor allem: sie erweisen unserer gebauten Umwelt einen Bärendienst.

Die Form folgt der Funktion: Längst hat dieser Satz die scheinbare Selbstverständlichkeit angenommen, der man nur mit einem ironischen Blick, einer übertriebenen Aussprache gerecht werden zu können glaubt, so als sei diese Formel von der gleichen unumstößlichen Evidenz wie "der Ball ist rund" oder "das Fleisch ist schwach". Und keiner ist je darauf gekommen, einmal nachzufragen, von welcher Form und, vor allem, von welcher Funktion in diesem Satz denn die Rede sein soll. Dennoch - oder gerade deswegen - dürfte es keine andere Parole geben, in der sich Architekten wie Ingenieure gleichermaßen so beheimatet, ja aufgehoben fühlen.

Dass wieder zusammenwächst, was zusammengehört: Dieses Verdikt zum deutschen Mauerfall 1989 wird man, ohne Umstände und mit Überzeugung, kaum auf das aktuelle Verhältnis von Architekt und Ingenieur anwenden wollen. Wenn dieser auf jenen guckt, dann schon mal mit sardonischer Distanz: So könne man das Speichenrad als das Werk eines Ingenieurs sehen: Die Felge mit ihrem Querschnitt zur Aufnahme des Reifens, die spannbaren Speichen, ihre Abwicklung, die Nabe, der Schlauch, das alles macht ein komplexes, wiewohl überzeugendes Produkt.

Hätte man hingegen einen Architekten mit den Entwurf eines Fahrrads beauftragt, so wäre unter Umständen aus einem Vollwandmaterial eine Kreisscheibe ausgeschnitten und rot, gelb oder blau angemalt worden. Umgekehrt lassen sich die Architekten zumeist auch nicht lumpen, wenn es die Fähigkeiten und Leistungen der benachbarten Profession zu "würdigen" gilt: etwa als "Zahlenknecht", der über die Berechnung der Biegesteifigkeit die Komplexität der Entwurfsanforderungen aus den Augen verliert.

Sind solche Zuschreibungen schon recht ernüchternd, so fällt der Befund insgesamt noch schwerwiegender aus: Unter dem Stichwort Baukultur guckt man zumeist nicht auf jene zahlreichen Errungenschaften, die als "Ingenieurbauten" subsummiert werden: Straßen, Eisenbahnlinien, Starkstromleitungen, Kraftwerke und Müllverbrennungsanlagen, Kläranlagen, die Wasserwerke und Wassertürme, Fernsehtürme und Sendemasten. Und natürlich die Brücken. In diesen Bauwerken steckt ein Investitionsvolumen, das dem in Architektur und Hochbau zumindest ebenbürtig ist. Sie stehen zumeist unübersehbar in der Landschaft und werden doch kaum wahrgenommen. Das Auge hat sich an ihre Belanglosigkeit gewöhnt. Das sind "Zweckbauten", lautet die stille Übereinkunft und es verbietet sich fast, an sie besondere Ansprüche zu stellen. Warum eigentlich?

Nur wenige Ingenieure stellen sich augenscheinlich diese Frage mit ähnlich selbstkritischer Distanz wie Jörg Schlaich1:

Nehmen wir hier die Brücken stellvertretend für den gesamten Ingenieurbau, ohne damit die Türme, großen Dächer, Industriebauten, Flughäfen, Wasserbauten etc. aus dem Auge zu verlieren. Die große Zahl der heutigen Straßen- und Bahnbrücken ist eher monoton, funktional, vorwiegend lediglich einem selbst auferlegten technischen und ökonomischen Standard verpflichtet. Weil in Zeiten hoher Löhne und zu billig verschleuderter Ressourcen die plumpe Massenproduktion wohlfeiler ist als der individuelle, geistreiche Entwurf, wurden Standardplanungen mit einheitlichen Spannweiten und Querschnitten entwickelt, die höchstens noch bei der Gestaltung der Pfeiler Spielraum lassen oder "bestenfalls" an irregeführte Architekten zur Dekoration mit peinlichen Kinkerlitzchen frei gegeben werden.

Nein, die Besonderheit einer Brücke ist ihr jeweiliger Ort, den sie selbstbewusst markieren oder respektvoll reflektieren soll. In jedem Fall entwickelt sich ihre Gestalt aus ihrem Wesen, ihrer Funktion, ihrem Kraftfluss und ihrer Herstellung, über die sie dem interessierten Betrachter berichtet, ohne Camouflage und unnötiges Beiwerk. Sie erzählt von der Fortentwicklung der Technik, der Freude am Konstruieren, macht Verbinden bildlich. Jeder verantwortungsbewusste Ingenieur begrüßt den Zwang zur Wirtschaftlichkeit als Zuchtmeister im Hinblick auf eine effiziente, schöne und natürliche Konstruktion. Ingenieurbauten, seien sie technisch oder funktionell noch so perfekt, werden nur durch Kultur zur Zivilisation, sonst bleiben sie Technokratie, die die Menschen durchs Leben schleust, geist- und wesenlos, wie Hühner in Legebatterien.

Jörg Schlaich

Der zivile Baumeister hat nur eine ganz junge Geschichte

Homo Faber, wie ihn Max Frisch geschaffen hat, war ein Ingenieur, ein Mensch, der alles im Reiche der Technik begriff und die Welt auf das Tubare, das Funktionierende, reduzierte. Mit dieser - alles andere als untypischen - Einstellung hat er sich in eine selbst gewählte Isolation begeben, die im Metier selbst keineswegs angelegt ist.

Der Begriff "Ingenieur" kommt aus der im 15. und 16. Jahrhundert vorherrschenden spanischen und italienischen Kriegssprache. Kriegsmaschinen hießen spanisch engeños - von engeñar: Mittel ersinnen. Die Meister dieser Kunst waren engeñeros oder ingenieros, it. ingegneri. Dazu gehört französiert Ingenieur, was dann auch ins Deutsche übernommen wurde. Es handelte sich also bei den Ingenieuren und überwiegend bei den Architekten ursprünglich um Kriegsbaumeister.

Noch der große Balthasar Neumann (1687-1753) war zunächst gelernter "Büchsenmeister der Ernst- und Lustfeuerwerkerey", und er blieb bis gegen 1720 als Ingenieur- und Artillerieoffizier hauptsächlich mit militärischen Aufgaben betraut. Die "friedliche" Komponente des Kriegsbaumeisters, der zivile Baumeister, hat nur eine ganz junge Geschichte.2

Von der "Unteilbarkeit" des Bauens zeugt auch eine weitere etymologische Betrachtung: Die Wurzeln des Wortes Architektur liegen im Griechischen archein, der Führer sein, anfangen, und tekhnè, Handwerk, Kunst. Der Architekt führt das Bauen an, denkt den Bau durch und führt die Arbeit aus, leitet sie. Der Zimmermann (tekhtón) konstruierte Dächer und ganze Häuser. Monumentalbauten am Nil, Burgen oder Kathedralen waren, in einem gewissen Sinne, architektenlose Gebäude, deren Aufbau von Fall zu Fall genauer und planmäßiger, deren Konstruktionen mehr und mehr vorab durchdacht wurden. Im Grunde heißt Architekt also einfach nur "Baumeister" (im Duden ist er einmal als "Ober-Zimmermann" bezeichnet worden). Recht eigentlich beziehen sich also Architekten wie Ingenieur auf ein und dasselbe: den "Baumeister".

Und vielleicht muss man erneut daran erinnern, dass es Ingenieurbauten waren, die die Architektur revolutionierten: Abraham Darbys Coalbrookdale-Bridge über den Fluss Servern, in den Jahren 1775-1778 als erste (guss)eiserne Brückenkonstruktion verwirklicht, ebenso wie achtzig Jahre später Joseph Paxtons Cristall Palace.3

Vordergründiger Funktionalismus

Wenn die äußere Form als Ausdruck eines ihr innewohnenden "werktätigen Prinzips" gelesen wird, dann vermag ein neuer Baustoff (wie seinerzeit Eisen und Glas) auch als Metapher einer neuen entmaterialisierten Ästhetik zu dienen, die mit den hergebrachten Normen der Disziplin weitgehend bricht. Zumal, wenn es nicht um "Stil", sondern um "Bauweise" geht.

Der Kunsthistoriker A.G. Meyer hat 1907 diese Veränderung überzeugend geschildert: Die Eisenkonstruktion, meinte er, bedürfe zu ihrer Entstehung arithmetischer Operationen und algebraischer Formen, und dies sei eine Angelegenheit, die sich durchaus auf rationalem Boden abspiele. Damit aber sei es nicht getan, denn das "Rechnen" ziele auf das "Bauen" ab, setze also einen anderen Schritt voraus, welcher erlaube, sich das fertige Gebilde schon vor seiner Entstehung bildlich vorzustellen. Also das Ende eines synthetischen Weges, auf dem sich konstruierende Verstandestätigkeit und sinnliche Vorstellungskraft - jenes Vermögen demnach, das gemeinhin Künstler auszeichnet - zu vermählen.

Allerdings scheint die Mehrzahl dieser "Zweckbauten" seit dem 2. Weltkrieg keine all zu große Herausforderungen an die Erfindungsgabe der Entwerfer gestellt zu haben. Es ist müßig zu diskutieren, was Ursache und Wirkung dieses Phänomens ist, ob Unkenntnis der grundlegenden statischen Prinzipien seitens der Architekten zu einer Verkümmerung des Formenrepertoires führte, oder ob im Gegenteil diese aus einer philosophisch-künstlerischen Haltung entsprungene Selbstbeschränkung den Verlust dieses Wissens verursachte.

Angesichts der herrschenden, auch durchaus vom Gros der Architekten getragenen banalen Technikgläubigkeit und des weitverbreiteten vordergründigen Funktionalismus, hat der Berufsstand der Bauingenieure sein Blick von allem abgewendet, was jenseits des numerisch Fassbaren liegt. Er vernachlässigte den intuitiven Zugang, die imaginativen bildhaften Methoden der Lösungsfindung. Die Lehre an den Universitäten spiegelt einen Missstand, der nicht nur in der gegenwärtigen Verfassung beider Berufsstände, sondern auch in dem Unverständnis, das sie sich entgegenbringen, aufscheint.

Gewiss gibt es hervorragende Beispiele für die virtuose Gestaltung von Tragwerken. Persönlichkeiten wie Nervi, Maillart, Candela haben sie hervorgebracht. Zunächst also Ingenieure, die einen ausgeprägten Sinn für Form, Gestalt und Harmonie besaßen. Sie hatten teilweise noch zusätzlich als praktizierende Unternehmer Einflussmöglichkeit auf die Ausführung ihrer Bauten. Auch Architekten wie Buckminster Fuller, Konrad Wachsmann oder Jean Prouvé schufen Beispielhaftes, insbesondere auf dem Gebiet der Formfindung, Konstruktion und industriellen Fertigung.

Welche Art Denken, Arbeiten, Planen, Entwickeln kann zu solch integrativen und innovativen Meisterleistungen führen? Für die Suche nach Neuem sind indes nicht unbedingt freie Experimentierfelder notwendig, kann sie doch auch innerhalb eines strikten formalen Kanons erfolgen. Man denke nur an die vielen Kathedralenbaumeister, die, typologisch, liturgisch und statisch-konstruktiv eingeschränkt, trotzdem lebhaft - und mit Erfolg - laborierten.

Nun ist das allerdings mit "Kooperation" in einem schöpferischen Akt nicht so einfach. Weder lässt sie sich bloß postulieren oder verordnen, noch führt sie zwangsläufig zum Erfolg. Es ist sogar fraglich, ob der eigentliche kreative Akt des konzeptionellen Entwerfens in Teamarbeit geleistet werden kann. Zumindest spricht einiges dafür, dass es einen "Spiritus rector" geben muss, der den Entwurf durchgängig bestimmt.

Die beeindruckende Stadionanlage, die anlässlich der Olympiade 1972 in München realisiert wurde, ist das Produkt einer Idee: des Architekten Günter Behnisch. Dass sie verwirklicht werden konnte, verdankt sich aber wesentlich auch der Arbeit von Ingenieuren. Ist da Kreativität in der Zusammenarbeit entstanden? Man kann es so sehen, wenn man die vier Phasen des kreativen Prozesses zerlegt und auf verschiedene Personen verteilt: Zumindest die wichtige Phase der Verifizierung wurde maßgebend von Fritz Leonhardt, Frei Otto und Jörg Schlaich mitgetragen. Offensichtlich war die Idee stark genug, um bei der Vollendung des kreativen Prozesses mitzuwirken und eine neue, unpathetische und leichtfüßige Architektur durch innovative, anspruchsvolle Technik zu zeitloser Baukunst aufzuwerten.

Buchhalter-Ingenieure bedrohen die Baukultur

Über das Verhältnis von Bauen und Physik neu nachzudenken, hat beispielsweise Lebbeus Woods vor einiger Zeit Anlass gegeben. Der eher als phantastischer Zeichner denn als Konstrukteur bekannte Brite entwickelte utopisch anmutende Fluglaboratorien, die keineswegs, wie es zunächst den Anschein hatte, von der Realität abgekoppelt sind:

Die Erde ist bekanntlich von einem starken Magnetfeld umgeben, bei dem es sich im Grunde um ein elektrostatisches Feld handelt. Würde man innerhalb dieses Feldes eine Form, ein schweres Objekt bilden, das mit einem entsprechenden elektrostatischen Feld aufgeladen wäre, so würde sich eine Art Magnetismus ergeben. In der Luft würden die von mir geplanten Gebäude zu bipolaren Magneten werden, und sie würden sich der sie umgebenden magnetischen Felder der Erde bedienen, um aufzusteigen.

Lebbeus Woods

Zwar ist die Idee sicherlich heute so nicht umsetzbar (vielleicht irgendwann in einer fernen Zukunft), aber deshalb muss man sie nicht abzutun als etwas Unsinniges; vielmehr könnte sie integrativen Ambitionen von Architektur und Ingenieurwesen Anreiz und Orientierung geben.

All das heißt, dass auch im "Zweckbau" Gestaltung bedeutsam ist. Und weiter folgt daraus, dass der Ingenieur eine gewisse Gestaltungskompetenz erwerben muss. Wobei man kaum darüber hinweg sehen kann, dass das eigentliche Problem weniger in der Trennung zwischen Wissenschaft und Kunst liegt, sondern viel eher in der fortschreitenden Erosion von Kultur ganz allgemein.

Wenn sich alles nur noch darum dreht, so billig wie möglich zu bauen, dann avanciert der Bauunternehmer, der sich im Allgemeinen nicht um kulturelle Werte schert, zur Zentralfigur. Und mit ihm, so Richard Rogers, "steigt dann ein neuer Typ des Ingenieurs empor, der 'Buchhalter-Ingenieur', der eine echte Gefahr bedeuten kann, denn Buchführung sucht nicht nach Langzeitlösungen, sondern rechnet kurzfristig". Wenn es stimmt, dass Baukunst unteilbar ist, dann kann es keine getrennte Verantwortung für die Gestalt einerseits und die Statik andererseits geben. Architekten und Ingenieure müssen eine neue Kreativität im Zusammenspiel entwickeln - und für Qualität nutzen.