Durchbruch rechtsextremer Parteien in Europa

Auch Frankreichs Regierungspartei zeigt, wie man sich der Front National annähert

Der folgende Beitrag ist vor 2021 erschienen. Unsere Redaktion hat seither ein neues Leitbild und redaktionelle Standards. Weitere Informationen finden Sie hier.

Frankreich galt als Vorläufer, als dort im Jahr 1984 eine rechtsradikale Bewegung, der Front National unter Jean-Marie Le Pen, mit 11 Prozent bei den damaligen Europaparlamentswahlen einen Durchbruch feierte. Dies war für die politische Landschaft im damaligen Westeuropa ungewöhnlich. Doch heute sieht es anders aus. Fast überall in Europa ist in diesen Zeiten der Durchbruch „rechtspopulistischer“ oder rechtsextremer, autoritär-nationalistischer, „Sicherheit und Ordnung“ versprechender, rassistischer und/oder antisemitischer Parteien zu beobachten. Und bei den anstehenden Parlamentswahlen in den Niederlanden am 09. Juni oder in Belgien am 13. Juni dürfte es wohl kaum besser werden.

In Ungarn erhielt die - in vielen Punkten stark dem historischen Nationalsozialismus in seiner „Bewegungs“zeit ähnelnde - Partei Jobbik („Die Besseren“) bei der Parlamentswahl im April dramatische 17 Prozent der Stimmen. Jüngst provozierte sie bei der Eröffnung des neu gewählten Parlaments, indem ihre Abgeordneten in Uniformen der verbotenen paramilitärischen „Magyarischen Garde“ auftraten. In Italien hielt sich die regierende Rechtskoalition bei den Regionalparlamentswahlen Ende März spürbar besser als erwartet, dank hoher Wahlergebnisse der rassistischen Regionalpartei Lega Nord im nördlichen Landesteil.

In Belgien versuchen faschistoide flämische Nationalisten, von der neuesten schweren politischen Krise auf der Ebene des Bundesstaats Profit zu schlagen. Am 22. April, dem Tag, an dem die letzte Regierung unter Yves Leterme zurücktrat, triumphierte der Vlaams Belang, also die rassistische und für die Spaltung Belgiens eintretende Partei „Flämisches Interesse“, symbolisch mit einer Provokation.

Im Plenarsaal des belgischen Bundesparlaments sangen ihre 30 Abgeordneten stehend die flämische Nationalisten-Hymne Vlaamse Leeuw (Der flämische Löwe), während auf den Zuschauerreihen platzierte Anhänger im Publikum ein Transparent entrollten, auf dem das Ende Belgiens und die sofortige Unabhängigkeit eines germanischen Flandern gefordert wurden. Nun ermittelt die Verwaltung, wie es zu einem solchen offen „staatsfeindlichen“ Akt der Rechtsradikalen mitten im Parlament kommen konnte. Am 13. Juni wird es nun zu vorgezogenen Neuwahlen kommen, unmittelbar bevor das schwer angeschlagene Land am 1. Juli die EU-Ratspräsidentschaft übernimmt.

Im Nachbarland Holland werden dem einwandererfeindlichen „Rechtspopulisten“ Geert Wilders, der im Übrigen für einen Zusammenschluss eines aus Belgien ausgegliederten Flandern mit den Niederlanden eintritt, für die Wahlen am 9. Juni rund 17 Prozent prognostiziert - 17 Prozent, das ist ungefähr das Niveau, das die Wahlprozente rechtsradikaler Parteien in mehreren EU-Ländern erreicht haben.

Auch der französische Front National, der in den letzten drei Jahren schon als halbtot betrachtet worden war, nachdem der damalige konservative Kandidat Nicolas Sarkozy ihm im Jahr 2007 Millionen Stimmen abnehmen konnte, und die Partei Le Pens auf bis zu 4,3 Prozent bei den Parlamentswahlen abgesunken war. Jetzt hat die Partei wieder dieses Niveau erreicht, wo man bereits einmal angelangt war, nämlich bei den Präsidentschaftswahlen 2002. Damals hatte Jean-Marie Le Pen im ersten Durchgang 16,8 und in der zweiten Runde 17,8 Prozent eingefahren.

Nun ist es wieder so weit, jedenfalls in der Mehrheit der französischen Landesteile: Im zweiten Durchgang der französischen Regionalparlamentswahlen, am 22. März dieses Jahres, erhielt der Front National durchschnittlich 17,8 Prozent. Dieses Ergebnis betrifft jene zwölf von 22 Regionen, wo er in die Stichwahl hatte einziehen können. (Dafür sind zehn Prozent im ersten Wahlgang erforderlich.) Östlich einer Achse, die Frankreich in Nord-Süd-Richtung von Le Havre nach Montpellier durchzieht, war die rechtsradikale Partei nahezu flächendeckend in den Stichwahlen dabei.

Nur westlich von dieser Linie ist sie schwächer verankert. Im überwiegend agrarisch gebliebenen Westfrankreich blockiert das dort noch starke katholische Milieu, das der bürgerlichen Rechten verbunden bleibt, ihren Aufstieg. Hingegen kann der Front National im übrigen Frankreich sowohl Wähler aus „gehobenen“ sozialen Milieus, wie in Paris oder an der Côte d’Azur, als auch eine früher einmal links votierende Arbeiterwählerschaft (wie in der Region Nord-Pas de Calais nahe der belgischen Grenze) anziehen.

Bündnispartner Front National: Besser mit Marine?

Unterdessen wird in Teilen der bürgerlich-konservativen Rechten Frankreichs eifrig darüber diskutiert, dass im Falle einer Ablösung Jean-Marie Le Pens durch seine Tochter Marine sich auch die „Bündnisfrage“ gegenüber dem FN neu stellen könnte. Der prominente konservative Journalist Eric Zemmour legte es dem bürgerlichen Lager in einem Leitartikel im Figaro Magazine ausdrücklich nahe, in einem solchen Falle neu über Bündnisoptionen nachzudenken. Schon zuvor hatte er empfohlen, „die Lehren der italienischen Rechten“ zu beherzigen, nachdem diese bei den Regionalparlamentswahlen in ihrem Land Ende März unerwartet gut abgeschnitten hatte. Insbesondere ihr Bündnis mit der rassistischen Regionalpartei Lega Nord hielt er dabei positiv fest.

Auf Radio Monte Carlo (RMC) - ein Rundfunksender, der den regierenden bürgerlichen Rechten nahe steht - kommentierte Chefredakteur Christophe Jakubyszyn am 13. April, „im Elysée-Palast“ sei eine eventuelle Allianz mit dem FN "nicht länger tabu". Zwei Wochen später kündigte die amtierende Gesundheits- und Sportministerin Roselyne Bachelot in einem Radiointerview an, falls die Regierungspartei UMP sich mit dem Front National verbünden sollte, dann würde sie ihrer Partei den Rücken kehren Auch dies ist mutmaßlich ein Hinweis auf heftige Diskussionen und Kontroversen hinter den Kulissen.

Ideologisch hat der französische Bürgerblock einem potentiellen Rechts-Rechts-Bündnis intensiv den Boden bereitet. Eine wichtige Station dabei bildete die so genannte „Debatte zur nationalen Identität“, die in Wirklichkeit weitaus eher eine Ideologiekampagne des Regierungslagers denn eine irgendwie pluralistische Diskussion darstellte.

Französische Debatte über „Nationalidentität“: „(staatstreue) Schafe, Verrückte und Faschisten“

Der amtierende „Minister für Einwanderung, Integration und nationale Identität“ Eric Besson hatte diese ideologiegetränkte „Debatte“ Ende Oktober 2009 ausgerufen und daraufhin frankreichweit 350 Veranstaltungen unter Aufsicht von juristischen Vertretern des Zentralstaats (Präfekten oder Unterpräfekten) organisieren lassen. Diese dauerten noch bis Anfang Februar dieses Jahres an.

In der Öffentlichkeit waren diese Veranstaltungen, deren Charakter in der Regel zwischen dem Vortragen staatsbürgerlicher Besinnungsaufsätze einerseits und einem Forum für rassistische Hetze gegen Zuwanderer oder Einwanderergruppen – ja nach Ort und Zeitpunkt meist Nordafrikaner, Roma, Muslime oder Sozialhilfeempfänger ausländischer Herkunft – andererseits variierte, höchst umstritten. Ein kritischer Beobachter hatte zum Jahresende im Presseverteiler einer Menschenrechtsorganisation formuliert, diese Saaldiskussionen zögen vor allem „(staatstreue) Schafe, Verrückte und Faschisten“ an.

Einige nicht vorhergesehene Unterbrechungen sorgten wenigstens für Amüsement: In Paris störte etwa die linke Schwulen- und Lesbenorganisation 'Les Panthères Roses' eine Saalveranstaltung und unterstrich ihre Auffassung, diese Debatte sei „zum Kotzen“, indem einer ihrer Aktivisten vor laufenden Kameras auf den Teppichboden reiherte. Auch das breite Publikum zeigte sich im Rückblick eher wenig angetan.

Eine Umfrage der Le Monde kam zu wenig präsentablen Ergebnissen: 67,5 % der Teilnehmer hielten die Debatte bislang für „unwürdig“, „eine Stigmatisierung des Islam und der Immigranten“. Nur 19,5 % unterstützten die angebotene Antwort, wonach die Debatte bislang "eher würdig" verlief.

Nicht ohne Zusammenhang dazu steht im Übrigen die Tatsache, dass der rechtsextreme Front National (FN) fast überall dort, wo er konnte – d.h. aktive Mitglieder vor Ort oder in der Nähe besitzt – massiv in den örtlichen „Debatten“veranstaltungen präsent war und diese, sobald die Saaldiskussion mit dem Publikum losging, erheblich beeinflusste oder sogar dominierte.

Hinwendung an die Kernwählerschaft der extremen Rechten

Die Ideologiekampagne zur „Nationalidentität“ hat, wie sich bei den Regionalwahlen zeigte, Spuren hinterlassen und wird auch künftig Auswirkungen haben. Explizit wie noch nie wandte die regierende konservativ-wirtschaftsliberale Rechte sich mit der Debatte um die Nationalidentität an die Kernwählerschaft der extremen Rechten unter Le Pen. Dieser Gestus an die Adresse der rechtsextremen Wählerschaft wurde teilweise begleitet von einer demonstrativen Hinwendung zu führenden Parteifunktionären des FN.

So zeigte sich der Minister füe Einwanderung, Eric Besson, anlässlich einer Debatte über die „Nationalidentität“ in Lyon gegenüber Bruno Gollnisch sehr um Konsens bemüht. Gollnisch ist die „Nummer drei“ in der Hierarchie des Front National, seit 2004 ist er als Juraprofessor wegen Relativierung und Infragestellung des Holocaust suspendiert und Abgeordneter im Lyoner Regionalparlament. Auf eine Vorhaltung seitens des rechtsextremen Politikers, Frankreich sei nicht nur ein Bevölkerungs„konglomerat“, sondern zeichne sich durch ein Herkunfts-Stammvolk, ein Staatsgebiet und „gemeinsame Werte“ aus, entgegnete Eric Besson dem FN-Politiker: „Sie haben im Wesentlichen Recht“.

Von der theoretischen Debatte zur praktischen Anwendung: Wer darf zur Nation „richtig“ dazu gehören?

Eine „praxisorientierte“ Fortsetzung hat die Identitätsdebatte in der so genannten „Burqa-Debatte“ gefunden. Nach Belgien, das diese Ganzkörper- oder jedenfalls Gesichtsverhüllung am 29. April gesetzlich verboten hat, plant auch Frankreich ein gesetzliches Verbot. Im Kern ist die „Burqa“-Debatte für das Regierungslager nur der Aufhänger, um die ideologische Regierungskampagne rund um die „nationale Identität“ vom Winter 2009/10 mit anderen Mitteln fortzusetzen.

Zwischenzeitlich war die Debatte der „nationale Identität“ zwar fortgesetzt worden, aber nur auf niedriger Flamme am Köcheln. Der ,Canard enchaîné' machte sich über Veranstaltungen lustig und berichtete, dass Kulturminister Frédéric Mitterrand über „Die Bedeutung des Kommas für die französische Identität“ referierte.

Abgelöst wurde die Identitätsdebatte von der wesentlich relevanteren Burqa-Diskussion, die längst faktisch zur Debatte darum geworden ist, wer in Frankreich zur Nation dazugehören darf und wer nicht. Das zeigte sich deutlich bei der „Affäre“ im westfranzösischen Nantes (vgl. Wie eine Verkehrskontrolle zur Regierungsaffäre wird), die in der letzten Aprilwoche ausbrach, also kaum 48 Stunden, nachdem Nicolas Sarkozy am 21. April den Grundsatzbeschluss zugunsten eines Totalverbots der Burqa auf französischem Boden gefällt hatte.

Den Ministern Brice Hortefeux (Inneres) und Besson (Immigration & nationale Identität) ging es bei der Affäre unverkennbar vor allem darum, ein Exempel zu statuieren - um einen Fall des Entzugs der französischen Staatsbürgerschaft, motiviert durch so genannte „kulturelle“ Praktiken, als legitim erscheinen zu lassen. Besson trat mittlerweile in eine regelrechte Kampagne für die Möglichkeit eines solchen Entzugs ein.

Als weiteren legitimen Beweggrund dazu, eine solche Maßnahme durchzuführen, nannte er inzwischen die Mädchenbeschneidung – die in manchen afrikanischen oder afrikanischstämmigen Familien praktiziert wird, in Frankreich jedoch weitgehend zum Verschwinden gebracht werden konnte und ohnehin unter Strafe steht, d.h. als gefährliche Körperverletzung geahndet werden kann.

Grenze zwischen „Uns“ und „Ihnen“

Bislang ist der Entzug der, einmal erworbenen, französischen Staatsbürgerschaft nur äußerst schwer und fast nur bei so genannten Terrorismusdelikten (die wiederum sehr unterschiedlich zu bewertende gesellschaftliche Sachverhalte, vom „Eingriff in den Bahnverkehr“ bis zu Mordpraktiken gegen die Zivilbevölkerung, umfassen), überhaupt möglich. Das Regierungslager möchte ihn nunmehr erleichtern. Auch soll das Spektrum der Anwendungsfälle erweitert werden.

Offensichtlich dienen Burqa und Polygamie dabei nur als Vorwand, um eine neue, legitime Grenze zwischen „Uns“ und „Ihnen“ zu ziehen. Der Grünenpolitiker Noël Mamère sprach deswegen Ende April 10 von einem "Geruch von Vichy". Dafür zog er sich Kritik zu, etwa seitens der Wochenzeitung ,Le Canard enchaîné’ (vom 12.05.10), die monierte, der frühere Fernsehjournalist und Präsidentschaftskandidat der Grünen im Jahr 2002 habe unzulässig „die Burqa und den gelben Stern miteinander verglichen“. In Wirklichkeit hatte Mamère jedoch einzig auf die neu angefachte Debatte um den nachträglichen Entzug der französischen Staatsbürgerschaft abgehoben.

In seinem berüchtigten Einwanderungsprogramm vom November 1991, den „50 Maßnahmen zur Einwanderung“, hatte der Front National sich ebenfalls für einen solchen Mechanismus ausgesprochen: Damals schlug er vor, dass Einbürgerungen bis ins Jahr 1974 zurück in Frage gestellt werden könnten. Bei allen anderen Parteien rief dies seinerzeitig heftige Abwehrreaktionen hervor.