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Engpass bei Antibiotika: Warum fehlt der lebensrettende Nachschub?

Bild: Nastya Dulhiier/Unsplash

Die wichtigen Medikamente sind nach wie vor Mangelware. Patienten wenden sich in ihrer Verzweiflung an Angebote im Netz. Wo die Probleme liegen und was die Tabus sind.

Steigende Produktionskosten und sinkende Margen sorgten seit Jahren für Produktionseinstellungen in Europa und Produktionsverlagerungen nach Indien und China. So gab es im vergangenen Jahr nur noch eine Penicillin-Produktionsstätte [1] in Europa.

Steigende Energie- und Fertigungskosten gelten inzwischen als Hauptgrund dafür, dass sich der Trend nicht umkehrt. Die Politik belässt es in diesem Zusammenhang europaweit meist bei Ermahnungen und Sonntagsreden, hat jedoch keinen Plan für eine Trendumkehr. An eine Verstaatlichung des Antibiotika-Marktes wagt aus Kostengründen kein Verantwortlicher in der EU laut zu denken.

Doch die Produktionsverlagerung der Grundstofffertigung nach Fernost ist aktuell gar nicht der Grund dafür, dass viele Antibiotika in der Humanmedizin hierzulande inzwischen ein knappes Gut sind. Der Auslöser für die reduzierte Verfügbarkeit ist letztlich genau der gleiche wie bei den Fiebersäften für Kinder. In beiden Fällen ist die Nachfrage stärker angestiegen als die Produktionskapazitäten.

Wenn man jetzt die Verlagerung der Grundstoffproduktion in die EU fordert, hätte man bei deutlich höheren Kosten nur die Transportwege verkürzt, aber noch nicht die Verfügbarkeit erhöht. Dazu müsste man die Lagermengen in der Nähe der Verbraucher erhöhen und dafür sorgen, dass diese auch finanziert werden.

Hygiene

Das Problem bei der Antibiotika-Grundstofffertigung in Fernost ist in erster Linie der Umgang mit den Überresten der Produktion. Während man in China viele der kleinen Fertiger, die schwer zu kontrollieren waren, aus Umweltschutzgründen geschlossen hat, und die verbliebenen nicht zuletzt mithilfe des Social Scoring [2] deutlich stärker überwacht, ist Indien noch lange nicht so weit.

Die indischen Fabriken, die vorwiegend in Hyderabad [3] angesiedelt sind und meist Grundstoffe aus China verarbeiten, genügen zwar hinsichtlich der Produktfertigung hohen Hygienestandards, dies trifft jedoch für die Abwasserbehandlung jenseits der Fabriktore nicht zu.

Resistenzen

So verwundert es kaum, dass 70 Prozent aller [4]Indien-Touristen resistente Keime mit nach Hause bringen. Diese Keime entfalten ihre Wirkung, wenn sie mit einem geschwächten Immunsystem zusammen kommen, was häufig in Krankenhäusern vorkommt. Weil die Antibiotika-Entwicklung aus Kostengründen eingestellt wurde, gibt es hierzulande keine neuen Antibiotika, welche die Resistenzen überwinden könnten.

Eine steigende Nachfrage nach Antibiotika in einem stark reglementierten Umfeld und geringen Margen führt inzwischen dazu, dass bestimmte Antibiotika knapp werden.

Es handelt sich dabei größtenteils um sogenannte Breitspektrum Antibiotika wie Amoxicillin oder Amoxicillin/Clavulansäure, die bei einer Vielzahl bakterieller Infektionen u.a. Streptokokken und anderen grampositiven Erregern zum Einsatz kommen. Knapp ist auch Penicillin V als Beta-Lactam-Antibiotikum (Phenoxymethylpenicillin).

Antibiotika-Nachfrage steigt nicht nur in der Humanmedizin

Die Nachfrage nach Antibiotika steigt nicht nur bei der Patientenversorgung. Auch in den großen Tierställen werden immer mehr Antibiotika dem Futter beigemischt, darunter auch sogenannte Reserveantibiotika, die beim Menschen nur dann zur Anwendung kommen sollen, wenn die üblichen versagen.

Die Antibiotika werden bei den Tieren in der Massenhaltung nicht nur zur Prophylaxe eingesetzt, um einer Erkrankung in den übervollen Ställen zur vermeiden, sondern auch weil die Medikamente das Wachstum [5] der Tiere beschleunigen.

Zwar fordert die Politik immer wieder, dass der Antibiotika-Einsatz als Wachstumsbeschleuniger bei Tieren reduziert werden solle, weil er zu den Gründen für eine zunehmende Antibiotikaresistenz bei Menschen zählt. Kontrollieren lässt sich das jedoch nicht, weil ein Tierhalter nur behaupten muss, dass er die Antibiotika gegen Krankheiten eingesetzt habe und damit in der Regel erfolgreich ist.

Wie geht die Politik in Deutschland mit der Antibiotika-Knappheit um?

Mit Datum vom 25. April 2023 hat das Bundesministerium für Gesundheit (BMG) den Versorgungsmangel [6] für antibiotikahaltige Säfte für Kinder bekanntgegeben.

Als Konsequenz aus der Erklärung des Versorgungsmangels eröffnete das BMG Möglichkeiten des von den üblichen Regelungen abweichenden Imports von Antibiotika, die in Deutschland keine Zulassung besitzen.

Man geht davon aus, dass diese Antibiotika den gleichen Standards entsprechen, wie die in Deutschland zugelassenen, der jeweilige Hersteller jedoch für Deutschland keine Zulassung beantragt hat, weil Deutschland für ihn kein Markt von Interesse ist.

Die Aufsicht über den so geschaffenen Importmarkt liegt nicht beim BMG und seinen nachgelagerten Behörden, sondern bei den entsprechenden Landesbehörden, die in Deutschland für die Überwachung des Arzneimittelverkehrs zuständig sind. In deren Zuständigkeitsbereich liegen somit auch Aspekte wie Fälschungen, Qualitätsmängel etc.

Wie es im Föderalismus gebräuchlich ist, entwickelt jedes Bundesland ein eigenes Vorgehen beim jetzt möglichen Import von in Deutschland nicht zugelassenen Antibiotika. Aus einer Umfrage bei den betroffenen Landesministerien geht hervor, dass man sich in der Sache telefonisch abstimme. Die Verantwortung für die Importe liege beim Importeur und letztlich beim jeweiligen Apotheker, welcher die Medikamente an den Patienten abgebe.

Hinsichtlich der Preise für diese aufgrund des Versorgungsmangels importierten Antibiotika, für die es keine Rabattverträge mit den insgesamt 96 Gesetzlichen Krankenkassen gibt, muss bislang mit der jeweiligen Kasse des Patienten verhandelt werden.

Ob ein Importeur oder auch letztlich der abgebende Apotheker sich auf dieses Vorgehen und das damit bestehende wirtschaftliche Risiko einlässt, ist deren freie Entscheidung. Klinikapotheken [7] sind in der aktuellen Situation im Vorteil, weil sie nicht jedes einzelne Medikament mit den Kassen patientenspezifisch abrechnen müssen.

Um zumindest das Risiko zu minimieren, gefakten Medikamenten aufzusitzen, ist man in den Bundesländern bestrebt, sich in erster Linie auf den Import vom Antibiotika aus der EU zu beschränken, wo es mit Ausnahme von zwei Mitgliedsstaaten überall ein geschütztes Lieferkettensystem gibt, bei welchem jedes einzelne Exemplar eines Medikaments vom Hersteller bis zur Abgabe an den Patienten an jedem Schritt gebucht werden muss.

Die Verantwortung dafür, dass die Medikamente den bei der Zulassung zugesicherten Eigenschaften entsprechen, liegt somit beim Hersteller, der die Ware in der EU in den Verkehr bringt.

Verunreinigungen bei den Grundstoffen, die aufgrund geänderter Produktionsverfahren auftreten, wie es bei Blutdrucksenker Valsartan [8] bekannt wurde, lassen sich auch bei guten Eingangskontrollen nur bedingt erkennen, solange man nur nach bekannten Verunreinigungen sucht.

Der Import von Antibiotika aus anderen EU-Mitgliedsstaaten

Die Engpässe bei Antibiotika zeigen sich sowohl in nahezu allen Mitgliedstaaten der Europäischen Union als auch international. Dadurch dürften die Möglichkeit des Bezugs von Arzneimitteln zur Kompensation aus diesen Staaten als stark begrenzt einzuschätzen sein.

Das schafft Risiken für Patienten, die weder mit in Deutschland regulär zugelassenen Medikamenten, noch mit solchen aus der EU importierten Antibiotika versorgt werden können.

In ihrer Verzweiflung versuchen sie die gesuchten Medikamente über Online-Apotheken zu beschaffen. Dabei können sie an einen vertrauenswürdig erscheinenden Online-Anbieter geraten, der hierzulande nicht registriert ist und seinen Sitz auch nicht innerhalb der EU hat und den EU-Vorschriften nicht entspricht.

Hier gibt es keinen wirksamen Schutz vor Fakes und der Patient wird allein gelassen mit seinem Risiko.


URL dieses Artikels:
https://www.heise.de/-9060922

Links in diesem Artikel:
[1] https://www.pharmazeutische-zeitung.de/pro-generika-warnt-vor-gefaehrlicher-marktkonzentration-136348
[2] https://www.telepolis.de/features/Indien-statt-China-7452317.html
[3] http://https//www.telepolis.de/features/Die-Globalisierung-der-Medikamentenversorgung-4659876.html
[4] https://www.sueddeutsche.de/gesundheit/antibiotika-gefahr-aus-stinkendem-wasser-1.3492685-2?reduced=true
[5] https://www.spektrum.de/news/nutztierhaltung-globaler-antibiotikaeinsatz-steigt-noch-weiter/2105805
[6] https://www.bfarm.de/DE/Arzneimittel/Arzneimittelinformationen/Lieferengpaesse/Antibiotika.html
[7] https://www.telepolis.de/features/Deutschland-Wenn-Medikamente-fehlen-7392310.html
[8] https://www.telepolis.de/features/Medikamente-Deutschland-hat-zu-lange-zu-billig-eingekauft-7273670.html