Erdoğan und sein Clan

"Erdoğan and 2023 vision". Bild: Myrat/CC BY-SA 3.0

Macht, Personenkult und Entourage

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Zur Person: Recep Tayyip Erdoğan ist ein Mann von ganz unten. "Er ist einer von ihnen. Er spricht ihre Sprache." Er hat sich durch Fleiß und Ehrgeiz hochgearbeitet. Er hat es den elitären Reichen gezeigt. Er bietet einfache Lösungen für ihre Probleme an. Er verspricht, dass sie etwas vom großen Kuchen abbekommen. Dass sie, wenn sie ihm folgen und loyale Türken sind, ein gutes Leben haben werden. Dass er sie als Vaterfigur gegen "Feinde" im Innern und Außen beschützt. Er, der Mann aus dem Volk, wird den Kampf gegen die "Feinde der Türkei" für sie aufnehmen. Das kommt an. Vor allem in Zeiten, wo die Geschäfte schlecht stehen.

Heute lebt er in seinem illegal gebauten Präsidentenpalast mit über 1000 Zimmern. Der Palast in Ankara ist sechsmal so groß wie das Weiße Haus. Möglich wurde dies durch einen Personenkult, den es seit dem Republikgründer Atatürk nicht mehr gegeben hat.

Im Herder-Verlag erschien im April eine detaillierte Biografie s von Cigdem Akyol, die für deutsche Leser interessante neue Details liefert. Erdoğan wächst im Istanbuler Armenviertel Kasimpascha als Sohn eines Istanbuler Hafenarbeiters aus Rize an der Schwarzmeerküste auf. Die Familie stammt ursprünglich aus Georgien.

Der 1954 Geborene hat drei Brüder und eine Schwester. Die Kinder werden muslimisch fromm und autoritär erzogen. Als Kind verdient Erdoğan als Straßenverkäufer von Sesamkringeln für die Familie hinzu. Nach der Grundschule besucht er die weiterführende religiöse Imam-Hatip-Oberschule in Istanbul.

Er war ein ehrgeiziger Schüler, wollte nach oben kommen. Und er war ein Einzelgänger. Außer Fußball mit Seinesgleichen gab es nichts, wofür sich der junge Erdogan interessierte. Er lebte die ihm vorgelebte Tradition und fand die modernen Einflüsse in der Metropole gottlos.

Erste politische Station: die Refah Partei Erbakans

Von 1973 - 1980 absolvierte er ein wirtschafts- und politikwissenschaftliches Studium an der Marmara-Universität. Als Jugendlicher engagierte sich der strenggläubige Muslim, der an seiner Oberschule Kontakt zu religiösen Kreisen geknüpft hatte, in der Jugendorganisation der Nationalen Heilspartei (MSP) von Necmettın Erbakan. In dieser islamischen Partei war er als Funktionär aktiv.

1978 heiratete Erdoğan seine heutige Frau Emine. Sie ist traditionelle Hausfrau, bekommt vier Kinder, zwei Söhne und zwei Töchter. 1994 wurde er als Kandidat der Refah-Partei Erbakans als Bürgermeister von Istanbul gewählt - der kleine Mann aus Kasimpascha gewann den Machtkampf gegen Erbakan. Alte Mentoren und Bündnispartner, die Skepsis ob seiner Person anmeldeten, wurden von ihm fallengelassen. Seine Loyalität bezog sich fortan nur auf ihn selbst.

1998 wird Erdoğan aufgrund eines Gedichtes, das er bei einer Kundgebung vorgetragen hatte, zu zehn Monaten Gefängnis und zu einem lebenslänglichem Politikverbot verurteilt:

Die Moscheen sind unsere Kasernen, die Minarette unsere Bajonette, die Kuppeln unsere Helme und die Gläubigen unsere Soldaten.

Die Gründung der AKP, der politische Erfolg: Erdoğan als Hoffnungsträger

Das Gericht urteilte, das Gedicht riefe zum Umsturz auf. Nach nur vier Monaten kommt er wieder frei. Und aus dem lebenslänglichen Politikverbot wurde auch nichts. 3 Jahre später, im Jahr 2001 gründete er mit anderen ehemaligen Mitgliedern der MSP die AKP. Und positionierte sich klar gegen die EU:

Der eigentliche Name der Europäischen Gesellschaft lautet Union der katholisch-christlichen Völker. Wir möchten nicht in die EU.

2002 gewinnt die AKP die Wahl, Erdogan darf aber aufgrund seiner Vorstrafe nicht für einen Parlamentssitz kandidieren. Abdullah Gül wird Regierungschef. Die Anti-EU Haltung änderte sich - vordergründig - mit der Wahl zum Ministerpräsidenten im März 2003, als die Debatte um die Beitrittsverhandlungen zur EU begann. Eine Verfassungsänderung machte Erdoğans Kandidatur möglich, Gül trat zugunsten Erdogans als Ministerpräsident zurück. Nun turnte Erdoğan auf der internationalen Bühne herum und eignete sich deren Terminologie an.

Er versprach, die Liberalisierung des Vereins- und Presserechts. Das Antiterrorgesetz wurde liberalisiert und stellte sogenannte Ehrenmorde unter Strafe; er schaffte endgültig die Todesstrafe ab. Folter wurde verboten, Minderheiten, Frauen und Kinder erhielten mehr Rechte, die Verfügungsgewalt von Militärgerichten über Zivilisten wurde eingeschränkt.

Dies führte dazu, dass selbst grüne Politikerinnen und Politiker damals in Erdoğan einen Hoffnungsträger für Demokratie sahen und in der Türkei ein Vorzeigemodell, wie ein Staat im Nahen Osten und moderne Politik trotz muslimischer Mehrheitsbevölkerung aussehen könnte. Sie irrten.

Denn Erdoğan verfolgte mit diesem liberalen Kurs nach außen die Strategie, seine persönliche Macht weiter auszubauen. Nach innen begann er mit der Islamisierung des Landes- und der langsamen Auflösung der Säkularisierung. Schon 1994 erschütterte der Satz Erdoğans "unser Ziel ist der islamische Staat" die aufstrebende Elite.

In seiner Amtszeit als Ministerpräsident wurde der Ausschank von Alkohol reglementiert, was die Tourismusunternehmen auf die Palme brachte. Das Kopftuchverbot an Universitäten und öffentlichen Ämtern wurde aufgehoben. Erdoğans Annäherung an die EU diente letztlich nur dem Ziel, den Einfluss von Militär und Justiz zurückzudrängen und seinem islamistischen Kurs schleichend durchzusetzen.

Entledigen der Konkurrenten

Aber nicht alle Funktionsträger im Parteiapparat, dem Militär und der Bürokratie teilten den Weg. Erdoğan machte sich daran, das politische System in seinem Sinne umzugestalten: Er entmachtete das Militär und das Verfassungsgericht durch die sogenannten "Ergenekon-Prozesse".

"Befehlsgewalt und Kaderkontrolle sind fortan Kernelemente seines Führungsstils, mit dem er das Selbstverständnis seiner Nation ändern will und deswegen keine Diskussionen um seinen Politikstil duldet", schreibt die Autorin Cigdem Akyol in ihrem neuesten Buch. Der angefangene Reformprozess geriet 2003 ins Stocken. Sein größter Widersacher innerhalb der AKP war der im Exil lebende Prediger Gülen. Erdoğan entledigte sich seiner Anhänger nach den sogenannten Ergenekon-Prozesse.

Aber nicht nur Gülen-Leute wurden in den folgenden Jahren als vermeintliche Mitglieder der Organisation Ergenekon verhaftet. Auch viele Journalisten, die die Prozesse (2008 - 2013) aufgrund ihrer fragwürdigen Beweislage kritisch verfolgten, fanden sich auf der Anklagebank wieder. Auch Staatsanwälte, Militärs, Polizeifunktionäre, hochrangige Persönlichkeiten, die sich für einen liberalen, säkularen Staat einsetzten, wurden angeklagt und zum Teil zu langen Haftstrafen verurteilt.

Schon damals zeigte sich die EU-Kommission besorgt ob der Rechte der Verteidigung, der langen Zeiten der Untersuchungshaft und der weit gefassten Anklageschriften.

Am 21. April 2016 hob der Oberste Gerichtshof den ganzen Prozess und die 275 Verurteilungen auf, mit der Begründung, dass die Existenz der angeblichen Ergenekon-Verschwörung, die den damaligen Regierungschef Recep Tayyip Erdoğan habe umstürzen wollen, während der Verhandlung nicht nachgewiesen und dass das Recht der Verteidigung nicht eingehalten wurde.

"Ich bin der Staat"

2007 und 2011 gewinnt Erdoğan wiederum die Wahlen und wird in seinem Amt als Ministerpräsident bestätigt. 2014 wird er dann zum Staatspräsident mit absoluter Mehrheit gewählt. Viel wichtiger als die außenpolitische Anerkennung war ihm die innenpolitische Gewissheit, fest im Sattel der Macht zu sitzen. Erdoğan wollte die Türkei zur Regionalmacht im Nahen Osten ausbauen, die EU interessierte ihn nur am Rande.

So lässt ihn auch die Kritik des Europaparlaments kalt, die am Dienstag beschlossen hatte, die Visafreiheit für türkische Staatsbürger erst zu diskutieren, wenn alle Kriterien, auch die Reformierung des Anti-Terrorgesetztes, erfüllt seien. Und das Volk hält zu ihm.

Erdoğan ist ein begnadeter Populist, der es verstand, einen Führerkult herzustellen. Im armen Hafenviertel Kasimpascha steht heute ein großes Stadion, genau da, wo er als Kind Fussball spielte. Die Buchautorin Cigdem Akyol schreibt, dass Erdogan von Wahl zu Wahl selbstherrlicher wurde. Er postulierte: "Ich bin der Staat, ich wurde direkt vom Volk gewählt."

So warb er im Wahlkampf für die Parlamentswahl am 7. Juni 2015 um Stimmen für die AKP, obwohl er nach Artikel 101 der Verfassung die Beziehung zu seiner alten Partei hätte abbrechen müssen. Das Ziel der AKP eine Zweidrittelmehrheit der Mandate für eine Verfassungsänderung wurde durch den Einzug der HDP verfehlt.

Nachdem Ministerpräsident Davutoglu erwartungsgemäß keine Koalition (da nicht gewollt) zustande bekam, ordnete Erdoğan selbst die Neuwahl der Nationalversammlung für den 1. November 2015 an, obwohl laut Verfassung erst noch Kemal Kılıçdaroğlu (CHP), der Vorsitzende der zweitstärksten Fraktion, den Auftrag hätte bekommen müssen.

In der Türkei sagt man daher über Erdoğan: 'Boyun eğmedi, er hat sich nie geduckt.' Das hat ihm Wählerstimmen eingebracht, weil dies für das Nationalbewusstsein der Türken sehr wichtig ist: ein Vater der Türken, der die Dinge selbst in die Hand nimmt.

Dennoch fürchtet Erdoğan nichts mehr als seine Kritiker. Er stellt eine Menge von Leuten ein, die recherchieren sollen - im In- und Ausland wohlgemerkt -, wer Kritik an der Politik der Türkei äußert. Der Staatspräsident begreift dies als Kritik an seiner Person. Bürgerproteste lässt er brutal zurückschlagen. Schon die kleinste Kritik kann zu einer Verhaftung führen - selbst Kinder und Jugendliche sind davor nicht sicher. In der Folge ziehen sich immer mehr Menschen ins Private zurück. Dies hat dazu geführt, dass es kaum Unterstützung aus der Westtürkei für die Menschen im Südosten der Türkei gab und gibt.