Ersatzstimmen, wenn Parteien nicht über die Fünf-Prozent-Hürde kommen

In Berlin schaffte ein Wahlrechts-Volksbegehren die erste Hürde

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Das Bündnis Mehr Demokratie beim Wählen konnte für das Volksbegehren mehr als zwei Monate vor Ablauf der Sammelfrist bereits 24.021 Unterschriften und damit deutlich mehr als die mindestens benötigten 20.000 sammeln. Gestern wurden die Listen der Senatsverwaltung für Inneres und Sport übergeben.

Nun werden die Unterschriften gezählt und auf eventuelle Ungültigkeit kontrolliert. Erfahrungen aus anderen Sammlungen zeigen, dass es bei einem Puffer von mehr als einem Fünftel der gesammelten Unterschriften sehr unwahrscheinlich ist, dass bei der Prüfung die notwendige Mindestanzahl unterschritten wird.

Die Innenbehörde und die Landesregierung prüfen das Volksbegehren auch noch auf seine Zulässigkeit. Möglich wäre eine Unzulässigerklärung unter anderem wegen Verfassungswidrigkeit, wegen Eingriffen in das Haushaltsgesetz, in innere Angelegenheiten oder in Eigentumsrechte Dritter. Am letzten Punkt scheiterte im März ein Volksbegehren, das die Offenlegung der umstrittenen Geheimverträge zur Privatisierung der Wasserversorgung erzwingen wollte.

Weil der Entwurf zur Wahlrechtsreform aber nicht nur von Juristen, sondern auch vom Büro des Landeswahlleiters bereits vorher unverbindlich geprüft und in möglicherweise kritischen Punkten geändert wurde, rechnet das Bündnis fest damit, dass auch diese Hürde genommen wird. Anschließend wird das Volksbegehren dem Abgeordnetenhaus vorgelegt. Lehnt es die Vorschläge ab, dann müssen sieben Prozent der Wahlberechtigten (beim derzeitigen Stand gut 170.000 Personen) für sie unterschreiben, damit die Berliner Wähler im Herbst 2009 zusammen mit der Bundestagswahl darüber abstimmen können.

Ziel des Volksbegehrens sind mehrere Gesetzesänderungen, die Bürgern mehr Freiheit und Einfluss beim Wählen geben sollen. Dazu sollen sie unter anderem Kandidaten auf den Parteilisten nach vorne wählen können, so dass nicht nur in Hinzerzimmern entschieden wird, wer tatsächlich ins Parlament kommt und wer nicht. Auf kommunaler Ebene hat sich dieses Verfahren bereits in insgesamt 13 Bundesländern bewährt, in Berlin, wo das Panaschieren bisher noch gar nicht möglich ist, soll es auch auf Landesebene umgesetzt werden.

Dadurch wird es dem Wähler möglich, inhaltliche Entscheidungen auch dann zu treffen, wenn sich die Parteien eher innerhalb als voneinander unterscheiden - was nicht nur in der Europa- und Bundespolitik, sondern auch in der Landes- und Kommunalpolitik zunehmend der Fall ist: Wer beispielsweise die kritischen Positionen des SPD-Abgeordneten Hans-Georg Lorenz in der Aufarbeitung des Berliner Bankenskandals belohnen will, der müsste beim herkömmlichen Wahlrecht Abgeordnete mitwählen, die die Risikoabschirmung mehrheitlich befürworteten. Auch in der Berliner CDU gibt es beispielsweise mit René Stadtkewitz auf der einen und Martin Federlein auf der anderen Seite Politiker mit ausgesprochen gegensätzlichen Positionen. Und wer mit der Wahl der Linkspartei eine Stimme gegen das Verscherbeln der öffentlichen Infrastruktur abgeben will, der hat nach der geltenden Regelung Privatisierungsbefürworter wie Klaus Lederer automatisch mit im Boot. Vor allem hinsichtlich des Verkaufs von Wohnungen geht dieser Streit auch bei den Berliner Grünen quer durch die Partei. Wer dagegen mit der FDP gegen Subventionen stimmen will, der wird feststellen müssen, dass es mit Abgeordneten wie Martin Lindner zumindest im Sportbereich eher in die gegenteilige Richtung geht.

Voraussetzung für das Ändern der Liste ist, dass der Wähler einer Partei mindestens eine von insgesamt fünf Zweitstimmen gibt, die er auf mehrere Listen aufteilen kann. Auf diese Weise soll es Wählern auch informell möglich werden, auf die von ihnen bevorzugte Koalition Einfluss zu nehmen. Mit der Erststimme würden dem Vorschlag zufolge in einem Wahlkreis drei bis sieben Mandate vergeben, statt bisher nur eines. Damit sollen die Vorteile des Verhältniswahlrechts (Abbildung des Willens möglichst vieler Wähler) mit dem Mehrheitswahlrecht verbunden werden, ohne dass die Nachteile dieses Verfahrens (in Hinterzimmern erstellte Listen) vielen Wählern einen Anreiz zum Fernbleiben geben.

Die interessanteste Änderung ist möglicherweise die Einführung einer Ersatzstimme, die nur dann zählt, wenn die eigentlich vom Wähler bevorzugte Partei die Fünf-Prozent-Hürde nicht überspringt. Bisher scheiterten Neulinge von außerhalb des etablierten Parteienkartells nicht unbedingt deshalb, weil sie nicht genügend Wähler ansprechen würden, sondern vielmehr, weil diese aufgrund der Unwahrscheinlichkeit, dass eine neue Partei die Fünf-Prozent-Hürde überspringt, Angst haben, ihre Stimme zu "verschenken". Dadurch perpetuierte die Unwahrscheinlichkeit sich selbst beziehungsweise erzeugte sich immer wieder neu, so dass kleine Parteien und mit ihnen innovative Ideen aus den Parlamenten ausgesperrt blieben.

Das Volksbegehren ist nicht identisch mit der parallel laufenden Volksinitiative, welche die Fünf-Prozent-Hürde auf drei Prozent absenken, das Wahlalter auf 16 Jahre herabsetzen und die Berliner Landesregierung dazu verpflichten will, im Bundesrat auf eine Grundgesetzänderung hinzuwirken, die die Teilnahme von Ausländern an Kommunal- und Landtagswahlen erlauben soll. Für diese Initiative liegen derzeit nur knapp 8.000 Unterschriften vor, nötig wären bis zum 2. Oktober ebenfalls 20.000.