Große Erwartungen, überschaubare Ergebnisse

Seite 4: Das Netz als Demokratiesimulation

Der folgende Beitrag ist vor 2021 erschienen. Unsere Redaktion hat seither ein neues Leitbild und redaktionelle Standards. Weitere Informationen finden Sie hier.

In Deutschland dient das Internet - neben der Verbreitung von Pornographie und Raubkopien - auch dem politischen Aktivismus. Zwar ist dieser Aktivismus oft auch regierungs- oder gar systemkritisch, aber die Politik braucht deshalb sicher keine schlaflosen Nächte zu haben. Im Gegenteil - auch in Deutschland erfüllt das Netz die Rolle einer Demokratie- beziehungsweise Partizipationssimulation.

Vor allem bei netzaffinen Bürgern sind beispielsweise Online-Petitionen der letzte Schrei. Mit einem Mausklick kann man sich politischen Forderungen anschließen, so als würde man bei StudiVZ sein Gegenüber "gruscheln"; welche dieser beiden Cyberaktivitäten sinnvoller ist, mag umstritten sein. Online-Petitionen ermöglichen es dem Petenten lediglich, bei Erfolg vor dem Petitionsausschuss des Bundestages vorzusprechen - einen bindenden Charakter haben derlei Petitionen freilich nicht.

Zu trauriger Berühmtheit gelangte dabei eine Online-Petition, die sich im Jahr 2010 gegen das vermeintliche Verbot von Heilpflanzen richtete. Diese Petition ging durch Blogs und Foren und wurde schlussendlich von mehr als 120.000 Menschen unterzeichnet. Dumm nur, dass der Inhalt der Petition nichtig war, da die Regierung überhaupt kein Verbot von Heilpflanzen plante. Wie sich später herausstellte, hatte die Petitionsführerin sich bei ihrer Petition inhaltlich auf einen Artikel bezogen, den sie auf einer dubiosen Verschwörungstheoretikerseite gelesen hatte.

Zweifel an der Ernsthaftigkeit von Online-Kampagnen kommen auch auf, wenn man sich vor Augen hält, dass selbst große Facebook-Gruppen es nicht schaffen, ihren Online-Aktionismus ins Offline-Leben zu überführen. Die Gruppe Save the children of Africa, deren einziger Zweck das Sammeln von Spenden für verschiedene Hilfsprojekte in Afrika ist, verfügt beispielsweise über stolze 1,9 Millionen Mitglieder - an Spenden konnte sie jedoch gerade einmal 13.812 US$ einsammeln, das sind weniger als 1 Cent pro Mitglied.

Ähnlich verhält es sich mit der in Deutschland sehr populären Facebook-Gruppe "Wir wollen Guttenberg zurück". Obwohl diese Gruppe zum Höhepunkt der Guttenberg-Affäre über mehr als 570.000 Mitglieder verfügte, erschienen bei den groß angekündigten Solidaritätsdemos in verschiedenen deutschen Großstädten gerade einmal ein paar hundert Unterstützer, die ihrerseits sogar noch zahlenmäßig in einem Heer von Spöttern untergingen.

Solange die Netzbewohner aber online Petitionen zeichnen oder sich online mit Facebook-Gruppen solidarisieren, kommen sie wenigstens nicht auf die "dumme Idee", ihre Forderungen auf der Straße kundzutun. Trotz großer Partizipation wird das politische Netz in Deutschland abseits rein netzpolitischer Themen inhaltlich weder von den Medien noch von der Politik überhaupt wahrgenommen.

Ernüchterung

Das Internet ist kein rein politisches Medium, das den Menschen zu einem Homo Politicus erzieht. Meist ist eher das Gegenteil der Fall - Pornographie, Raubkopien und oberflächliches Amüsement, das Netz ist ein Aggregator allzu menschlicher Bedürfnisse. Die Studie eines saudischen Forschers offenbarte, dass 70% aller Handyinhalte von saudischen Jugendlichen weder islamistische Propaganda noch demokratische Denkschriften, sondern - wen mag es verwundern - pornographischen Inhalts sind. Autoritäre Staaten dulden daher auch oft lächelnd den Betrieb von Servern mit Raubkopien auf ihrem Staatsgebiet. Wenn die Jugend im Netz nach nackten Brüsten sucht oder die neusten Computerspiele zockt, kommt sie zumindest nicht auf dumme Ideen.

Für Aktivisten und Menschen, die ohnehin bereits hochgradig politisiert sind, ist das Internet ein ideales Medium um sich auszutauschen und um Aktionen zu koordinieren. Die "Gefahr", dass dieser Aktivismus ansteckend sein könnte, hat sich jedoch im Rückblick auf die letzten 15 Jahre als unbegründet erwiesen.

Nye und Keohane hatten 1996 Recht, als sie sagten, dass Information nicht in ein Vakuum fließt, sondern in einen politischen Raum, der bereits gefüllt ist. Der Funke, mit dem die Internetpioniere einen Flächenbrand liberaler Gedanken verbreiten wollten, ist verglimmt. Heute ist die Begeisterung der Ernüchterung gewichen. Das Internet ist nur ein Instrument - weder gut noch böse, weder politisch noch apolitisch.