Hässlicher "Antiautoritarismus"

Seite 2: Die Willkürfreiheit

Weit verbreitet ist die Überzeugung "Ich kann doch machen, was ich will". In der Corona-Pandemie ist diese Parole häufig ausgerechnet dann zu hören, wenn um die Einhaltung der Schutzregeln gebeten wird. Die Freiheit der Willkür, innerhalb der Grenzen, die durch die Rechtsordnung gesetzt sind, souverän und nicht rechtfertigungspflichtig über das eigene Eigentum verfügen zu können, ist für die bürgerliche Gesellschaft zentral.

"Die subjektiven Rechte emanzipieren die Präferenzen der Individuen von allen sittlichen, ethischen oder ästhetischen Qualifikationen: Das Wollen eines Rechtssubjekts ist nicht deshalb berechtigt, weil es etwas Gutes oder Vernünftiges will, sondern allein deshalb, weil es das Wollen eines Rechtssubjekts ist (vgl. dazu Menke 2015, 198-225)" (Loick 2017, 165).

Der formell freie Wille ist derjenige Wille, der seine (Willkür-)Freiheit, sich so oder anders entscheiden zu dürfen. Hayek (2011, 99f.) bezeichnet diese Freiheit als "das höchste Ziel" von Gemeinwesen. Der freie Wille im Sinne des bürgerlichen Rechts ist derjenige Wille, der allein eine solche Freiheit will, die mit der Freiheit anderer Personen koexistieren kann. Der formell freie Wille bildet ein weiteres Moment, das der Verwilderung des Willens Vorschub leistet.

Zur eigenen Meinung pflegen viele eine Beziehung wie zu ihrem Hund: "Wir zwei verstehen uns." Gedanken werden weniger nach der Seite ihres Inhalts, sondern als Privatbesitz oder als Attribut einer Persönlichkeit gewürdigt.

Eine Meinung ist eine subjektive Vorstellung, ein beliebiger Gedanke, eine Einbildung, die ich so oder so und ein anderer anders haben kann; - eine Meinung ist mein, sie ist nicht ein in sich allgemeiner, an und für sich seiender Gedanke.

Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Werke. Band 18. S. 30

Die Gewissheit, es verhalte sich so in der Wirklichkeit, wie man es in der Meinung von ihr annimmt, wird zugleich dementiert. Der auf seine Meinungen Stolze will gar nicht wirklich wissen, ob es sich so verhält, wie er meint. "Kritik und Einwände sind in dieser Sicht ein einziger Anschlag auf die Freiheit, zu denken, wie man will. Dies ist konsequent. Für Subjekte, die durch die Gedanken und Überlegungen, die sie anstellen, nichts als ihre Individualität unterstreichen wollen, ist ein Argument nichts weniger als ein Attentat wider die Ehre und Selbstbestimmung der eigenen Person; es wird damit zur Ursache eines Konflikts. Dessen Lösung besteht in der wechselseitigen Versicherung, für sein Teil habe jeder der Beteiligten recht, wenn auch nur seines" (Dorschel 1992, 233).

Misstrauen

Viele Demonstranten gegen die Corona-Politik übertreffen mit ihrem Egoismus und Egozentrismus noch das in der Marktwirtschaft übliche Ausmaß. Die Marktwirtschaft schwächt Empathie, Vertrauen, Wohlwollen, Anteilnahme und Weitsicht empfindlich.

Viele, die die Maßnahmen gegen die Seuche pauschal ablehnen, zeigen gegenüber den international anerkannten Virologen und Epidemiologen einen extremen Mangel an "Zutrauen zu einem Menschen", das "seine Einsicht dafür ansieht, dass er meine Sache als seine Sache, nach bestem Wissen und Gewissen, behandeln wird" (Hegel 7, 478). Die Skepsis gegenüber unbegründeter Vertrauensseligkeit ist legitim.

Bei den Demonstrationen gegen die Corona-Politik wird eine Mentalität deutlich, die wenigstens auf dieses Thema bezogen keine positive Gesellschaftlichkeit kennt. Damit bezeichne ich hier Verhältnisse, in denen im Rahmen der Arbeitsteilung andere in meinem wohlverstandenen Interesse für mich arbeiten. Der Handwerker, der Lehrer oder der Arzt sind, wenn sie gute Arbeit leisten, meine Repräsentanten. Sie sind dann meine Treuhänder in Feldern, in denen ich mich nicht auskenne.

Als endliches Individuum kann und will ich kein Alleskenner und Alleskönner sein. Ich weiß um die Gefahr der Ausnutzung von Kompetenzen bzw. Expertise und ebenso um soziale Mechanismen, die das verhindern. Ich bin weder leichtgläubig noch voller pauschalem Misstrauen. Unter der Voraussetzung der Gegensätze zwischen Privatinteressen entsteht jedoch eine Mentalität, die sich nicht vorstellen kann, dass die einen für die anderen arbeiten, weil es zum Verständnis ihrer Arbeit als gute Arbeit gehört, mit dem Arbeitsprodukt oder der Dienstleistung das Wohl des Empfängers des Gutes oder des Adressaten des Dienstes zu fördern.

Eine solche gute Arbeit hat "einen intersubjektiv teilbaren Sinn" und ist nicht "einzig ein Mittel zur Einkommenserzielung" (Thielemann 2010, 347). Sie orientiert sich nicht allein an einem strategischen Handeln. "Für die Konsumenten eine 'gute' Leistung zu erbringen heißt, sich nicht opportunistisch an manifeste Kundenwünsche anzupassen und noch weniger, im Kunden bloß die Kaufkraft zu erblicken" (Ebd., 348). Das gehört zum Anforderungsprofil von Professionen.

So etwas können sich Leute mit einem generalisierten bzw. pauschalen Misstrauen nicht vorstellen. Sie müssen annehmen, dass alle alle anderen betrügen. Die Ausnutzung von Kompetenzvorsprüngen zum Betrug gilt diesem Bewusstsein als das Merkmal der Gesellschaft. Wer so denkt, kann sich nur vorstellen, durch direkte Präsenz in jedem arbeitsteiligen Feld und durch eigene Kontrolle dem "Betrug" Herr zu werden.

Das ist praktisch unmöglich. Je mehr sich das misstrauische Bewusstsein auf diese Perspektive versteift, "desto geringer mein Vertrauen, dass ein selbständig handelnder anderer auch Sachen richtig macht, die mich betreffen, - desto größer mein Misstrauen, dass der andere nur seinen eigenen Vorteil verfolgt" (Suhr 1975, 296). Eine solche Mentalität "gebiert das Misstrauen, dass niemand anders als nur ich die Sachen richtig machen kann, die mich betreffen.

Und sie gebiert es nicht nur, sondern ist die Erscheinungsform dieses bodenlosen Misstrauens in den Menschen, das immer von Neuem den misstrauischen Menschen produziert" (Ebd., 297). Dieses Misstrauen fokussiert sich auf die Interessengegensätze in der Marktwirtschaft, ignoriert aber deren Doppelcharakter. Selbst in ihr existiert nicht nur Tauschwert, sondern auch Gebrauchswert, nicht nur Antagonismus, sondern auch Zusammenarbeit von "Partnern" eines Geschäfts.

Auch profitorientierte Unternehmen verarbeiten Vorprodukte und nutzen fremde Dienstleistungen. Würden alle alle betrügen, funktionierte keine Kooperation, keine Lieferkette und keine Kundenbindung. Niemand könnte sich auf die sachgerechte Qualität eines Gebrauchswerts oder einer Leistung verlassen. Gewiss gibt es täuschende Gebrauchswertversprechen und eingebauten Verschleiß.

Das pseudoradikale Misstrauen nimmt die Gesellschaft aber als extremer und d.h. als widerspruchsloser wahr, als sie ist. Wer sie als eindimensional auffasst, kann selbst ihr immanentes Funktionieren nicht begreifen.