ICANN plant erste weltweite allgemeine Wahlen für Internetnutzer

Nach heftiger Kritik wurde der Wahltermin auf dem Treffen in Kairo verschoben und eine direkte Wahl favorisiert, noch aber wissen zu wenige Bescheid über die Aufgaben der ICANN

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Relativ wenig Interesse weckt bislang ein einzigartiges Experiment: die Durchführung der ersten globalen Wahl, mit der neben neun schon gewählten Vertretern bestimmter Interessensgruppen auch neun Vertreter aller Internetbenutzer in das 18köpfige Direktorium der ICANN einziehen sollen.

Die Internet Corporation for Assigned Names and Numbers (ICANN) wurde letztes Jahr als nichtkommerzielle Organisation von der US-Regierung für die Verwaltung der technischen Aspekte des Internet geschaffen, die das DNS-System (Namensvergabe-System) im Internet koordinieren, einen Wettbewerb bei der Vergabe von Domainadressen und IP-Nummern einzuführen, die Vergabe der IP-Adressen neu regeln, neue Standards für Internetprotokolle entwickeln und das Root-Server System im Netz organisieren soll. Hauptaufgabe ist die Sicherstellung der Stabilität der DNS-Verwaltung, um die Sicherheit und Verlässlichkeit des Internet zu garantieren. Damit übt sie aber eine Kontrolle über die Architektur des Internet aus. Rein "technische" Regelungen können durchaus schwerwiegende politische Entscheidungen haben. Einen ersten Vorschein kann man schon in der Regelung für die Vergabe von Domainnamen entwickeln. Im Fall von Cybersquatting hat ICANN nicht nur mehrere Schiedsgerichte zur Lösung der Konflikte beauftragt, sondern auch deutlich die Inhaber von Markennamen bevorzugt (Neuer Fall von Domainnamen-Rückforderung).

Das amerikanische Wirtschaftsministerium hatte in einem White Paper zur Gründung der zu schaffenden privaten und nichtkommerziellen Organisation mit auf den Weg gegeben, dass sie weltweite Wahlen abhalten muss, um eine Repräsentation aller Internetbenutzer zu gewährleisten. Eine demokratisch legitimierte internationale Nicht-Regierungs-Organisation sollte konstituiert werden, die nicht ausschließlich von technischen Experten und kommerziellen Interessen beherrscht wird, da die Entscheidungen schließlich alle Internetbenutzer betreffen. Das war natürlich auch ein Schritt der amerikanischen Regierung, um die Kritik zu entkräften, sie wolle weiterhin das Internet kontrollieren. Gleichzeitig aber bleibt die ICANN, auch wenn sie ihre Konferenzen, die starken Druck erst seit kurzem öffentlich zugänglich sind, wechselnd an verschiedenen Orten der ganzen Welt abhält und sich so als eine mobile internationale Organisation zeigt, eine Organisation, deren Sitz sich in den USA befindet und die dem kalifornischen Recht unterliegt. Auch der zentrale Root-Server befindet sich weiterhin in den USA, überdies muss ICANN eine ganze Reihe von Entscheidungen noch immer mit dem US-Wirtschaftsministerium abstimmen. Das war etwa der Fall, als es um die Finanzierung der Organisation durch Registrierungsgebühren ging. Ganz autonom ist also ICANN wahrhaft noch immer nicht.

Beim ICANN-Treffen in dieser Woche in Kairo ging es denn neben der möglichen Schaffung von neuen TLDs (Telepolis.sucks) um die Durchführung dieser weltweiten Wahlen, die eigentlich für Juli und September dieses Jahres vorgesehen waren. Das vorläufige Direktorium der Organisation hatte es wohl auch eilig, die Wahl durchzuführen, um endlich die ICANN wirklich in Gang zu bringen und sich der Arbeit zu entledigen, die wegen der permanenten Kritik wahrscheinlich auch nicht nur angenehm ist. Kurz vor der Sitzung wurde schließlich noch ein Bericht zu den Wahlen von Common Cause und dem Center for Democracy and Technology (CDT) veröffentlicht, der eine Verschiebung der Wahlen empfahl, weil noch viele der Fragen ungelöst seien.

Einen Monat vor der Sitzung in Kairo hatte ICANN bereits eine Website eingerichtet, auf der sich die Wahlwilligen registrieren lassen konnten. Einzige Bedingung dafür: Besitz einer EMail-Adresse, eine Adresse für einen festen Wohnsitz, älter als 16 Jahre. Vorgesehen war, dass die Wähler Internet aus den fünf Weltzonen, ausgestattet mit einer PIN-Nummer, über das Internet zunächst ein "At-Large Council" von 18 Personen wählen, das wiederum die neun "At-Large"-Direktoriumsmitglieder wählt. Jeweils zwei Vertreter im Council und ein Vertreter im Direktorium muss aus einer der Weltzonen stammen. Zunächst sollten nur sechs Vertreter für den "At-Large Council" gewählt werden, die drei Direktoriumsmitglieder wählen. Die Wahl der restlichen Vertreter sollte Ende September erfolgen, nachdem erst einmal die erste Testwahl analysiert worden ist. Als Mindestbeteiligung waren 5000 Wähler angesetzt, bei mehreren Hundert Millionen Internetbenutzern auch nicht gerade eine repräsentative Größe für die Gültigkeit der Wahl. Bis Freitag hatten sich bereits 6000 Wähler registrieren lassen, was ICANN schon als Erfolg verbucht. Mit 70 Prozent der Wahlwilligen aus Nordamerika und 20 Prozent aus Europa hat die Wählerbeteiligung freilich kaum Anspruch auf eine angemessene internationale Repräsentation, auch wenn sich darin faktisch das noch bestehende nordamerikanisch-europäische Übergewicht teilweise spiegelt. Die meisten derjenigen, die sich registrieren ließen, sind überdies Männer im Alter zwischen 20 und 40 Jahren.

Unzufrieden mit der allgemeinen Wahl von Internetbenutzern, ein absolutes Novum für eine internationale Organisation, zeigten sich allerdings Interessenvertreter aus der Wirtschaft, aber auch Direktoriumsmitglieder. Esther Dyson und Vinton Cerf äußerten noch einmal während der Konferenz in Kairo ihre Befürchtungen, dass direkte Wahlen des Internetvolks zu Repräsentanten führen könnten, die nicht genug Wissen über die technischen Regelungen des Internet besitzen. Dyson meinte, dadurch könnten Menschen, "die nicht wissen, was sie tun, die individuell dumm sind", ins Direktorium gelangen. Auch der Bericht führte an, dass viele skeptisch den bislang vorgesehenen Wahlen gegenüberstehen, weil die meisten der Wähler nicht wissen würden, was die ICANN ist und was sie macht. Das eröffne aber, zusammen mit der Voraussetzung des sehr niedrig angesetzten Quorums, der Möglichkeit Tür und Tor, dass sich hier bestimmte, besser organsierte Interessensgruppen durchsetzen könnten. Wenn es aber dann heißt, dass "nicht jeder mit einer EMail-Adresse ausreichend interessiert und informiert" sei, um an der Wahl teilnehmen zu können, dann offenbart dies zumindest ein seltsames Demokratieverständnis, schließlich finden allgemeine Wahlen auch in Bezug auf politische Themen statt, über die die Wähler in aller Regel nicht allzusehr Bescheid wissen. Sollte man also eine Expeten- oder Elitendemokratie schaffen, womöglich mit einer Eingangsprüfung über grundlegendes Internetwissen?

Weitere Kritikpunkte des Berichts waren eine genaue Festlegung der Aufgaben von ICANN, die indirekten Wahlen, ein fehlender Nominierungsprozess, zu geringe Anstrengungen das Internetvolk über die Wahlen und ICANN in Kenntnis zu setzen, die schlechten Chancen für Vertreter von minoritären Positionen bei der zweistufigen Wahl, die Überprüfung der Wahl durch ein unabgängiges Gremium oder die mangelnden Vorkehrungen zur Sicherung einer fairen Wahl ohne Betrug und Korruption. Der Bericht empfahl zur weiteren Diskussion dieser Fragen eine Verschiebung.

Immerhin wurde nach einer eintägigen und hitzigen Debatte in Kairo, bei der auch die Abschaffung der allgemeinen Wahlen gefordert wurden, beschlossen, die erste Wahl zumindest einige Monate bis spätestens 1. November zu verschieben, um Zeit für das Überdenken der Wahlprozeduren zu gewinnen. Erstmals folgte damit das Direktorium, das einer Verschiebung ablehnend gegenüberstand, dem Votum der Teilnehmer beim öffentlichen Treffen, was Jerry Berman vom CDT gleich als "entscheidenden Augenblick für das Internet" feierte: "Sie hörten auf die Stimme des Volkes, und sie gaben den Menschen eine Stimme." Allerdings sind auch solche Abstimmungen bei den öffentlichen Sitzungen schwerlich als demokratisch zu bezeichnen, denn wer kann schon immer der ICANN über die ganze Welt nachreisen.

Der neue Plan für die Wahl sieht jetzt vor, dass in einer direkten Wahl die ersten fünf Direktoriumsmitglieder gewählt werden sollen. Ein vom ICANN-Direktorium eingesetztes Nominierungskomitee soll die zur Wahl stehenden Kandidaten vorschlagen, aber auch Internetbenutzer können Vorschläge einreichen. Die Wahlprozedur für die weiteren vier Mitglieder wurde noch nicht festgelegt, auch nicht, wer von jetzigen neun Direktoriumsmitglieder solange noch im "Amt" bleiben wird. Stattfinden soll der Rest der Wahl dann im Jahr 2002. Unklar freilich ist auch, ob die ersten fünf Direktoriumsmitglieder bereits jeweils eine der fünf Weltzonen repräsentieren sollen. Dyson lehnte dies beispielsweise ab, weil Kompetenz wichtiger als die geographische Region sei, kritisierte aber auch, dass bislang Frauen im Direktorium unterrepräsentiert seien: "Wir dürfen nicht glauben, dass wir genügend Vielheit haben, wenn wir eine geographische Vielheit erreichen."

Bislang hat das aufregende Experiment in Sachen Demokratie und Internet auch in Europa wenig Interesse ausgelöst. Die EU-Kommission scheint sich erst einmal damit zufrieden geben zu wollen, die längst geforderte .eu-Domain zu erhalten (Doteu: Vertane Chance?, EU-Kommission fordert die Top Level Domain .eu). Immerhin hatte die Bertelsmann Stiftung im Februar angekündigt, die europäische Beteiligung an den ICANN-Wahlen zu fördern: "Während die ICANN-Wahlen in den USA breit diskutiert werden, findet die fundamentale Weichenstellung, die mit der Wahlentscheidung einhergeht, bisher in Deutschland und Europa kaum Beachtung. Dieses Defizit zu beseitigen, ist Ziel des Projektes "Demokratisches Internet" der Bertelsmann Stiftung. Das Projekt soll unter anderem über ICANN informieren, und so eine breitere Öffentlichkeit, wie auch politische Akteure, zur aktiven Begleitung des Prozesses veranlassen. Es soll auch dazu beitragen, dass die Organisationsstruktur und Arbeitsweise von ICANN und der Wahlverlauf demokratischen Prinzipien - Transparenz, Repräsentation, Gleichheit - entsprechen. Durch das Projekt wird die Bildung einer europäischen ICANN-Wählerschaft und die Nominierung europäischer Kandidaten unterstützt." Bislang aber wurde nach der Presseerklärung nichts mehr von diesem Projekt vernommen. Auf Anfrage über genauere Inhalte kurz nach der Veröffentlichung vertröstete man uns auf bald erfolgende Informationen, die aber noch immer nicht eintrafen.

In Kooperation mit DENIC und der Internet Society/German Chapter sowie mit Unterstützung des Bundeswirtschaftsministeriums wird von der Universität Leipzig und dem NETCOM Institut am 30. und 31. März in Leipzig eine erste Tagung des ICANN Studienkreises mit dem Titel: "ICANN im Spannungsfeld zwischen Politik, Wirtschaft und Kultur" veranstaltet. Dabei geht es natürlich auch um die ICANN-Wahlen. Vielleicht ist ja das eine Chance, das wirklich wichtige Thema Internet, Demokratie und ICANN bekannter zu machen.