In den Fängen der Big Four

Seite 4: Internationale Bilanzierungsstandards aus einem Briefkasten im US-Steuerparadies Delaware

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Mit einem Marktanteil von 39,2 Prozent (FTSE 100) ist Deloitte der größte der Big Four. Um mögliche Schadenersatzansprüche von Firmen und Staaten auszuschließen, verleiht die in London ansässige Deloitte Touche Tohmatsu Limited (DTTL) nationalen Bilanzprüfern das Recht, sich in eigener Rechtsform "Deloitte" nennen zu können. Jede dieser unabhängigen Töchter wiederum gliedert sich - etwa in den USA - in rechtlich unabhängige Gesellschaften auf, etwa so:

  • Deloitte & Touche LLP
  • Deloitte Consulting LLP
  • Deloitte Financial Advisory Services LLP
  • Deloitte Tax LLP

In den USA sitzen diese Gesellschaften im Steuerparadies Delaware. Dort hat aber auch die größte Lobbyorganisation der Big Four, die International Financial Reporting Standards Foundation (IFRS), seit 2001 ihren Sitz. Sie hat allen Grund, sich dort wohl zu fühlen: Etwa die Hälfte der börsennotierten US-Unternehmen haben ihren Rechtssitz ebenfalls in Delaware, wo statt Unternehmensgewinnen nur das Aktienkapital besteuert wird - und zwar mit einem Maximalsatz von 180.000 Dollar: pro Jahr.

Die von der IFRS und ihrer Tochter, dem IASB, verbreiteten Bilanzstandards sind unter anderem in den USA und in der EU verbindlich, wenn ein Unternehmen börsennotiert sein möchte. Die Kosten für die Einhaltung der Standards sind derart hoch, dass sie etwa bei gewinnschwachen Unternehmen in Europa durchaus die Höhe des Jahresgewinns ausmachen können.

Diese Kosten addieren sich in den Bilanzkosten der Unterbilanzen der Divisions und Auslandstöchter, so dass die Bilanzkosten der Konzernzentrale nicht übermäßig erscheinen. Kein Audit verlangt bisher die Offenlegung der gesamten Bilanzierungskosten inklusive der IT-Umgebung und Software im Verhältnis zum Unternehmensgewinn. Die durch die von den Big Four und ihren Lobbytöchtern verbreiteten Bilanzierungsstandards IFRS/IAS und SOA aufgeblähten Kosten der Bilanzabteilungen der börsennotierten Unternehmen gehen erst gar nicht in die Kalkulation ein.

Die Webseite des IASB wird der Einfachheit halber direkt von Deloitte betrieben. Die Aussage, das IASB sei ein "unbhängiges, privatwirtschaftliches Unternehmen", ist insofern völlig korrekt. Im IASB Board findet sich zwischen Managern von Moody's bis KPMG allenfalls mit Hans Hoogervorst, dem ehemaligen Vorsitzenden der niederländischen Finanzaufsicht, ein Mitglied, dem man entfernt Gemeininteresse unterstellen könnte.

Was immer nationale Finanzaufseher und Kämmerer planen, um Steuerlöcher zu schließen - das IASB und seine Mutter, die IFRS, werden immer einen Schritt voraus sein. Das IASB hat es erreicht, dass seit 2005 auch alle Unternehmen in den EU-Staaten nach den Richtlinien der Amerikaner bilanzieren müssen. Nach den Richtlinien eines Privatunternehmens, das seinen Sitz in einem Postfach in Delaware hat.

Die Big Four haben ein soziales Netzwerk geschaffen, gegen das Facebook und Twitter wirtschaftlich Peanuts sind

Mit der Finanzkrise sahen die Big Four die Chance, die erfolgreiche Standardisierung auf die Staatsbilanzen auszudehnen und wählten wiederum die gleiche Konstruktion: Ein sogenanntes IPSASB Board verbreitet nun die Standards, nach denen Staaten ihre Finanzen offenlegen sollen. IPSASB-Vorsitzender Bergmann weist darauf hin, dass die meisten Boardmitglieder Mitarbeiter staatlicher Behörden sind. Dadurch entsteht der Eindruck, es handle sich um dem Gemeinwohl dienende und im öffentlichen Interesse liegende Maßnahmen.

Offensichtlich fühlen sich viele Staatsbedienstete an Universitäten und in Behörden geehrt, in einer der vielen Boards der Big-Four-Lobbyorganisationen an internationalen Konferenzen teilnehmen und vom Respekt gegenüber einer extrem gut vernetzten, weltweiten Lobby profitieren zu können.

Die Big Four haben ein soziales Netzwerk geschaffen, gegen das Facebook und Twitter wirtschaftlich Peanuts sind. Sie rechtfertigen ihre absurden Honorare stets damit, dass ihre Bilanzen eine weitaus höhere Steuerersparnis bringen, als sie den Kunden kosten. Nun ködern sie mit einem ähnlichen Versprechen auch Staaten. "Ihr spart Zinsen", locken die Wirtschaftsprüfer.

Mit einem Jahresbudget von 28 Million Dollar (2012) ist die IPSASB-Mutter IFAC in der Lage, Reise- und Sitzungskosten zu erstatten und sogar Castings für die Besetzung der Posten zu veranstalten. Nach eigenen Angaben arbeitet die IFAC eng mit dem IASB zusammen.

Die völlig intransparenten und verschachtelten Strukturen von IFRS, IASB, IFAC, IPSAS, IPSASB haben System: Öffnet man eine Schachtel, können die Protagonisten stets behaupten, es sei die falsche.

Allerdings bedarf es des wirtschaftlichen Eigeninteresses der Big Four zur Verbreitung der Bilanzstandards für Staaten nur bedingt: Die seit Jahren von den Harvard-Ökonomen Kenneth Rogoff und Carmen Reinhart verbreitete Ideologie, Staatsschulden seien nicht an den Staatseinnahmen, sondern an einer bilanziell manipulierbaren Fiktion namens "Bruttoinlandsprodukt" zu messen, ist durch das Maastricht-Kriterium fest verwurzelt. Sie wird ebenso vehement von der EU-Kommission und von der Europäischen Zentralbank vertreten, deren Ökonomen Philipp Rother und Christiane Nickel noch bis vor kurzem in einer von der INSM (Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft) finanzierten Publikation behaupteten, eine Verbesserung des Maastricht-Kriteriums sei eine "Reduktion von Schulden", obwohl von den so gerühmten Staaten keiner einen Euro tilgte.

Die mit der Maastricht-Sichtweise verbundene Annahme, nur Wirtschaftswachstum und Spaßmaßnahmen könnten die Staaten aus dem Schuldensumpf retten, führt in das gefährliche Paradox, im Namen des Wirtschaftswachstums weiter Steuerlöcher aufrecht zu erhalten.

Nicht nur die EU-Kommission, auch viele Regierungen lassen sich von den Big Four und ihren ideologisch verblendeten VWL-Beamten regelrecht über den Tisch ziehen, anstatt selbstbewusst die Erfolge einer 2012 deutlich verbesserten Finanzpolitik inmitten der Krise zu verteidigen.

Und das EU-Parlament? Der von der EU-Kommission vorgegebene Standardisierungsgrund "Harmonisierung der Staatsbilanzen" nach dem Vorbild ausgerechnet von Malta und Spanien erscheint offenbar keinem Parlamentarier unlogisch.

Offenbar sehen viele EU-Abgeordnete IPSAS als längst notwendige Reform und erhoffen von ihr die versprochene Zinssenkung und Strafbefreiung für Bilanzsünder. Und so wird am 29. und 30. Mai in Brüssel unter Ausschluss der Öffentlichkeit die gemeinsame Konferenz "Towards implementing European Public Accounting Standards" von Eurostat mit dem IPSASB stattfinden. Es geht nicht mehr um die Diskussion der Standards, nur noch um ihre Implementierung. Als "indisputible reference" bezeichnete die EU-Kommission in ihrem Bericht an EU-Parlament und Rat am 6. März 2013 die IPSAS-Standards.

Dazu passt dann auch die Keynote, die ausgerechnet jener EU-Kommissar halten wird, der als seine Leistung für die europäischen Steuerzahler die Beseitigung "steuerlicher Hindernisse für grenzüberschreitende Unternehmen" ausgibt: Algirdas Šemeta.