"Jerusalems Schuld bis zum Gottesmord"

Beim jüdisch-christlichen Dialog sind die Kirchenhierarchie und das Zentralkomitee der deutschen Katholiken uneinig. Auch der jeweilige historische Bewusstseinsstand zeugt nicht von Gleichzeitigkeit

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Der Papst hat sich auf seiner Israelreise nicht zu falscher Diplomatie verleiten lassen und die „legitimen Ansprüchen auf einen unabhängigen palästinensischen Staat“ klar benannt. Eine spektakuläre Botschaft zum Gespräch mit dem Judentum gab es nicht. Der innerkirchliche Streit um den Dialog wird weitergehen, zumal hierzulande. Die deutsche Bischofskonferenz distaniert sich von einer Erklärung des Gesprächskreises „Juden und Christen“ beim Zentralkomitee der deutschen Katholiken. Während Benedikt XVI. in der außerordentlichen tridentinischen Liturgie 2008 das „Gebet für die Bekehrung der Juden“ wieder eingeführt hat, sprechen die Zentralkomitee-Katholiken ein unmissverständliches „Nein zur Judenmission“. Es geht um Theologie, doch im Hintergrund steht vor allem die Bereitschaft einer neuen Generation von katholischen Frauen und Männern, sich endlich ohne die Verblendungen des ultramontanen Selbstlobkollektivs mit der Geschichte auseinanderzusetzen. Wenn die mittlere und oberste Kirchenleitung den Anschluss nicht wagen, sind weitere Skandale von größtem Ausmaß vorprogrammiert.

Rolf Hochhuth, der notorische Verleumder der römisch-katholischen Kirche, hatte 1998 sein Theaterstück „Der Stellvertreter“ erneut zu rechtfertigen1. Er führte ein Zitat von Pius XII. an. Als in halb Europa die Juden verfolgt wurden und das Massenmorden in den von Deutschen besetzten Gebieten längst begonnen hatte, habe dieser Papst vor der Kurie in einer Ansprache gesagt:

Jerusalem hat seine Einladung und seine Gnade mit jener starren Verblendung und jenem hartnäckigen Undank beantwortet, die es auf dem Weg der Schuld bis zum Gottesmord geführt hat!

Mit Blick auf den 50. Todestag und die geplante Seligsprechung von Pius XII. wiederholte er dieses Zitat 2007 in einem Spiegel-Interview. „Ungeheuerlich“, meinte der interviewende Redakteur Alexander Smoltczyk, „… wenn es stimmen würde.“ Doch ein Zitat wird nicht dadurch falsch, dass ein Rolf Hochhuth, dem man ein gewisses Interesse unterstellt, es anführt. Der besagte „Gottesmördervorwurf“ an die Adresse der Juden stammt aus der Weihnachtsansprache vor den Kardinälen und Bischöfen, die Papst Pius XII. am 24.12.1942 gehalten hat. Dokumentiert wird diese Rede im 35. Jahrgang der „Acta Apostolicae Sedis“, dem Amtsblatt des Vatikans.2 In den Kreisen der vom deutschen Papst wieder in die Kirche aufgenommenen Traditionalisten schmäht man die Juden noch heute als „Gottesmörder“. Seit dem Williamson-Skandal kann man in Medien wie kreuz.net zur Kenntnis nehmen, wie unglaublich groß der Bodensatz rechtskatholischer Hetze gegen die Juden ist. Der Vatikan aber arbeitet unverdrossen an einer Seligsprechung von Pius XII. Noch im Oktober 2008 hat Papst Benedikt XVI. für einen „glücklichen Fortgang“ dieses Unternehmens gebetet. Die halsstarrige Weigerung, historische Fakten zur Kenntnis zu nehmen, ist erklärungsbedürftig. Es geht um die Verfeierlichung der eigenen Geschichte. „Triumphal“ nennt man das.

Stellvertreterdebatte statt kirchlicher Strukturdebatte

Schon der katholische Historiker John Cornwell hat mit seinem Buch über den „Papst, der geschwiegen hat“ nicht das Bild eines Ungeheuers gemalt.3 Pius XII. hat mit sich gerungen, hegte große Skrupel und war hinsichtlich der vom Faschismus begangenen Verbrechen tief betroffen. Doch es kann nicht angehen, weiter ein Seligsprechungsverfahren zu betreiben, wo die Forschung bestenfalls ein tieferes Verständnis für das tragische Versagen dieses Papstes zutage fördern kann.4 Das Meer der Fragen ist groß. Der Geschichtswissenschaft müsste man nach der noch nicht erfolgten Freigabe der zeitlich maßgeblichen Archivbestände im Vatikan zumindest zehn Jahre Zeit lassen, um die Grundlage für ein besseres Verstehen zu erarbeiten. Das, was gegen eine „Heiligsprechung“ spricht, ist allerdings hinlänglich belegt.

Pius XII. teilte den obligaten religiösen Antijudaismus seiner Zeit, er hat sich in antikommunistischen Kontexten gehässig gegen Juden geäußert, er war vor Ende 1944 kein Fürsprecher der Demokratie und hat auch nach 1945 die Nähe zu Rechtsaußenkreisen nicht gescheut. Es gibt KEINE einzige öffentliche Anklage aus seinem Mund, in der das Wort „Jude“ im Zusammenhang mit Verfolgung vorkommt (die als Widerspruch zu deutende Weihnachtsbotschaft von 1942 wird im Licht des oben genannten „Hochhuth-Zitates“ noch problematischer). Seine eigene Rechtfertigung zum Schweigen besagt, er habe „Schlimmeres“ [?] verhindern wollen. Es ist historisch zumindest ganz abwegig, dies als einzige Motivation seines Handelns anzunehmen.

Außerdem gab es zeitgleich genügend katholische Christen, die um die moralisch-praktische Unhaltbarkeit dieser Argumentation von Pius XII. wussten (es gab in Europa erfolgreichen kirchlichen Widerstand gegen Juden-Deportationen). Schließlich bleibt zu fragen, warum erst sein Nachfolger Johannes XXIII. ab 1958 den Weg gebahnt hat für ein neues Miteinander von Katholiken und Juden (Papst Johannes XXIII. hat sogar inmitten der Karfreitagsliturgie einen Kardinal gemaßregelt, der die alte Gebetsformel gegen die „perfiden Juden“ benutzte). 1945 waren ja für Pius XII. die angeblichen Gründe für das Schweigen ganz weggefallen.

Daniel Jonah Goldhagen betont allerdings nachdrücklich, dass die ewige Pius-Debatte vor allem auch eine Stellvertreterdebatte ist. Sie lenkt ab von einem viel breiteren Blick auf die römisch-katholische Kirche und auf die ideologischen und strukturellen Wurzeln ihres Versagens. Eine strikte Unterscheidung zwischen dem „Antisemitismus“ der Rassisten und dem zur Zeit von Pius XII. als legitim angesehenen katholischen „Antijudaismus“ ist aufgrund des heutigen Forschungsstandes so nicht mehr möglich (es bleibt ohnehin die simple Frage, wer – wenn nicht der zweitausendjährige christliche Judenhass – den Weg für den „Antisemitismus“ bereitet haben soll).

Was ist das für eine Kirche gewesen, die ihre Konkordatspolitik wie ein goldenes Kalb umtanzte? Die klerikale Bevormundung der „Laien“ verhinderte, dass couragierte Leute der Zentrumspartei zusammen mit Sozialdemokraten die letzte Chance wahrnehmen konnten, eine „Machtübernahme“ der Faschisten zu vereiteln. Wie man es dreht und wendet, das von der kirchlichen Obrigkeit über alles andere gestellte Konkordat hat – im Vorfeld und erst recht später – den Katholizismus von unten kastriert. Die Sorge um den Erhalt der eigenen hierarchischen Strukturen, brennender als alles andere, wäre – so heißt es – Sorge um millionenfaches Seelenheil gewesen (welches die kirchlichen Sakramente gewährleisten). Doch hat eine Kirche, die ihren Mitgliedern – vom Dorfgendarmen bis hin zum Regierungsmitglied – nicht wirksam vermittelt, dass man sich an einem massenmörderischen System nicht beteiligen darf, das Recht, sich als Anwalt irgendeines Seelenheils aufzuspielen?

Der Nazi-Staat und das Autoritätsprinzip

Das Versagen im „Dritten Reich“ ist somit in erster Linie der Hierarchie zuzuschreiben. Kirchenvolk und politischer Katholizismus hegten allerdings viel zu großes Vertrauen in ihre Hirten und mussten dies – wie etwa der Zentrumspolitiker Heinrich Brüning – oft bitter bereuen. Eine zentrale Rolle spielt das autoritäre Führerprinzip, welches das I. Vatikanum 1870 mit seinen neuen Papstdogmen kanonisiert hat. Diese Kritik ist keine Erfindung von Kirchenfeinden. Der Kölner Prälat Robert Grosche klagte 19335:

Als im Jahre 1870 die Unfehlbarkeit des Papstes definiert wurde, da nahm die Kirche auf der höheren Ebene jene geschichtliche Entscheidung voraus, die heute auf der politischen Ebene gefällt wird: für die Autorität und gegen die Diskussion, für den Papst und gegen die Souveränität des Konzils, für den Führer und gegen das Parlament.

In der Tat betrachtete der Dogmatiker Michael Schmaus, einer der späteren Lehrer Joseph Ratzingers, im gleichen Jahr „die starke Betonung der Autorität in der neuen Staatsführung“ als wesensverwandtes, natürliches „Gegenstück zur kirchlichen Autorität auf übernatürlichem Gebiet“. Er setzte die Kenntnis der „autoritären Führung der Kirche“ voraus und sah durch den neuen Zeitgeist ein besseres Verständnis für diese als gegeben an. 1933 prophezeite er passend dazu, das jüdische Volk werde „seinen Wahn mit der Verwerfung“ büßen müssen. Der katholische Kirchengeschichtsprofessor Joseph Lortz, NSDAP-Mitglied, sprach ebenfalls wohlwollend von einer „grundlegenden Verwandtschaft zwischen Nationalsozialismus und Katholizismus“ im Kampf gegen Bolschewismus, Liberalismus und Relativismus (er hat dies später als einer der wenigen wirklich aufrichtig bedauert). Prälat Ludwig Kaas, ein Vertrauter von Eugenio Pacelli (später: Pius XII.) und klerikaler Kopf des Rechtsschwenks in der Zentrumspartei, hatte zu diesem Zeitpunkt schon von einer idealen „Vereinbarung zwischen dem modernen totalitären Staat und der modernen Kirche“ gesprochen: „Der autoritäre Staat musste die autoritäre Kirche besser in ihren Postulaten verstehen als andere.“

Die deutschen Bischöfe und das Kirchenvolk

Ausdrücklich bejahten die deutschen Bischöfe in ihrem Hirtenbrief vom 3.6.1933 die starke Betonung der Autorität seitens des neuen Nazi-Staates. Nicht wenige engagierte „Laien“ sahen dieses Bischofsschreiben als eine schlimme Irreführung des Kirchenvolkes an und fühlten sich verraten. Anders als bei ihren Kollegen in Holland oder zum Teil in Frankreich ist von einem kritischen Wort der deutschen Oberhirten zur Judenverfolgung nichts bekannt.

Vielleicht lässt sich das Drama gerade bei einem der hier eher unverdächtigen Mitglieder der deutschen Bischofskonferenz am besten aufzeigen. Der Münchener Kardinal Faulhaber war von Haus aus Alttestamentler und engagierte sich – inspiriert von einer Konvertitin – für die Verständigung von Juden und Katholiken. Während jedoch die „Laien“ des Friedensbundes deutscher Katholiken in Düsseldorf ihre Stimme gegen einen Boykott jüdischer Geschäfte erhoben, schrieb er an Kardinalssekretär Eugenio Pacelli am 10. April 19336:

Uns Bischöfen wird zur Zeit die Frage vorgelegt, warum die katholische Kirche … nicht für die Juden eintrete. Das ist zur Zeit nicht möglich, weil der Kampf gegen die Juden zugleich ein Kampf gegen die Katholiken werden würde, und weil die Juden sich selber helfen können …

Besonders schmerzlich empfand der Kardinal es in diesem Brief, dass auch „getaufte und gute Katholiken“ mit ebenfalls katholischen Eltern „gesetzlich noch als Juden gelten“. An anderer Stelle erklärte Faulhaber jedoch, man gehe „jetzt förmlich mit Mitleid für die getauften Juden hausieren“, wiewohl doch niemandem bei der Taufe irdische Vorteile versprochen würden.

Der deutsche Episkopat ermahnte von 1933 bis 1945 seine Schäfchen zur Treue gegenüber der „rechtmäßigen Obrigkeit“ und redete – so er sich nicht schon selbst ohne jede Scham lobte – ab 1945 immer noch von einem tragischen Konflikt angesichts der gottgewollten Pflicht zum Gehorsam gegenüber der „rechtmäßigen Obrigkeit“. Ihre eigene diesbezügliche Geschichte hat die deutsche Bischofskonferenz noch nicht schreiben lassen. Sie würde ein dickes Buch ergeben und zeigen, dass „Rom“ nicht immer an allem die Schuld trägt (der Breslauer Kardinal Bertram, der dem Führer immer brav staatskirchliche Glückwünsche schickte und nach Hitlers Selbstmord ein feierliches Requiem für angebracht hielt, hatte z.B. bei Pius XII. einen denkbar schlechten Ruf). Kein Geringerer als Konrad Adenauer wird 1946 äußern7:

Nach meiner Meinung trägt das deutsche Volk und tragen auch die Bischöfe und der Klerus eine große Schuld an den Vorgängen in den Konzentrationslagern. … man hat auch gewusst …, dass in den Konzentrationslagern große Grausamkeiten verübt wurden … Die Judenpogrome 1933 und 1938 geschahen in aller Öffentlichkeit. … Ich glaube, wenn die Bischöfe alle miteinander an einem bestimmten Tage öffentlich von den Kanzeln aus dagegen Stellung genommen hätten, sie vieles hätten verhüten können. Das ist nicht geschehen, und dafür gibt es keine Entschuldigung. Wenn die Bischöfe dadurch ins Gefängnis oder in Konzentrationslager gekommen wären, so wäre das keine Schande, im Gegenteil. Alles das ist nicht geschehen und darum schweigt man am besten.

Braune Theologen und die katholische Hitlerjugend-Generation

Über die braune Vergangenheit namhafter katholischer Theologen liegen durchaus schon Arbeiten vor.8 Indessen scheinen sie wenig gelesen zu werden.

Joseph Ratzinger nennt z.B. ganz unbefangen im Vorwort seines Buches „Jesus von Nazareth“ (2007) in positivem Kontext den Theologen Karl Adam (1876-1966). Wäre ihm bewusst gewesen, dass dieser wegen seiner NSDAP-Mitgliedschaft und der Schnittmengen hin zum völkischen Denken in der Forschung kritisch bedacht wird, hätte er dies wohl unterlassen. Eine Folge der Ignoranz ist auch, dass Beiträge wie der Artikel Die braunen Lehrer des Papstes im „Tages-Spiegel“ (Schweiz) vom 8.5.2009 erscheinen. Darin schreibt Michael Meier, es werde weithin verschwiegen:

dass Ratzinger seine Karriere nazifreundlichen Förderern verdankt. Allen voran dem Regensburger Bischof Rudolf Graber, dem einstigen Rechtsaußen der Deutschen Bischofskonferenz. … Als Joseph Ratzinger, traumatisiert von der 68er-Revolte, von der Universität Tübingen in den „unaufgeklärten Herrgottswinkel Regensburg“ floh (Hans Küng), war es Graber, der für seinen Zögling den geplanten Judaistik-Lehrstuhl in einen Lehrstuhl für Dogmatik umwandeln ließ. Graber hatte 1933 geschrieben: „Die nationalsozialistische Bewegung hat einen unverkennbar messianischen Schwung […].“ Und: „Die germanische Rasse trat als gesunde, unverbrauchte Rasse ein in die Geschichte. Sie ist nicht angekränkelt von der sittlichen Fäulnis der ausgehenden Antike, sondern tritt froh und freudig mit ihren blauen Augen und blonden Haaren hinein in die Welt, die ihr gehört."

Redlicherweise kann niemand dem Papst anlasten, dass er bei der Hitlerjugend gewesen ist oder Lehrer mit einer bedenklichen Vergangenheit hatte (auf wen in seiner Generation träfe das nicht zu?). Es kann auch keine Familienhaftung dafür geben, dass der Großonkel Georg Ratzinger (1844-1899) pseudonym zwei Hetzbücher9 gegen „die Juden“ verfasst hat (diesem Großonkel wird z.B. auch ein Buch aus der Döllinger-Schule zugeschrieben, das sich wohl gegen den Papstzentralismus wendet10). Kritische Berichterstattung darf nicht den Eindruck erwecken, Joseph Ratzinger vertrete selbst völkische oder antisemitische Anschauungen. Dafür gibt es nicht den Hauch eines Beleges, aber viele Gegenbelege.

Hingegen dürfen zwei andere Fragen sehr wohl gestellt werden.

  1. Wie kommt es, dass Ratzingers Theologie so wenig Anknüpfungspunkte für ein wirklich geschwisterliches und gleichberechtigtes Gespräch mit dem Judentum bietet? Ist dies – abgesehen vom römischen Absolutheitsanspruch – nicht auch eine Generationenfrage (und eine unbewusste Folge der Lektüre von Autoren wie Karl Adam)? In Ratzingers Arbeiten sind zahlreiche Ausführungen und Kirchvätervorstellungen zu einer „Überholtheit“ des Judentums zu finden, die schon während meiner Studienzeit in den 1980er Jahren an deutschen Universitäten als inakzeptabel gegolten hätten.
  2. Hat Joseph Ratzinger nach seinen schmerzlichen Konflikten mit der „68er Generation“ auch deren Forderung überhört, endlich mit einer kritischen „Aufarbeitung der deutschen Geschichte“ zu beginnen? Bezogen auf diesbezügliche Passagen seiner Autobiographie sprechen manche Kritiker von einer naiven Herangehensweise (es gibt darin wohlwollende Mutmaßungen und allgemeine Hinweise zum engeren Umfeld, jedoch nichts wirklich Konkretes).

Die Papstrede im Konzentrationslager Auschwitz-Birkenau, von jüdischer Seite 2006 höflich als „problematisch“ bezeichnet, zeugt von einem schlichten Erklärungsmodell der Geschichte und eigentlich – zumal Selbstkritisches in Richtung Kirche fehlt – von Desinteresse an der historischen Forschung:

Ich stehe hier als Sohn des deutschen Volkes … Ich konnte unmöglich nicht hierher kommen. Ich musste kommen. Es war und ist eine Pflicht der Wahrheit, dem Recht derer gegenüber, die gelitten haben, eine Pflicht vor Gott, … als Sohn des Volkes, über das eine Schar von Verbrechern mit lügnerischen Versprechungen, mit der Verheißung der Größe, des Wiedererstehens der Ehre der Nation und ihrer Bedeutung, mit der Verheißung des Wohlergehens und auch mit Terror und Einschüchterung Macht gewonnen hatte, so dass unser Volk zum Instrument ihrer Wut des Zerstörens und des Herrschens gebraucht und missbraucht werden konnte.

„Amici Israel“: Ein Baustein der kirchlichen Apologie verkehrt sich ins Gegenteil

Wann endlich wird man verstehen, dass die Praxis des Verdrängens, Verharmlosens und Rechtfertigens der Kirche mit zunehmender Forschung nur noch größere Schmach einbringen kann? Bislang rühmte man sich z.B. – vor allem gegen Goldhagen – damit, dass Rom bereits 1928 den „Antisemitismus“ verurteilt hat. Unter Pius XI. dekretierte das Heilige Offizium seinerzeit:

Und so wie er [der Apostolische Stuhl] allen Neid und alle Feindschaft unter den Völkern verwirft, so verdammt er umso mehr den Hass gegen das von Gott einst auserwählte Volk, jenen Hass nämlich, den man heute mit dem Namen „Antisemitismus“ zu bezeichnen pflegt.

Der Befund scheint eindeutig zu sein. Die Kirche war 1928 schon längst über jede Form von Feindseligkeit gegenüber den Juden erhaben, ja verdammte ausdrücklich den „Antisemitismus“. Hinter dem Dekret steckt jedoch, wie der kirchentreue Historiker Prof. Hubert Wolf herausgefunden hat, das genaue Gegenteil! Das betreffende Kapitel „Perfide Juden?“ aus seinem Buch „Papst & Teufel“ (München 2008) ist eine Pflichtlektüre für jeden, der sich an der Debatte beteiligt.

Die katholische Vereinigung der „Freunde Israels“ (Amici Israel) hatte im Vatikan angesichts des wachsenden „Antisemitismus“ um eine Änderung der unseligen Karfreitagsbitte gegen die Juden ersucht. Der Gutachter Alfred Schuster (später Kardinal und heute selig) befürwortete dies aus liturgiewissenschaftlicher Sicht und sprach bezüglich der judenfeindlichen Kirchengebräuche von „Aberglauben“. Die zuständige Kommission war auch willig, das Karfreitagsgebet zu ändern. Doch nun schalteten sich der päpstliche Hoftheologe Sales und der Inquisitor Kardinal Merry del Val ein. Am Ende wurde nicht nur das Ersuchen abgeschlagen. Alle Beteiligten, auch der konsultierte Gutachter, mussten vor der Inquisition abschwören. Die „Freunde Israels“, deren Arbeit doch zu diesem Zeitpunkt wichtiger war als alles andere in der Kirche, wurden vollständig verboten.

Schlimmer noch, der ganze Vorgang – Wolf dokumentiert es – offenbart eine Judenfeindlichkeit an der Kurie, die einen sprachlos zurücklässt. Pius XI. (Pacellis Vorgänger), der sich später unter Tränen als „geistlicher Semit“ bekennen wird, ist involviert und mit allem einverstanden. Redaktionsgeschichtlich gesehen kommt das oben genannte Dekret von 1928 einer Kaschierung des ganzen Vorgangs – aus Angst vor der Öffentlichkeit – gleich. Zwei Jahre später wird der Jesuit Gustav Gundlach ausgerechnet mit seinem Artikel „Antisemitismus“ im renommierten „Lexikon für Theologie und Kirche“ (1930) unter Beweis stellen, wie explizites Gedankengut der rechtsextremistischen „Antisemiten“ im römisch-katholischen Raum längst Fuß gefasst hat (Gundlach wurde später Mitarbeiter beim Projekt einer „Anti-Antisemitismus-Enzyklika“, womit fast der Bock zum Gärtner gemacht ward).

Zum gescheiterten Versuch, 1928 das unselige „Judengebet“ am Karfreitag zumindest gemäß dem Stand der Liturgiewissenschaft zu entschärfen, gibt Wolf in seinem Buch etwas sehr Trauriges zu bedenken:

Eine weltweite Änderung der katholischen Liturgie hätte vielleicht mehr Wirkung gehabt als jede Anti-Rassismus-Enzyklika, wie sie der Papst 1938 planen sollte [Anm.: nie veröffentlicht], oder weitere päpstliche Kundgebungen gegen den Antisemitismus.

Macht und Wahrheit: Worum es beim Streit um die Erklärung des Zentralkomitee-Arbeitskreises geht

Bei kirchlichen Schuldeingeständnissen geht es gemäß römisch-katholischer Doktrin immer nur um das Fehlgehen einzelner Getaufter (unten an der Basis). Nie jedoch dürfen die heiligen Leitungsstrukturen der Kirche oder die amtliche Lehrverkündigung als Ursachen für ein Versagen vor Gott und den Menschen geltend gemacht werden. Wer aber aufgrund historischer Erkenntnisse – etwa bezüglich der Abgründe des 20. Jahrhunderts – zu der Überzeugung gelangt, dass die hierarchische Bevormundung und Reglementierung so genannter „Laien“ durchaus viel Unheil angerichtet hat, muss sich mündig selbst zu Wort melden.

Dies betrifft zunächst den Machtaspekt. Vertretungsorgane der „Laien“ sind einfach nicht befugt, sich in Fragen zu äußern, die dem Papst und den Bischöfen vorbehalten sind. Sie haben in kirchenrechtlicher Hinsicht ohnehin keinerlei Bedeutung. Bei Abweichungen von dieser Vorgabe kommt es zu Repressionen. Davon sind derzeit zum Beispiel viele CDU/CSU-Mitglieder betroffen, die sich im Verein „Donum vitae“ für Schwangerschaftsberatung engagieren (ich will damit sagen: es leiden nicht nur die bösen Linkskatholiken).

Die Frage von „Wahrheit“ oder „Glaubenskompetenz“ hängt damit zusammen. Nach hierarchischer Lehre ist nur eine „von oben“ eingesetzte Kirchenleitung zur verbindlichen Glaubensverkündigung befugt. Der Rest des Kirchenvolkes hat an dieser Stelle am besten ganz zu schweigen. Das Zweite Vatikanische Konzil (1962-65), von den Neo-Traditionalisten gerne als „pastorale Quasselbude“ geschmäht, hat aber in seiner Kirchenkonstitution verkündet: Das Volk Gottes – mit dem Heiligen Geist gesalbt und durch ein gemeinsames Priestertum aller Gläubigen verbunden – könne im Glauben nicht irren (freilich wird nach diesem „Glaubenssinn aller Getauften“ nirgendwo gefragt). Das Konzil nennt aus dem Johannes-Evangelium (Vers 2,27) sogar einen ausgesprochen subversiven Vers: „Ihr braucht euch von niemand belehren zu lassen. Alles, was seine Salbung euch lehrt, ist wahr und keine Lüge.“

Die deutschen Bischöfe werden dem Zentralkomitee der deutschen Katholiken (ZdK) auf dieser Grundlage wohl kaum verwehren können, zu ausgesprochenen Glaubensfragen Stellung zu nehmen, zumal das Zentralkomitee bislang noch keinerlei Unfehlbarkeitsansprüche geltend gemacht hat. Denkbar ist auf jeden Fall, dass die „Laien“-Vertretung den allgemeinen Glaubenssinn der Getauften viel besser wiedergibt als die Bischofskonferenz oder Bischof Ludwig Müller. Bei der aktuell strittigen Erklärung „Nein zur Judenmission - Ja zum Dialog zwischen Juden und Christen“ handelt es sich um ein Dokument des Gesprächskreises „Juden und Christen“, dessen Veröffentlichung das Präsidium des ZdK freigegeben hat. Bemerkenswert ist, dass sich dieses Dokument ausdrücklich auf die dunkle Geschichte bezieht und damit implizit gegen eine pure Zeitlosigkeit von „Glaubensverkündigung“ (Lehramtsplatonismus) gerichtet ist. Man kann in der Frage „Judenmission – Ja oder Nein“ nicht geschichtslos argumentieren und so tun, als habe es die Shoa nicht gegeben (es gibt gute Gründe, dies heute als Lackmustest für die Geltung des II. Vatikanums anzusehen). Insgesamt gibt der Text das Reflexionsniveau der Theologie11 im deutschsprachigen Raum wieder: Es gibt für Christen keinen Grund, den Juden einen eigenständigen Heilsweg abzusprechen. Eine Judenmission durch die Kirche ist vollständig inakzeptabel!

Dies ist ein offener Widerspruch zum Papst aus Deutschland, der die Karfreitagsfürbitte12 „Pro conversione Judaeorum“ wieder eingeführt hat. Da hiesige Theologen und Stimmen aus dem ZdK schon im Vorfeld Benedikt XVI. dringend gebeten hatten, von einer Wiedereinführung des unseligen Bekehrungsbetens mit Blick auf die jüdischen Geschwister ganz abzusehen, kann man nur sagen: hier liegt ein konsequentes Glaubenszeugnis vor. Wer ein Irregehen auch der Kirchenspitze für möglich hält, muss bei seinem „Nein“ oder „Ja“ in Gewissensfragen bleiben.

Die Unfähigkeit zu trauern

Daniel Jonah Goldhagens Buch „Die katholische Kirche und der Holocaust“ ist, genau besehen, eine moralphilosophische Meditation über die Unfähigkeit der römisch-katholischen Kirche zu trauern. Wer dies beim Lesen nachvollziehen kann, wird erschüttert. Die eigentlichen historischen Teile dieses Werkes fallen vergleichsweise kurz aus und enthalten auch manch Anfechtbares. Sie bieten jedoch bei weitem nicht jene traurigen Einblicke, die uns – zumal Jahre später – durch die historische Wissenschaft insgesamt eröffnet werden. Die ganze Wahrheit über den katholischen „Antijudaismus“ bzw. „Antisemitismus“ und über das Versagen der Kirche ist noch viel schlimmer als das, was Goldhagen referiert. Doch kaum war das Werk seinerzeit druckfrisch auf dem Markt, tönten die Kirchenfürsten schon: „Alles Lüge, alles Verleumdung!“

Ich schäme mich als römisch-katholischer Christ für diese Verdrängungsmentalität oben im hierarchischen System. Im Elternhaus habe ich etwas anderes gelernt. Mein Vater hat mir oft mit Traurigkeit in der Stimme erzählt: „Über die Juden hat unsere Geistlichkeit nie ein gutes Wort verloren.“ Das war der Standard im ultramontanen Katholizismus, und es werden sich auch nur wenige katholische Judenfürsprecher aus der Zeit des Faschismus finden lassen, die davon gänzlich unberührt waren. Man kann nicht vorgeben, an Gott zu glauben, und gleichzeitig systematisch daran arbeiten, das Geschichtsgedächtnis zu frisieren. Hier und auch theologisch sehe ich mich durch den Gesprächskreis „Juden und Christen“ beim Zentralkomitee der deutschen Katholiken besser vertreten als durch Bischofskonferenz und Papst.