Krieg gegen den Terror

The Day of the Jackal

Kolonialismus ohne Lernfortschritt

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Die Schlacht um Algerien - Teil 1

Vor 50 Jahren, im Frühling 1962, endete der Algerienkrieg. Dieser Krieg war einer der wichtigsten Konflikte der Nachkriegszeit. Er diente Befreiungsbewegungen und Terrororganisationen weltweit als Vorbild, brachte Frankreich an den Rand eines Militärputsches, und die Spätfolgen sind noch heute spürbar, in Algerien und auch in den französischen Vorstädten. Gut nachvollziehen lässt sich der Konflikt anhand eines Films, der 1966 in Venedig mit dem Goldenen Löwen ausgezeichnet wurde. Der Film verherrlicht für die einen den Terrorismus, für die anderen ist er ein Dokument des Antikolonialismus. Über Afghanistan, den Irak, Syrien, Guantanamo, Abu Ghraib und den "Krieg gegen den Terror" hat er genauso etwas zu sagen wie über die französischen Präsidentschaftswahlen. Der Film erzählt zugleich vom Freiheitskampf eines unterdrückten Volkes, von einer großen Tragödie und davon, dass der Tod keine Staatsangehörigkeit hat. 2003 sahen ihn die Strategieexperten des Pentagon, um dann alles zu ignorieren, was sich aus ihm lernen lässt. Heute ist der Film noch aktueller als 1965, als er gedreht wurde. Das ist die größte Tragödie.

Kann sich noch jemand an The Day of the Jackal erinnern, Fred Zinnemanns mit kühler Präzision in Szene gesetzte Verfilmung des internationalen Bestsellers von Frederick Forsyth? Die Untergrundorganisation OAS heuert einen Auftragskiller an, der den französischen Staatspräsidenten Charles de Gaulle ermorden soll. Es geht da um die Nachwehen des Algerienkonflikts, der je nach Berechnungsmethode zwischen einer halben und einer Million Menschenleben kostete (oder sogar noch mehr), bis heute ein unbewältigtes und lieber totgeschwiegenes Trauma - und innen- wie außenpolitisches Problem - der Franzosen ist und auch für die Algerier nicht so endete, wie man es ihnen hätte wünschen mögen.

Aus The Day of the Jackal wäre ein anderer Film geworden, wenn es nicht Gillo Pontecorvos La Battaglia di Algeri gegeben hätte, den Zinnemann ganz sicher kannte, als er seinen Thriller drehte. Wenn man Jackal und Battaglia hintereinander sieht, erhellen sie sich gegenseitig und man erkennt, dass Zinnemann einige von Pontecorvos ästhetischen Strategien übernommen hat. Das ist ein schönes Beispiel für das gewinnbringende, einen Mehrwert ergebende Zusammentreffen zweier scheinbar ganz unterschiedlicher, unter völlig konträren Bedingungen entstandener Filme, wie es das früher öfter gab und im Zeitalter des sterilen Blockbuster-, Star- und Bürokratenkinos leider immer weniger.

Pontecorvos Meisterwerk des Counter-Cinema beeinflusste das Mainstream-Kino und vielleicht auch die Wirklichkeit. Die Schlacht um Algier lief nicht in den von Hollywood kontrollierten Filmpalästen, wurde aber von der IRA, der RAF, den Black Panthers und Befreiungsbewegungen aller Art als eine Art Lehrfilm für die Stadtguerilla studiert, hatte einen festen Platz auf den Spielplänen amerikanischer Studenten- und Filmkunstkinos, wo sich der Widerstand gegen den Vietnamkrieg formierte, soll (unbestätigten Berichten nach) den Folterknechten in südamerikanischen Militärdiktaturen zur Fortbildung gedient haben, tritt den Beweis an, dass ein linker Politfilm weder langweilig noch doktrinär sein muss, sollte zum Pflichtprogramm von Entscheidungsträgern gehören, die dieselben Fehler nicht dauernd wiederholen wollen, hat auch noch einen legendären Soundtrack von Ennio Morricone zu bieten und ist schlicht und einfach ein grandioser Film. Welche Lehren aus ihm zu ziehen sind, muss jeder für sich selbst entscheiden.

Zwischen Galliern und Arabern

Die Schlacht um Algier beginnt in einem Moment, in dem die Franzosen glaubten, dass sie den Krieg gewonnen hätten sowie mit zwei Fragen, die der Film mehrfach stellt. Die eine ist moralischer, die andere eher pragmatischer Natur: Darf man Menschen foltern und kann man damit seine Ziele erreichen? Frage 2, so scheint es, ist vorläufig mit Ja zu beantworten. Ein kleiner schmächtiger Mann hat unter der Folter die Adresse verraten, wo sich Ali La Pointe versteckt hält, der letzte noch nicht festgenommene oder getötete Anführer der FLN in der Kasbah. Jetzt sitzt der kleine Mann, nur mit einer Unterhose bekleidet und vor Schmerzen zitternd, auf einem Stuhl und darf einen Schluck Kaffee trinken wie der Pinguin im Zirkus vom Dompteur einen Fisch bekommt, wenn er brav sein Kunststück vorgeführt hat. Nun habe er es hinter sich, sagt einer von den Fallschirmjägern, die ihn gefoltert haben, aber Colonel Mathieu, der Kommandeur des Regiments, verlangt noch einen letzten Dienst von ihm.

Der Mann soll die Soldaten zum Versteck führen und dabei eine französische Uniform tragen, um nicht erkannt zu werden. "Integration", scherzt ein Fallschirmjäger. Mathieu weist ihn zurecht. An der finalen Demütigung ändert das nichts. Der Mann hat Tränen in den Augen und wird daran gehindert, sich aus dem Fenster zu stürzen. Dann geht es los. Zu dynamischer, vorwärts treibender Musik dringen die Fallschirmjäger in die Kasbah und dort in eines der verwinkelten Häuser ein. Der Gefolterte zeigt auf eine verkachelte Wand. Hinter den Kacheln sitzt Ali La Pointe mit drei Gefährten im Versteck. Einer der Soldaten fordert ihn auf, herauszukommen und sich zu ergeben. Er sei der Letzte, es habe keinen Sinn mehr. Vom Gesicht Ali La Pointes führt uns eine Rückblende in das Algier des Jahres 1954.

Man könnte auch noch weiter in die Vergangenheit zurückgehen, etwa in das Jahr 1830. Damals begann ein bis 1847 dauernder Krieg, an dessen Ende die Franzosen das zum Osmanischen Reich gehörende Algerien erobert hatten. Im Gegensatz zu Ländern wie Tunesien und Marokko, wo angestammte Herrscher formell im Amt blieben und "Protektorate" unter französischer Verwaltung entstanden, zielte die französische Kolonialpolitik in Algerien darauf ab, dauerhaft Kontrolle auszuüben, indem man die indigene Bevölkerung nach Süden abdrängte und durch eigene Leute ersetzte. Ideologisch, politisch und verwaltungstechnisch war Algerien keine Kolonie, sondern ein schließlich aus drei Départements bestehender Teil von Frankreich. Auch Deutschland spielte dabei eine Rolle. Als Folge des Deutsch-Französischen Krieges von 1870/71 musste Frankreich große Teile des Elsass und Lothringens abtreten. Das geschah unter militärstrategischen und wirtschaftlichen Gesichtspunkten, Sprachgrenzen wurden nicht berücksichtigt. Viele französischsprachige Elsässer und Lothringer flohen nach Frankreich, und wenn da kein Platz für sie war, schickte man sie nach Algerien.

Der Plan, in Algerien etwas ähnliches zu versuchen wie in Nordamerika, ging trotz aller Anstrengungen nicht auf. Die Kolonisten blieben auf die Küstenstädte konzentriert, wo sie eigene Viertel bewohnten und machten nie mehr als 13 Prozent der Gesamtbevölkerung aus, was auch nur dadurch erreicht wurde, dass man zugewanderte Spanier, Italiener und Malteser sowie die jüdische Minderheit einbürgerte und zu "Franzosen" erklärte. Ich werde hier die damals übliche Einteilung in "Franzosen" und "Moslems" (musulmans) übernehmen. Das ist nicht politisch korrekt, sorgt aber für mehr Klarheit als ein Begriff wie "Algerier", womit eingewanderte und eingebürgerte Franzosen und Menschen autochthoner jüdischer Abstammung genauso gemeint sein können wie die indigenen und nicht notwendigerweise muslimischen Bevölkerungsgruppen. "Moslem" war im Zeitalter des Kolonialismus, etwas vereinfacht, die Sammelbezeichnung für alle, die keine "Franzosen" waren. In den 1950ern kam der Begriff pieds-noirs (Schwarzfüße) als Bezeichnung für die weißen, europäischstämmigen Siedler in Algerien, Marokko und Tunesien auf. Einer Theorie nach geht er auf die schwarzen Stiefel der ersten Siedler zurück. Eine andere meint, dass die Pieds-noirs so heißen, weil sie schwarze, aus Kalifornien importierte Rebstöcke anpflanzten oder weil sie nach dem Zerstampfen der Trauben schwarze Füße hatten.

Die französische Algerienpolitik ist ein Paradebeispiel dafür, wie man sozialen Sprengstoff anhäuft und dann selbst die Lunte legt. Obwohl offiziellen Verlautbarungen nach in Frankreich und nicht in einer Kolonie lebend, waren die Moslems Bürger zweiter Klasse mit stark eingeschränkten Rechten und ohne französische Staatsangehörigkeit. Nach einer "Reform" des Wahlrechts zählte die Stimme eines Franzosen zehnmal soviel wie die eines Moslem. Ihr "Sonderstatus" erlaubte es den Moslems auch nicht, ein politisches Amt zu bekleiden. Die privilegierten Franzosen beanspruchten die fruchtbarsten Böden für sich und bauten eine blühende Landwirtschaft nach europäischem Muster auf, was aus ihrer Sicht eine große Leistung war. Umgekehrt mussten die Moslems dabei zusehen, wie die Kolonialherren den Reichtum ihres Landes ausbeuteten, ohne ihnen etwas abzugeben und ohne sie an den vermeintlichen Segnungen der europäischen Kultur teilhaben zu lassen. Die Franzosen waren die Herren und die Moslems (offiziellen Statistiken nach besuchten maximal 14 Prozent ihrer Kinder eine Schule) waren die Diener. Als 1954 der Unabhängigkeitskrieg begann, gab es auf Seite der Moslems nur etwa tausend Universitätsabsolventen und keinen nennenswerten Mittelstand. Das spricht Bände.

Die Moslems versuchten jahrzehntelang, auf legalem Wege und innerhalb des ihnen aufoktroyierten Systems Veränderungen herbeizuführen. Einer der Väter des algerischen Nationalismus war Messali Hadj, der Führer des 1926 in Paris gegründeten Étoile Nord-Africaine. Der "Nordafrikanische Stern" war eine Organisation von als Industriearbeiter nach Frankreich gekommenen Moslems, die als erste offen für die Unabhängigkeit Algeriens eintrat. 1936 gründete Messali die Parti du peuple algérien (PPA, "Partei des algerischen Volkes"), die 1939 verboten wurde und sich danach als Mouvement pour le triomphe des libertés démocratiques ("Bewegung für den Triumph der demokratischen Freiheiten") neu formierte. Die MTLD war rechtlich anerkannt und stellte von 1946 bis zu ihrem Verbot im Jahr 1954 Kandidaten bei Kolonialwahlen auf. Weil die Partei zu viel Zulauf hatte, wurden die Resultate im großen Stil manipuliert. Auch die Wahlfälschung ist ein Erbe des europäischen Kolonialismus.

Die in Algerien ausgehobenen Regimenter wurden in zwei Weltkriegen als Kanonenfutter verheizt. Bei der Befreiung Frankreichs von den Nazis waren algerische Truppen überproportional stark vertreten. Als am 8. Mai 1945 der Sieg über Deutschland gefeiert wurde, forderten die Moslems eine Anerkennung des von ihnen entrichteten Blutzolls und mehr Rechte. Die Kolonialherren wollten weitermachen wie bisher. In Sétif kam es am 8. Mai bei einer Demonstration zu Polizeiübergriffen und zu Ausschreitungen, in deren Verlauf etwa hundert französische Siedler getötet wurden. Die Behörden antworteten mit brutaler Repression, beschossen Dörfer mit Mörsern und richteten Massaker an, bei denen nach heutigen algerischen Angaben 45.000 Menschen getötet wurden. Wie fast immer in solchen Fällen gibt es nur vage, je nach Interessenlage stark divergierende Schätzungen der tatsächlichen Opferzahlen. Davon unberührt bleibt, dass die Massaker vom Mai 1945 eine ganze Generation nachhaltig prägten.

Die Kindheit von Mohammed Harbi, FLN-Aktivist und Autor eines Standardwerks über deren Geschichte, ist untypisch, weil er als Mitglied einer begüterten Familie Zugang zu Bildungseinrichtungen hatte, die den meisten anderen verschlossen blieben und doch bezeichnend für die innere Zerrissenheit und die Identitätsprobleme vieler Moslems. Harbi besuchte eine französische Schule, wo er lernte, dass die Gallier seine Vorfahren seien. Zuhause sagte man ihm, dass seine Vorfahren Araber waren. Als er auf eine Ulama-Schule ging (die Ulama sind Religionsgelehrte des Islam), erfuhr er dort etwas über die Geschichte Algeriens und dass er - im damaligen Sprachgebrauch - ein Araber und Moslem sei. Mit 15 trat er in die Front de Libération Nationale (FLN) ein, die Nationale Befreiungsfront.

Viele junge Leute wie er verlangten, entweder als vollwertige Franzosen mit allen Rechten oder als Algerier anerkannt zu werden. Die Kolonialherren lehnten das ab. In Algerien gab es auch eine Tradition des bewaffneten Widerstands. An diesen wollte die aus der MTLD hervorgegangene FLN anknüpfen. Ermutigt wurde sie dadurch, dass der Kolonialismus weltweit auf dem Rückzug war. In Marokko und Tunesien waren die Franzosen nach bewaffneten Auseinandersetzungen Anfang der 1950er zu Zugeständnissen bereit, die zu Autonomie und Unabhängigkeit führten. Die FLN erhoffte sich dasselbe für Algerien. Sie war eine nationalistische, keine kommunistische Organisation. Die Franzosen scheinen das nie so recht begriffen zu haben. Mit einem Gegner, den man nicht versteht, hat man es besonders schwer. Von hier an lässt sich die Geschichte anhand von Pontecorvos Die Schlacht um Algier gut weitererzählen.

Realer Spielfilm

Gillo Pontecorvo, 1919 als Sohn eines wohlhabenden Geschäftsmannes in Pisa geboren, wollte ursprünglich einen akademischen Beruf ergreifen, was auch an den antisemitischen Regelungen in Mussolinis Italien scheiterte. Pontecorvo stammte aus einer jüdischen Familie. 1938 ging er nach Frankreich, wo er sich als Tennisspieler durchschlug, seinen politischen Horizont erweiterte und Zeitgenossen wie Pablo Picasso und Jean-Paul Sartre kennenlernte. 1941 trat er in die Kommunistische Partei Italiens ein (die er 1956, nach der Niederschlagung des ungarischen Volksaufstandes, wieder verließ). Zurück in Italien, war er von 1943 bis 1945 an führender Stelle im antifaschistischen Widerstand tätig. Nach dem Krieg wollte er zunächst Photoreporter werden. Dann sah er Roberto Rossellinis Paisà, worauf er sich eine 16-mm-Kamera kaufte und mit dem Drehen von sehr sorgfältig recherchierten Dokumentarfilmen begann. Mit Kapò - einem unterschätzten, zu wenig gesehenen und moralisch komplexen Spielfilm über die Vernichtungslager der Nazis - erhielt er 1961 eine Oscarnominierung für den besten fremdsprachigen Film.

Pontecorvo interessierte sich zeitlebens für Leute, die darum kämpfen, ihr Los zu verbessern. Nach Kapò wollten er und sein Drehbuchautor Franco Solinas einen Film über den Algerienkrieg machen. Das Skript, das sie dafür verfassten, war eher konventionell. Der Held, den Paul Newman spielen sollte, war als Fallschirmjäger in Indochina, ist inzwischen Journalist, wird von seiner Zeitung nach Algerien geschickt und so weiter. 1962, noch vor dem Abzug der Franzosen, reiste Pontecorvo nach Algerien, um sich ein eigenes Bild von der Lage zu machen. Der Film kam über eine erste Planungsphase nicht hinaus, aber weil Paul Newman mitwirken sollte, gab es Presseberichte über das Projekt. Einen davon las Saadi Yacef, der dadurch auf den Gedanken kam, die Sache selbst in die Hand zu nehmen. Das ist zumindest die Version, die ich für die wahrscheinlichste halte. Je länger die Beteiligten an einem Film leben und je mehr Interviews sie geben, desto mehr Varianten sind irgendwann im Umlauf.

Yacef, früher Chef des militärischen Arms der FLN in der "Autonomen Zone von Algier", zum Tode verurteilt und von de Gaulle begnadigt, hatte von 1957 bis 1962 in französischen Gefängnissen gesessen, viel Zeit zum Überlegen gehabt und ein Buch über seine Erlebnisse geschrieben (Souvenirs de la Bataille d'Alger), das er verfilmen wollte. Ihm gefiel die Idee, in einem mediterranen Land wie Italien einen Regisseur zu suchen. Die FLN fragte bei Francesco Rosi (keine Zeit), Luchino Visconti (keine Einigung auf die Modalitäten) und eben bei Gillo Pontecorvo an. Pontecorvo und Solinas hielten Yacefs Exposé für unbrauchbar, weil es den Unabhängigkeitskrieg zu stark glorifizierte und schlugen stattdessen vor, ein neues, von ihnen auf der Grundlage seines Buchs zu erarbeitendes Skript zu verfilmen. Yacef war einverstanden. Pontecorvo und Solinas verbrachten dann etwa sechs Monate in Algerien, um die Hintergründe zu recherchieren, Schauplätze zu besichtigen und mit Zeugen zu sprechen.

Pontecorvo drehte an Originalschauplätzen. Dank der FLN hatte er die volle Unterstützung der Algerier. Die Realisierung des Projekts erwies sich trotzdem als schwierig, weil Pontecorvo den Film nun ohne Hollywoodstars machen wollte und darum keine Geldgeber zu finden waren. Ein berühmter italienischer Produzent fragte ihn, ob er ihn für einen Idioten halte; ein italienisches Publikum interessiere sich nicht für die "Neger". Pontecorvo entschied sich schließlich dafür, den Film selbst zu produzieren. Die FLN übernahm knapp die Hälfte der Kosten. Den Rest brachten Pontecorvo, Solinas und ein Netzwerk von Freunden auf. Alle Rollen bis auf eine wurden mit Laien besetzt. Das hatte einen finanziellen Grund (die Bewohner von Algier waren billiger als italienische Schauspieler, es fielen auch keine Reisekosten an), und es kam Pontecorvos Arbeitsweise sehr entgegen.

Als jemandem, der beinahe Photograph geworden wäre, war ihm die schauspielerische Erfahrung eines Darstellers weniger wichtig als sein Gesicht. Dieses musste zu der Rolle passen, wie Pontecorvo sie sich beim Schreiben des Drehbuchs vorgestellt hatte. Wenn es Wochen oder Monate dauerte, das richtige Gesicht zu finden, war das nicht zu ändern. Der Mann, der am Anfang gefoltert wird, saß im Gefängnis, als Pontecorvo ihn entdeckte; für die Dreharbeiten erhielt er Freigang. Yacef spielte sich mehr oder weniger selbst - nicht, weil er das Vorbild für El-Hadi Jaffar war, sondern weil er so aussah, wie sich der Regisseur einen solchen FLN-Führer vorstellte. Yacef gab das auch die Möglichkeit, ein Auge auf die Entstehung des Films zu haben. Obwohl Pontecorvo, ein freundlich und umgänglich wirkender Mensch, für seine Kompromisslosigkeit bekannt und bei manchen auch gefürchtet war, würde ich doch annehmen, dass er hin und wieder auf die Befindlichkeiten der FLN Rücksicht nehmen musste - dies allerdings in viel geringerem Umfang als zu befürchten.

Wie schwer wir uns von den eingefahrenen, durch Hollywood geprägten Sehgewohnheiten trennen ist an der Mehrzahl der Filmkritiken zur Schlacht um Algier abzulesen. Bei der Lektüre muss man den Eindruck gewinnen, dass es auch ohne Paul Newman einen charismatischen, im Mittelpunkt der Handlung stehenden Helden gibt, der Ali La Pointe heißt, die FLN zu ihren Siegen über die Franzosen führt und am Ende tragisch stirbt. Im Mittelpunkt des Films steht aber kein Individuum, sondern die Bevölkerung von Algier und eine Befreiungsbewegung. Die übliche Liebesgeschichte gibt es auch nicht. Das war (und ist) äußerst ungewöhnlich. Pontecorvo musste einen Weg finden, trotz des Verzichts auf ein psychologisches Erzählen das Interesse des Kinopublikums zu wecken sowie für die Dauer von zwei Stunden wachzuhalten und zur Identifikation mit einer Heldin einzuladen, die nicht von Sophia Loren verkörpert wurde, sondern von einer nach Selbstbestimmung strebenden Nation. Seine Lösung: Er drehte Die Schlacht um Algier in schwarz/weiß (wie die Kino-Wochenschau und die TV-Nachrichten vor der Einführung des Farbfernsehens) und im Stile eines Dokumentarfilms.

Der Regisseur und sein Kameramann Marcello Gatti experimentierten mit verschiedenem Filmmaterial, bis sie die von Pontecorvo auch schon bei Kapó angestrebten, grobkörnigen und sehr kontrastreichen Bilder erhielten. So entstand eine Form von Hyper-Realismus: die täuschend echte, in ihren ästhetischen Übertreibungen geschickt dosierte Nachahmung eines Dokumentarfilms. Das gelang so gut, dass später immer wieder der Vorwurf erhoben wurde, Pontecorvo habe bestimmte Dinge unzulässigerweise ausgespart und anderes hinzuerfunden, als handele es sich um eine Anspruch auf Vollständigkeit erhebende Dokumentation über den Algerienkrieg. Die Schlacht um Algier zeigt aber ganz bewusst nur einen Ausschnitt und ist ein auf wahren Begebenheiten beruhender Spielfilm. Amerikanische Verleihkopien begannen früher mit dem Hinweis, dass der Film nur aus nachgestellten Szenen bestehe und kein Dokumentarmaterial verwendet worden sei. Das war mehr als nur Koketterie. Die Bilder wirken echt (das "Echte" im Dokumentarfilm ist auch nur eine Sehgewohnheit) und einige von den Terroranschlägen sogar echt gefährlich. In Hollywood oder in Cinecittà hätte das so wahrscheinlich gar nicht gedreht werden können.

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