Krieg in der Ukraine: Wie liberale Hegemonie auf Neo-Revisionismus prallt

Seite 2: Als Russland dem Westen die Hand ausstreckte

War Jelzin zu Beginn seiner Regierungszeit noch großer Anhänger einer Annäherung an den Westen, trugen die hier angerissenen Geschehnisse dazu bei, dass sich seine Einstellung gegen Ende der 1990er-Jahre eher in Missmut gegenüber dem Westen wandelte – wohl auch unter der Einsicht, besagte Geschehnisse selbst mit verantwortet zu haben.

Diese Reflexion mag dazu beigetragen haben, dass Jelzin, wie oftmals in Vergessenheit zu geraten scheint, ganz zentral daran beteiligt gewesen ist, Wladimir Putin als zukünftigen Präsidenten und Nachfolger auf den Weg zu bringen. Dieser erneuerte zu Beginn seiner Regierung das russische Bestreben, Teil des Westens werden zu wollen.

Er betonte aber bereits damals, unter den Eindrücken der aus russischer Sicht höchst unerfreulichen Erfahrungen der 1990er-Jahre, dass eine Integration Russlands in den Westen nur auf Augenhöhe mit den USA erfolgen könne. Gleichzeitig betonte er die Bereitschaft Russlands, nach den Geschehnissen des 11. Septembers 2001, die USA in ihrem "Krieg gegen den Terror" zu unterstützen – ein Angebot zur sicherheitspolitischen Kooperation, das er im Rahmen der westlichen Intervention in Syrien, trotz gleichzeitiger Kritik, erneuerte.

Was darauf folgte, waren jedoch weitere unilaterale Machtdemonstrationen des US-geführten Westens u.a. in Afghanistan, Irak, Libyen, Somalia, Syrien – sprich dem, was zum Beispiel Andrew Bacevich, in Kombination mit dem Balkan und Nordafrika, als US-amerikanischen Krieg um den "Erweiterten Nahen Osten" bezeichnet hat.

Moskau hält dagegen: Der Kern des russischen "Neo-Revisionismus"

Derartige Ereignisse führten in Moskau zwar zu wiederholten Beschwerden und Klagen gegenüber Washington und den in dieser Hinsicht allzu devoten, oder sogar direkt beteiligten, Regierungen Europas (versinnbildlicht durch Putins erste "forscher" formulierte Rede auf der Münchner Sicherheitskonferenz 2007). Sie führten aber bisher nicht, genauer gesagt nicht unmittelbar, zu dem, was Sakwa als russischen "Neo-Revisionismus" beschreibt.

Diese Entwicklung lässt sich, wenn man ein spezifisches Datum anführen möchte, vermutlich am ehesten auf die Bukarester Nato-Konferenz 2008 zurückführen, auf der die USA einseitig verkündeten, man würde nun auch noch Georgien und die Ukraine in die Nato aufnehmen wollen (was, leider nicht vehement genug, auf Widerstand von Merkel und Sarkozy stieß).

Diese realpolitische Torheit führte, in endgültiger Konsequenz (da man sie in Washington, wenn auch nicht explizit, dann doch zumindest implizit, weiter verfolgte), zum russisch-georgischen Krieg 2008 sowie dem Beginn der Krise in der Ukraine ab 2014.

Spätestens ab diesem Punkt betritt man im öffentlichen Diskurs endgültig ein Minenfeld. Und doch ist es sachlich fragwürdig, die Geschehnisse auf dem Maidan im Frühjahr 2014 als "demokratische Revolution" zu bezeichnen – denn Belege deuten auf einen gewaltsamen, ergo sowohl illegalen als auch illegitimen, Umsturz der Regierung Janukowitsch hin.

Maidan und Krim-Annexion

Gleichzeitig werden offene Fragen bezüglich gewisser Nato-Klauseln im Assoziationsvertrag zwischen der Ukraine und der Europäischen Union von 2013, den Janukowitsch ablehnte und der damit kausal zu den Geschehnissen auf dem Maidan beigetragen hat, bis heute "unter den Teppich gekehrt".

Vieles deutet darauf hin, dass der von den USA angeführte Westen, trotz expliziter Vorbehalte und Warnungen von russischer Seite, die Ukraine mit aller Macht aus dem russischen und in den eigenen Einflussbereich ziehen wollte, um ein eventuelles Wiedererstarken Moskaus "einzudämmen". Das hinter derartigen Politiken liegende Kalkül hatten westliche Geostrategen wie Zbigniew Brzezinski bereits im Verlauf der 1990er-Jahre zum Ausdruck gebracht.

Im Rahmen der nun einsetzenden Eskalationsspirale folgte zunächst die russische Annexion der Krim, die zweifellos völkerrechtswidrig gewesen ist. Nur: Das war, wie Putin damals korrekt angemerkt hat, die Abspaltung des Kosovos von Serbien auch – und die ist mit westlicher Unterstützung abgelaufen, weil es damals eben den eigenen Interessen entsprochen hat.

Zudem liegt auch bezüglich der Krim Evidenz vor, die besagt, dass es eben tatsächlich dem Interesse eines Großteils der "malorussischen" Bevölkerung auf der Krim entsprochen hat, Teil der Russischen Föderation zu werden.

Der innerukrainische Konflikt

Realpolitisch betrachtet muss an diesem Punkt zudem die Frage gestellt werden dürfen, ob es sich hierbei wahrlich um eine offensive Aktion oder doch um eine defensive Reaktion gehandelt hat. Denn der gewaltsame Umsturz, und die auf diese folgende Westausrichtung Kiews, bedrohte, zumindest aus russischer Sicht betrachtet, unmittelbar den Status quo des auf der Krim liegenden russischen Schwarzmeerhafens in Sewastopol (den Russland vor der Annexion der Krim von Kiew gepachtet hatte).

Ferner setzte eine Ablehnung des sich neu formierenden ukrainischen Staates und eine damit einhergehende Diskriminierung russophiler Teile der ukrainischen Bevölkerung ein. Es ist insbesondere auch dieser innerukrainische Konflikt, zwischen Fraktionen, die Nicolai Petro als "galizische" und "malorussische" Ukraine differenziert, der im westlichen Diskurs entweder verschwiegen oder aber schlicht als "russische Propaganda" bezeichnet und somit seiner realen Tragik beraubt wird.

Aus diesem innerukrainischen Konflikt, der durch den gewaltsamen Umsturz der Regierung Janukowitsch und dessen Nachwirkungen extrem verschärft wurde, ist ein ukrainischer Bürgerkrieg mit internationaler Beteiligung entstanden – involviert waren sowohl russische, zum Teil verdeckte Spezialkräfte, als auch westliche, insbesondere geheimdienstliche Akteure –, dem Anfang 2022 die russische Invasion folgte.