Krieg in der Ukraine: Wie liberale Hegemonie auf Neo-Revisionismus prallt

Seite 3: Fazit: Imperialismus oder "Neo-Revisionismus"?

Das führt zurück zu der Frage eines russischen Imperialismus: Ohne Weiteres kann man kritisieren, dass die russische Regierung sicherheitspolitische Interessen über die eigenen Staatsgrenzen hinaus artikuliert und diese im Zweifelsfall auch mit Waffengewalt durchsetzt – so geschehen in Georgien 2008, in der Ukraine ab 2014 und mit besonderer Intensität ab 2022.

Nur wenn man ein derartiges Vorgehen kritisiert, muss man es universell kritisieren und kann nicht außen vor lassen, dass die USA seit 200 Jahren an der sogenannten Monroe-Doktrin festhalten und global immensen Schaden mit ihrer Außenpolitik anrichten. Zu behaupten, ausgerechnet Washington würde die Ansicht vertreten, jeder Staat auf dieser Welt dürfe "frei wählen", welchem Militärbündnis er gerne angehören würde, ist grotesk angesichts der hegemonialen Interessen der Vereinigten Staaten.

Russlands Militärinterventionen seit 1991 lassen sich hingegen, im Gegensatz zu denen der USA, an einer Hand abzählen: Transnistrien 1992, Tschetschenien 1994/1999, Georgien 2008, Ukraine 2014/2022 und Syrien ab 2015. Bei Georgien und der Ukraine handelt es sich um Fälle unmittelbar an der russischen Staatsgrenze.

In beiden Fällen sind ethnische Russen involviert, die sich nach dem Zerfall der Sowjetunion in fremden Jurisdiktionen wiederfanden – dies gilt ebenso für Transnistrien, einem Teil der heutigen Republik Moldau, in dem bis heute russische Militäreinheiten zur "Friedenssicherung" stationiert sind (ein relativ unbekanntes Gebiet, das im Zuge des Krieges in der Ukraine noch zu größerer Bekanntheit gelangen könnte).

Georgien, Ukraine, Syrien

In Bezug zu Georgien und der Ukraine ist zudem in beiden Fällen die Absicht, den Einflussbereich der Nato auf diese Länder auszuweiten, nur schwerlich nicht als kausaler Faktor für den Ausbruch gewalttätiger Konflikte erkennbar, wie Mearsheimer bereits 2014 kritisierte.

Es erscheint somit in mehrfacher Hinsicht eigenartig, das negieren zu wollen. Denn selbst Jens Stoltenberg, Generalsekretär der Nato, gibt offen zu Protokoll, dass Putin den Krieg in der Ukraine begonnen hat, "weil er die offene Tür der Nato schließen wollte".

In Syrien wurde Russland explizit von der syrischen Regierung, ob wir diese im Westen gutheißen oder nicht, um Intervention in den syrischen Bürgerkrieg (ebenso ein Bürgerkrieg mit diverser internationaler Beteiligung) gebeten. Völkerrechtlich betrachtet halte ich es daher zumindest für umstritten, dass die russische Intervention als problematischer einzuordnen wäre, als die Intervention und andauernde Okkupation syrischer Gebiete durch US-Streitkräfte.

Zudem ging es hier natürlich auch dem Westen von vornherein um eigene Interessen und nicht um die syrische Demokratie oder Ähnliches.

Tschetschenien aus völkerrechtlicher Sicht

Zuletzt Tschetschenien: Das russische Vorgehen dort war brutal und inhuman. Aber kann man Russland hiervon abgeleitet "imperiales" Handeln attestieren? Völkerrechtlich betrachtet würde ich das verneinen, denn Tschetschenien ist kein eigenständiges Subjekt des Völkerrechts, sondern Teil der Russischen Föderation gewesen.

Moskau hat mit Waffengewalt dafür gesorgt, dass das so bleibt. Das kann man auf menschenrechtlicher Basis ablehnen. Es aber als Beispiel für russische Aggression "nach außen" anzuführen ist analytisch m.E. falsch.

Anhand einer Zentralregierung, die gewaltsam gegen sezessionistische Bestrebungen vorgeht, lässt sich historisch betrachtet sicherlich kein "russischer Sonderfall" identifizieren – zumal man hier auch im Blick behalten sollte, welch weitreichenden Verlust an Territorien Moskau im Zuge des sowjetischen Zerfalls gewaltlos hingenommen hat.

Zusammengefasst bedeutet es, dass man im russischen Vorgehen primär kein imperial motiviertes, sondern, wie Sakwa, in erster Hinsicht ein revisionistisches Agieren im expliziten Widerspruch zum US-geführten Westen erkennen kann.

Neutralerer Kurs

Das schließt natürlich nicht aus, dass hier auch imperiale bzw. machtpolitische Erwägungen eine Rolle spielen (u.a. in Bezug auf bestehende oder potenziell noch erfolgende Landnahmen in der Ukraine). Nur sind sie nicht die Treiber der Intervention. Moskau war ja zum Beispiel lange dazu bereit, den Donbass als ukrainisches Staatsgebiet anzuerkennen.

Das post-sowjetische Russland wollte eigentlich Teil des Westens und nicht dessen Kontrahent in einem Zweiten Kalten Krieg werden. Als Europäer, und insbesondere auch als Deutsche, sollten wir uns daher gut überlegen, ob wir den gegenwärtigen Kurs gegen Russland auf diese Weise weiterverfolgen, oder nicht doch lieber über einen neutraleren Kurs zwischen den USA und Russland nachdenken wollen.

Russland gehört geografisch sowie kulturell zu Europa, teilt gerade mit Deutschland eine komplexe Geschichte (man denke allein an die vielen "Russlanddeutschen"), und ist ein wichtiger Handelspartner für Deutschland. Es ist uns zudem in vielen, zum Beispiel in moralischen, Hinsichten näher, als viele Kommentatoren eingestehen wollen.

Die Sache mit dem Verstehen

Dass man Russlands Vorgehen zudem bis zu einem gewissen Grad verstehen, und, so wie John Mearsheimer und Sebastian Rosato argumentieren, realpolitisch betrachtet für rational halten kann, ist nicht gleichbedeutend damit, dass man deswegen vollkommen gleichgültig gegenüber dem blutigen Gemetzel ist, das die Russen in der Ukraine anrichten.

Die Ukraine wäre mit einer Neutralität zwischen West und Ost, und einem diesbezüglichen Einlenken, spätestens im Zuge der Friedensverhandlungen von Istanbul, im März/April 2022, gut beraten gewesen. Vertraut man Berichten wie denen des ukrainischen Diplomaten Oleksandr Chaly, ist Russland damals zu großen Zugeständnissen bereit gewesen.

Solche und weitere Berichte legen zudem nahe, dass der US-geführte Westen diesen Friedensvertrag zwischen Moskau und Kiew vereitelt und somit das Schicksal der Ukraine, zumindest in ihren Grenzen vom Frühjahr 2022, besiegelt hat.