Nach Baku. Schlimm

Der allerletzte Schrei, 2011. Fotos: Joss Bachhofer, Mit dem Roller nach Zentralasien und zurück

Keine Welt mehr ohne Menschenrechte: Der Eurovision Song Contest in Aserbaidschan und die Politik

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Was wird aus dem freudigen Ausruf "Ja! Bitte Aserbaidschan! Da wollte ich schon immer mal hinreisen. Nach Baku. Geil!"? Der Jubel kam aus einem Fanblock des letztjährigen Eurovision Song Contest (ESC) in Düsseldorf. Der Autor Claas Triebel, der für Telepolis über den Liederwettbewerb berichtete - Eine Welt für sich: Der Eurovision Song Contest im Selbstversuch - wies dabei auf ein Rezeptionsphänomen hin: den großen Unterschied zwischen TV-Welt und der Welt in der Halle.

Am 26. Mai ist wieder ESC-Showtime, diesmal in Aserbaidschan, und wie schon bei anderen Großveranstaltungen, dem Grand Prix in Bahrain und der kommenden Fußball-EM in der Ukraine, schiebt sich die Menschenrechts-Frage quer in die Aussicht auf entspannte, einfache Unterhaltung, die absieht von dem, was täglich für Überforderung sorgt: schwer lösbare Konflikte.

Die Musiker, die in der fantastisch aussehenden Kristallhalle in Baku auftreten, somit aktiver Teil der "Kultveranstaltung" sind, haben ihren eigenen, von Professionalität geleiteten, Blick. Der geht von der Bühne aus nach draußen und kann alles so finden, wie es auch Staatsoberhaupt Ilham Alijew hören möchte: "Alles ist großartig, der Sound, das Licht, das Wetter", sagten die Schweizer Teilnehmer nach dem Probenauftakt am Sonntag.

Hotelzimmer in Baku

Die, die ganz draußen sitzen und am nächsten Samstag vielleicht gar nicht einmal zu den europaweit auf rund hundert Millionen ESC-Fernsehzuschauern gehören, sondern über den Nachrichtenstrom mit der Veranstaltung mehr oder weniger in Berührung kommen, erfahren von massiven Umbaumaßnahmen in Baku, von einer "Turbopolitur", von der Räumung von billigen Studentenunterkünften und von der Errichtung neuer Straßen und lieblicher Fassaden, die über miese Verhältnisse dahinter hinwegtäuschen, über Missstände und eine politische Kultur, in der Sicherheitskräfte Kritiker, bzw. investigative Journalisten, brutal zusammenschlagen und an den Straßenrand werfen , wo Unliebsame rasch, aber dafür länger hinter Gitter gebracht werden. In den letzten Wochen gab es eine Menge zur Situation der Menschenrechte in Aserbaidschan zu lesen. Ein repräsentativer Ausschnitt:

Derzeit sitzen in Aserbaidschan laut Human Rights Watch sechs Journalisten in Haft, zudem sind 14 Menschen aus politischen Gründen inhaftiert. Auf dem Korruptionsindex von Transparency International steht das Land auf Platz 143 von 183 Staaten. Der Beauftragte der Bundesregierung für Menschenrechte, Markus Löning (FDP), hatte angeprangert, dass in den vergangenen zehn Jahren die Freiheitsrechte in Aserbaidschan stark eingeschränkt worden seien - anders als es der mit harter Hand regierende Staatspräsident Ilham Aliyev versprochen habe.

Bahnhof in Baku

"Systematische Kampagne zur Verunglimpfung des Landes"

Im Bericht des Spiegel, dem das obige Zitat entnommen ist, wird auch die Position der Regierung in Aserbaidschan dazu vorgestellt: Sie spricht von einer "systematischen Kampagne zur Verunglimpfung des Landes".

Die Führung weist daraufhin, dass Aserbaidschan eine Republik und ein Rechtsstaat sei. Dass der gegenwärtige Staatschef Ilham Alijew der Sohn des vorhergehenden ist, ist allerdings schon auch ein Hinweis darauf, dass Vetternwirtschaft diese Demokratie bestimmte Zutaten beigibt. Allen voran Korruption, die das Leben für all jene schwer macht, die nicht zur Elite gehören und einen wachen, unbestechlichen Verstand haben.

De jure gibt es zwar Versammlungs-, Meinungs- und Pressefreiheit. Faktisch hängt jedoch die Ausübung jedes Grundrechts von der Zustimmung der Behörde ab. Lehnt sie beispielsweise ein Gesuch auf Durchführung einer Demonstration ab, ist diese illegal, wird sie dennoch durchgeführt. Und die Demonstranten begeben sich in höchste Gefahr, da sie als Staatsfeinde betrachtet werden. Zu Zeiten der noch existierenden Sowjetunion wusste man, warum man ins Gefängnis kam, weil man gegen einen oder mehrere Artikel des Kriminalgerichtshofs verstoßen hatte.

Die doppelgesichtige Demokratie

Trotz der harten Hand der Führung gelingt es der Opposition Demonstrationen mit beachtlicher Teilnehmerzahl auf die Beine zu stellen - freilich unter erschwerten Umständen, wozu nicht nur Maßnahmen gehören, die Demonstranten von der Versammlung abhalten sollen, sondern auch rufschädigende Propaganda. Die beispielsweise die Opposition auf einer Fotomontage mit dem deutschen Menschenrechtsombudsman Markus Loening und Adolf Hitler zeigt. Die Opposition wird von Deutschland aus finanziert, so der Vorwurf der Zeitung Yeni Azerbaijan, dem Organ der Regierungspartei Neues Aserbaidschan.

"Clan-artiges Mafia-Regime"

Die Regierung sei ein clan-artiges Mafia-Regime, beschreibt es die Oppositionelle Leyla Yunus. In ihrem Bericht zum ESC in Baku macht sie auf wunde Punkte im schönen Bild aufmerksam:

Am 11. August 2011 zerstörten Behörden das Bürogebäude dreier NGOs: des IPD, des Woman Crisis Center und der Azerbaijan Campaign to ban Landmines (ACBL). Der Generalstaatsanwalt weigerte sich, den Fall zu untersuchen. Unmittelbar nachdem bekannt wurde, dass der ESC 2012 in Baku stattfindet, begann die groß angelegte Zerstörung von Wohngebäuden. Der Bürgermeister oder die staatliche Eigentumsbehörde forderten Mieter in Briefen dazu auf, ihre Wohnungen innerhalb einer Woche zu verlassen. Ca. 60.000 Mieter wurden so aus ihren Wohnungen vertrieben.

ESC hat nichts damit zu tun

Ihr Vorwurf: Nicht nur die Regierung - die jeden Zusammenhang zwischen den baulichen Maßnahmen und dem europäischen Liederwettbewerb bestreitet (und natürlich auch Verstöße gegen Menschenrechte) - sondern auch die Organisatoren des ESC würden vom Zustand der Menschrechte und den politischen Verhältnissen in Aserbaidschan nichts wissen wollen. Sie zitiert aus einem Antwortbrief des norwegischen ESC-Produzenten Jon Ola Sand:

Ich möchte diese Gelegenheit nutzen, um darauf hinzuweisen, dass die EBU (European Broadcasting Union, dt. Europäische Rundfunk Union) nichts mit Baumaßnahmen in Baku zu tun hat, die dort im Zusammenhang mit dem ESC stattfinden, noch diese gefordert oder in Auftrag gegeben hat […]

Man müsse aber darüber sprechen, so Leyla Yunus und gibt den Menschenrechtsverletzungen mit Zahlen Drastik. Das Ergebnis ihrer Forschungen: "2006 wurden 40 Menschen gefoltert, 13 von ihnen zu Tode. 2007 gab es bereits 74 Folteropfer, 11 davon starben. 2011 ist die Zahl auf 136 Folteropfer angestiegen, vier davon starben."

Der CIA-Orbit

Nun heißt das Institut, deren Gründerin und Direktorin Yunus ist, Institute of Peace and Democracy. Das IPD ist eine NGO, die auf einem Peacebuilding-Portal vorgestellt wird, auf dem die Bundesrepublik Deutschland als Unterstützer ausgewiesen ist. Das Institut hat eine gewisse Namensverwandtschaft zum georgischen Caucasus Institute for Peace, Democracy and Development hat. Dessen Sponsoren sind meist westliche Länder, die Nato und George Soros' Open Society Foundations (Die Coca-Cola - Revolutionäre).

Soros Foundation hat sich die Entwicklung der Zivilgesellschaft in den Kaukasusstaaten zum Programm gemacht. Der Think Tank PASOS spielt dabei eine wichtige Rolle, Aserbaidschan wird dort kritisch wahrgenommen. Auch Leyla Yunus war schon auf PASOS-Veranstaltungen.

Hafen, Baku.

Erwähnenswert ist dies, weil das den äußersten Kreis der Kritik zur Veranstaltung in Baku berührt, gewissermaßen die Kritik an der Kritik am Regime in Aserbaidschan. Das ist der Orbit von geopolitischen Interessen und den Machenschaften der CIA. Zuerst die Fakten: Aserbaidschan ist kein kleines unbedeutendes Land, sondern ein bedeutender Ernergielieferant: "it pumps about a million barrels of oil a day" (NYT) . Und sein Nachbarland ist Iran (viele Aseris leben auch in Nordiran). Womit Aserbaidschan zum Teil des ganz "großen politischen Spiels" wird, siehe Verwicklung von Aserbaidschan in die Kriegsplanungen:

Um ihre Kriegsplanung dennoch voranzubringen, plant die israelische Regierung im Angriffsfall ausländische Militärstützpunkte zu nutzen. Zur Auswahl stehen Militärbasen in den früheren Republiken der Sowjetunion, insbesondere in Aserbaidschan. (...) Schon länger hat die iranische Regierung das Regime des mafiösen Autokraten Ilham Aliyev in Verdacht, als geheime Einsatzbasis für die israelischen Geheimdienste (Mossad und Aman) und den israelischen Abhördienst (Shmone Matayim) zu fungieren. Aus Teheran heißt es, die Regierung in Baku würde es zulassen, dass Mossad-Agenten von Aserbaidschan aus den Iran infiltrieren um Atomwissenschaftler umzubringen.

Wo solche Interessen walten, da, so sind sich Kritiker sicher, steckt das CIA mittendrin. Sitzt Neo-Con Richard Perle in der amerikanisch-aserbaidschanischen Handelskammer, dann sitzt die CIA in von Soros finanzierten NGOs, Zweck: um auch tatsächlich alle Informationen kontrollieren zu können.

Melonenwächter

Diese Sichtweise aus erhöhter geopolitischer Warte führt zum Resultat, dass Kritik am autokratischen Führungsstil, wenn sie von verdächtiger imperialer Soros- Seite kommt, letztlich genauso misstrauisch begegnet wird wie der aserbaidschanischen Regierung - und dass aus dieser Position heraus Menschenrechtsverletzungen relativiert oder auch ignoriert werden (aus einiger Entfernung grüßt das Beispiel Syrien).

Was tun?

Doch zurück zur ESC-Show, in Erdnähe, zur Bühne des Kristallpalasts und der Frage, wie mit dem Politikum "Regierung mit blutigen Händen in Aserbaidschan hinter den schönen Kulissen des Liederwettbewerbs" denn nun umgegangen werden soll. Die Sendung boykottieren? Ilham Alijew einen Brief schreiben? Der aserbaidschanischen Botschaft? Freunden oder Bekannten, die am Samstag vor den Fernseher sitzen wollen, den "Augen zu und durch"-Artikel von Leyla Yunus vorlesen?

Oder auf Niggemeier hoffen und auf die, laut Fans, ESC-typischen Zutaten Ironie und Spaß und Subversion - diesmal ganz besonders: Der subversivste Song Contest aller Zeiten??