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Ukraine im Kriegs-Taumel: Selenskyj scheitert mit Entlassung von Oberbefehlshaber Saluschnyj

Der Oberbefehlshaber der ukrainischen Streitkräfte, Walerij Saluschnyj, während eines Besuchs von Frontstellungen im Süden und Osten im Januar 2024. Bild: Ukrainische Streitkräfte / Telegramm

Ukrainischer Präsident zunehmend in Machtkampf mit Militärführung verfangen. Auch international wächst der Druck. Was folgt daraus?

Am Montag soll Wolodymyr Selenskyj laut unterschiedlicher Medienberichte [1] den Oberbefehlshaber der ukrainischen Truppen, Walerij Saluschnyj, zum Rücktritt aufgefordert haben. Doch der in der Ukraine populäre General, auch von westlichen Militärs weithin geschätzt, weigerte sich. Kiew dementierte den Vorfall.

Ein schwelender Konflikt mit dem Militär

Die Spannungen zwischen den beiden schwelen seit Wochen angesichts des Scheiterns der ukrainischen Gegenoffensive im Sommer. In einem Interview [2] mit dem Economist erklärte Saluschnyj Anfang November, der Krieg sei in eine "Pattsituation" geraten. Ein "tiefer und wünschenswerter Durchbruch" könne nicht erwartet werden.

Er deutete sogar an, dass der Zermürbungskrieg zu einer Niederlage für die Ukraine führen könne.

Damit widersprach er diametral Selenskyjs optimistischer Einschätzung, dass man vorankomme und einen Sieg über Russland erringen könne. "Ich glaube nicht, dass es sich um eine Pattsituation handelt", antwortete [3] der ukrainische Präsident in der NBC-Nachrichtensendung Meet the Press.

"Fast schon messianisch"

Der Konflikt geht aber tiefer als ein Zwist zwischen zwei Männern über die richtige Interpretation des militärischen Fortschritts, um Einfluss und Macht. Ted Snider, Kolumnist bei Antiwar.com und Responsible Statecraft, wies im November schon darauf hin [4]:

Selenskyj steht sowohl innerhalb der Ukraine als auch von außen unter Druck. Von innen kommt er sowohl von der politischen als auch von der militärischen Führung; von außen sind es die wichtigsten Partner der Ukraine.

Berater des Präsidenten äußerten gar die Besorgnis, dass sein "Glaube an den endgültigen Sieg der Ukraine über Russland ... "fast schon messianisch" [5] sei. Deswegen sei er unfähig, die Situation auf dem Schlachtfeld realistisch einzuschätzen.

Der Fall Chorenko

Das führte immer mehr zu Auseinandersetzungen mit den Generälen, die seine Befehle infrage stellten. Der Konflikte spitzte sich dann zu, als Selenskyj General Wiktor Chorenko, den Befehlshaber der ukrainischen Spezialeinheiten, entließ.

Die New York Times berichtet [6], dass "es unklar" gewesen sei, "ob General Saluschnyj, der Oberbefehlshaber der ukrainischen Streitkräfte, im Voraus von der geplanten Entlassung wusste". Die Entlassung scheine "die Autorität von General Saluschnyj zu untergraben".

Hinter dem Machtkampf zwischen dem ukrainischen Präsidenten und Teilen der Militärführung lässt sich noch ein größerer Konfliktherd erkennen: Denn die Einschätzung Saluschnyjs kann auch als Signal angesehen, über Verhandlungen mit Moskau über einen Waffenstillstand bzw. Kompromissfrieden nachzudenken.

Einige Berater Selenskyjs befürchten, dass seine Unnachgiebigkeit seinen Blick auf die militärische Situation trübe und Verhandlungen mit Russland für tabu erklärt werden [7].

Distanzierungen in den USA

Zeitgleich verliert der ukrainische Präsident auf der internationalen Bühne seine Überzeugungskraft, je länger der Krieg sich hinzieht und die Erfolge ausbleiben, während die Zeit gegen die ukrainischen Truppen läuft [8]. Vor allem, was die Rekrutierung von neuen Soldaten betrifft.

In der US-Presse hat man längst die Sichtweise Saluschnyjs übernommen, dass sich der Krieg in einem Patt befindet, während die Sorgen zunehmend geäußert werden, ob die Ukraine überhaupt die Fähigkeit besitzt [9], das Ruder in der Zukunft herumreißen zu können.

Das drückt sich dann auch aus in realer Unterstützung, bzw. im Ausbleiben derselben. So sind die wichtigen US-Hilfen für die Ukraine ausgelaufen [10]. Biden versucht bereits seit Oktober letzten Jahres neue Gelder in Höhe von rund 60 Milliarden Dollar im US-Kongress genehmigt zu bekommen, aber das ist bisher nicht gelungen.

Zwei leitende Vertreter der Biden-Regierung sagten letzte Woche [11] im Kongress, dass Russland den Krieg in absehbarer Zeit gewinnen könnte, wenn die Hilfen nicht freigegeben würden.

Der 10-Punkte-Friedensplan des Präsidenten

Beim Weltwirtschaftsgipfel in Davos warb Selenskyj [12] erneut eindringlich für seinen 10-Punkt-Friedensplan. Darin wird u.a. der Rückzug der russischen Truppen, Reparationen, ein Tribunal gegen russische Kriegsverbrecher und die Sicherung der ukrainischen Souveränität in den Grenzen vor 2014 gefordert.

Aber es wird immer mehr angezweifelt [13], dass die Ukraine, selbst mit weiterer westlicher Hilfe, eine realistische Chance besitzt, Russland zu schlagen und einen Frieden nach ukrainischen Bedingungen aufzuzwingen – ohne irgendwelche Kompromisse an Moskau.

Selenskyj wirkt zudem mit seinen Forderungen auf der Weltbühne, jenseits westlichen Beifallsklatschens, mehr und mehr vereinsamt. Er weiß, dass die Ukraine auch die Länder des Globalen Südens braucht, um Russland zu isolieren und voranzukommen. Doch China zeigte ihm in Davos die kalte Schulter [14] und lehnte nach einem Bericht von Politico jedes Treffen mit ihm ab.

Selenskyj zunehmend geschwächt

Und nun auch noch der interne Machtkampf, der Selenskyj weiter schwächt.

In der Ukraine kursieren schon seit einiger Zeit Gerüchte [15], dass Saluschnyj Selenskyj sogar als Präsident herausfordern könnte – wenn es denn zu Wahlen in Kriegszeiten kommen würde. Der Amtsinhaber hatte seine Generäle aber bereits vorsorglich im November gewarnt, dass es ein "großer Fehler" sei [16], in die Politik einzusteigen.

Umfragen, die der Zeitung Kyiv Independent im Dezember zugespielt wurden, zeigen [17], dass Saluschnyj bei einer Stichwahl nur knapp, mit zwei Prozentpunkten Abstand, hinter Selenskyj liegen würde.

Es sieht so aus, als ob es für den ukrainischen Präsidenten und die Ukraine insgesamt, neben den Kämpfen und den vielfältigen Zerstörungen auf dem Schlachtfeld, ein unruhiges Jahr werden wird.


URL dieses Artikels:
https://www.heise.de/-9614287

Links in diesem Artikel:
[1] https://www.tagesschau.de/ausland/europa/selenskyj-oberbefehlshaber-100.html
[2] https://www.economist.com/europe/2023/11/01/ukraines-commander-in-chief-on-the-breakthrough-he-needs-to-beat-russia
[3] https://www.nbcnews.com/politics/politics-news/zelenskyy-ukraine-russia-war-not-stalemate-rcna123670
[4] https://www.telepolis.de/features/Ist-das-der-Anfang-vom-Ende-des-Ukraine-Kriegs-9357981.html?seite=all
[5] https://time.com/6329188/ukraine-volodymyr-zelensky-interview/
[6] https://www.nytimes.com/2023/11/04/world/europe/zelensky-rebuke-general-zaluzhny.html
[7] https://www.telepolis.de/features/Ist-das-der-Anfang-vom-Ende-des-Ukraine-Kriegs-9357981.html?seite=all
[8] https://www.telepolis.de/features/Die-Ukraine-koennte-einen-Sieg-erringen-wenn-auch-nicht-auf-dem-Schlachtfeld-9587052.html
[9] https://www.telepolis.de/features/Ist-das-der-Anfang-vom-Ende-des-Ukraine-Kriegs-9357981.html?seite=all
[10] https://responsiblestatecraft.org/congress-ukraine-israel-aid/
[11] https://www.telepolis.de/features/Gezerre-um-Hilfen-waehrend-sich-die-Ukraine-dem-Zusammenbruch-naehert-9609723.html?seite=all
[12] https://www.telepolis.de/features/Selenskyj-in-Davos-Auf-dem-Weg-ins-Nirgendwo-9600212.html?seite=all
[13] https://www.telepolis.de/features/Selenskyj-in-Davos-Auf-dem-Weg-ins-Nirgendwo-9600212.html
[14] https://www.telepolis.de/features/Der-Globale-Sueden-stellt-sich-zunehmend-gegen-westliche-Heuchelei-zu-Recht-9603832.html
[15] https://www.theguardian.com/world/2024/jan/30/volodymyr-zelenskiy-asked-top-general-to-step-down-but-he-refused
[16] https://www.thesun.co.uk/news/24799411/zelensky-ukraine-generals-politics-row/
[17] https://kyivindependent.com/war-may-not-be-at-stalemate-but-zelensky-and-his-top-commander-are/