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Von Kuba 1962 bis Ukraine 2002: Stoppt das Russisch Roulette mit der Menschheit!

Reichweite der auf Kuba stationierten sowjetischer Atomraketen 1962. Bild: DID Graphics

Es ist Zeit, über diplomatische Lösungen des Konfliktes zu sprechen und Gefahren der militärischen Logik offenzulegen. Ein Appell an das historische Gedächtnis

Das Gedächtnis der Menschheit ist wirklich erstaunlich kurz, wie es Bertolt Brecht im Jahr 1952 anlässlich des Wiener Völkerkongresses für den Frieden [1] schrieb.

Er warnte vor einem Inferno, für das viele keine Vorstellungsgabe hätten.

Genau das ist heute erneut zu beobachten. Die Gleichgültigkeit gegenüber der Gefahr einer nuklearen Tragödie ist eine der Quellen für die Gefahr einer finalen Katastrophe für die Zivilisation nicht nur Europas. Dieses Risiko akzeptiert Russland mit seinem Angriff auf die Ukraine, diese Gefahr hat aber auch die Nato über die Jahrzehnte ihrer Osterweiterung seit dem Ende des Kalten Krieges in Kauf genommen.

Im Ukraine-Krieg ist apokalyptisches Potenzial auch dann gegeben, wenn es zu keinem Einsatz von Atombomben kommt. So hat die Internationale Atomenergiebehörde Alarm geschlagen [2], da die 15 ukrainischen Atomreaktoren nicht nur vor Explosionen im Bereich des Reaktorschutzbehälters bewahrt werden müssen, sondern da genauso achtsam auf eine stabile Strom- und Wasser-Versorgung für die Kühlung der Reaktoren geachtet werden muss.

Gerade im Krieg steigt die Gefahr, dass diese Ressourcenversorgung der Kühlung nicht gewährleistet ist. Dann droht eine Kernschmelze; das bedeutet, dass die Kettenreaktion im Reaktor so heiß läuft, dass der Reaktor aufgrund seines enormen Gewichts schmelzend heiß durch sein Betonfundament hindurch ins Erdreich hinabsinkt, bis er auf Grundwasser stößt. Die dann ausgelöste Verpuffung gibt eine nukleare Wolke an die Atmosphäre ab, die den ganzen Kontinent und sein Umfeld verstrahlen kann.

Das 100-Milliarden-Paket, die ebenfalls milliardenschwere Lieferung schwerer Waffen aus den USA und aus Europa sowie die Übererfüllung der Zwei-Prozent-Vorgabe der Nato für die Militärausgaben – all das übergeht das seit 1945 geltende Primat der Politik und die Erkenntnis, dass weitere Hiroshimas und Nagasakis verhindert müssen.

Die Auf- und Hochrüstung enthält bereits militärische Arsenale für die Führung eines Atomkriegs [3], die auch die Bündnisgrüne Partei, die aus der Friedens- und Anti-Atombewegung entstanden ist, mitträgt, verteidigt und im politischen Diskurs ausblendet, so als spielen die am Krieg beteiligten Seiten im Westen und im Osten kein Russisch Roulette mit der Menschheit.

Was Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) in seiner Rede zur Ankündigung des sprunghaften Anstiegs der Militärausgaben eine "Zeitenwende" nannte, kann nur als Propaganda-Narrativ eingeordnet werden – so als hätte es bisher keine Brutalität dieses Ausmaßes gegeben. Zwar schränkte Scholz seine Aussage auf "unseren Kontinent" ein, dennoch war sie Ausdruck eines doppelten Standards.

Die Kriegsverbrechen der USA in Vietnam, in Abu Ghraib, im "Wüstensturm" genannten Irak-Krieg – sie alle bekräftigen die Bedeutung des völkerrechtlichen Friedensgebots. Hinzu kommt das Déjà-vu einer Situation, in der die Menschheit von den Verantwortlichen auf allen Seiten in jene Gefahrenzone gezogen wird, die an den Abgrund anknüpft, den einst Arthur Schlesinger die gefährlichste der Menschheitsgeschichte nannte [4], als der Atomkrieg im Zuge der Kuba-Krise nur noch eine Frage von Stunden war.

Es war auch der Zivilcourage eines Offiziers der Roten Armee [5] zu verdanken, dass es damals nicht zum Weltuntergang in einem Atomkrieg kam. Auf ein solches Glück kann sich die Menschheit nicht auf Dauer verlassen. Die Hoch- und Atomrüstung, als Sicherheit verkauft, erreicht eine neue Gefahrenstufe [6].

Damals täuschten die USA und die Nato die Öffentlichkeit, indem sie die sowjetische Führung zum Alleinverantwortlichen für die Kuba-Krise erklärten. Sie hielten dieses Narrativ bis zum Ende durch, das in einer Vereinbarung mündete: Die USA zogen Raketen aus der Türkei ab, ohne dass die beiden Seiten das öffentlich noch schriftlich dokumentierten.

Kuba-Krise 1962: "Krieg und vollständige Zerstörung"

Es ging den USA darum, zu kommunizieren, dass sie die Sowjetunion zu einer Kapitulation gezwungen hatten, indem sie robust auf die Aufstellung von Atomraketen direkt vor ihrer Haustür reagiert hatten. Dazu musste die Vereinbarung über den Abzug der US-Raketen aus der Türkei geheim bleiben.

Der US-amerikanische Journalist Michael Dobbs erklärte das so [7]:

Wenn es so ausgesehen hätte, dass die USA die Raketenbasen auf Druck der Sowjetunion einseitig abziehen würden, könnte die Nato-Allianz daran zerbrechen.

Dobbs zitierte ein von ihm so genanntes Kernmitglied des CIA Teams, das die sowjetische Raketenaufrüstung überwachte, Dino Brugioni: Er hätte keinen anderen Ausweg gesehen als "Krieg und vollständige Zerstörung" (ebenda).

Im Memorandum der US-Strategieschmiede "Rand" vom September 1962 hieß es damals: "Eine Politik, die jegliches Risiko eines Weltkrieges vermeidet, würde die Nation den feindlichen Drohungen hilflos ausliefern."1 [8]

Eine ähnliche Gefährlichkeit weist die aktuelle Globalstrategie der USA auf. "Spätestens als die USA sich zum Sieger des Kalten Krieges erklärten [9], wurde die Entspannungspolitik unter dem Motto von Willy Brandt Wandel durch Annäherung beendet [10] und es folgte die territoriale Annäherung des Nato-Gebietes an die russische Westgrenze.

Dies widersprach und widerspricht völkerrechtlich relevanten Texten über eine Friedensordnung, die als System gemeinsamer Sicherheit die Sicherheitsinteressen aller Seiten berücksichtigt, wie es die vier Siegermächte des Zweiten Weltkrieges und die damals beiden deutschen Staaten 1990 in der Präambel des Zwei-plus-Vier-Vertrages zur Vereinigung Deutschlands vereinbart hatten [11].

Es verwundert nicht, dass Russland das Militärbündnis [12], das – so wie seine Führungsmacht USA – die Russische Föderation und China als Rivalen kennzeichnet [13], als Gefahr ansieht, dies umso mehr, da der Militärpakt Nato mit neu entwickelten nuklearen Arsenalen die Schwelle zum Atomkrieg absenkt, auch indem er Tarnkappenbomber mit der Fähigkeit zu nuklearen Überraschungsangriffen unmittelbar vor Kriegsausbruch in die Ukraine verlegte [14].

Russland, das im 20. Jahrhundert zweimal vom Westen angegriffen wurde, könnte allzu leicht gegenüber einer Einkreisung, wie sie die USA mit ihren über 700 Militärbasen [15] und die Nato mit ihrer Osterweiterung vorantreiben, eine Abwehrhaltung einnehmen.

Diese Haltung führte unter anderem dazu, dass Russland vor dem letzten Jahreswechsel erneut Sicherheitsgarantien [16] von den USA und der Nato forderte [17]:

"Sie müssen uns Garantien geben, und zwar sofort – jetzt", sagte Präsident Wladimir Putin bei seiner Jahrespressekonferenz in Moskau. Im Konflikt mit der Ukraine wolle Russland eine weitere Eskalation vermeiden. Dazu bräuchte es entsprechende Zusagen des westlichen Militärbündnisses, wie etwa auf eine weitere Expansion nach Osten zu verzichten. Die Nato habe Russland seit dem Ende des Kalten Krieges mit ihrer Osterweiterung immer wieder getäuscht.

Süddeutsche Zeitung [18]

USA und Nato lehnten Sicherheitsgarantien für Russland ab

Die USA und die Nato hatten es Ende Januar 2022 abgelehnt [19], Russland diese Sicherheitsgarantien zu geben. Auf der Münchner Sicherheitskonferenz forderte der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj am 19. Februar dieses Jahres, die Ukraine auf dem nächsten Nato-Gipfel in die Nato aufzunehmen.

Am 21. Februar hielt Wladimir Putin eine Rede an die Nation, in der er der Ukraine und den USA vorwarf, daran zu arbeiten, dass sie mit Massenvernichtungswaffen Russland bedrohen. Zur gemeinsamen Entwicklung von biologischen Forschungen der USA und der Ukraine sagte US-Außenstaatssekretärin Victoria Nuland [20] am 8. März in einer Antwort auf Fragen des US-Senators Rubio, die Sorge bestehe, russische Truppen könnten Kontrolle über solche Labore gewinnen.

Wladimir Putins nukleare Sorgen sind auch insofern nicht aus der Luft gegriffen, als, wie eine Schweizer Analyse meint [21], die Nato ihre nukleare Infrastruktur in mehreren europäischen Staaten von der Türkei bis Großbritannien in den Atomkriegsmanövern "Steadfast Noon" und "Cold Igloo" regelmäßig erprobt.

Die Föderation (US-)Amerikanischer Wissenschaftler veröffentlichte im Oktober 2021 eine Europa-Karte, die diese Einkreisungssorgen von Südost bis Nordwest bestätigt [22].

Dies alles ist Hintergrund der Rede Putins vom 21.02.2022 [23], in der er seine katastrophale Entscheidung für Krieg bekannt machte.

Diese Rede beinhaltet das Einfluss-Sphären-Denken, indem Putin die Ukraine als "Bestandteil unserer eigenen Geschichte, unserer Kultur, unseres geistigen Raums" bezeichnet. Auf diese Stelle bezieht sich das westliche Narrativ, dass diesem Krieg Russlands imperiales Denken zugrunde liegt [24].

Diese Interpretation ist allerdings nur ein Teil der Wahrheit. Ein Narrativ ist eine Geschichte, die mit einer bestimmten, auf Einfluss und Manipulation abzielenden Absicht erzählt wird. Das gibt es hier auch auf allen Seiten. Die Halbwahrheit ergibt sich daraus, dass diese Stellen aus Wladimir Putins Rede dabei geflissentlich übergangen werden:

Allein die USA haben seit 2014 Milliarden Dollar … aufgewendet, für Waffenlieferungen, Munition und die Ausbildung von Spezialisten. (…) Die Ukraine hat bereits ein Gesetz verabschiedet, das den Streitkräften anderer Staaten im Jahr 2022 die Teilnahme an multinationalen Übungen auf ihrem Territorium ermöglicht. Natürlich geht es vor allem um NATO-Truppen. … Im Rahmen des US-Projekts zur Schaffung einer globalen Raketenabwehr in Rumänien und Polen werden Abschussrampen für Abwehrraketen eingerichtet. Es ist wohlbekannt, dass diese Abschussrampen für Marschflugkörper vom Typ ‚Tomahawk‘ genutzt werden können, für Angriffswaffen also. (…)

Die uns zur Verfügung stehenden Informationen geben allen Anlass zur Annahme, dass die Entscheidung über einen Beitritt der Ukraine zum Nordatlantikpakt und über die Errichtung von NATO-Infrastruktur auf ihrem Territorium im Grundsatz bereits gefallen ist. Es ist nur eine Frage der Zeit. (…)

Die uns zur Verfügung stehenden Informationen geben allen Anlass zur Annahme, dass die Entscheidung über einen Beitritt der Ukraine zum Nordatlantikpakt und über die Errichtung von Nato-Infrastruktur auf ihrem Territorium im Grundsatz bereits gefallen ist. Es ist nur eine Frage der Zeit. (…) Seit die USA den INF-Vertrag über Mittelstreckenraketen aufgekündigt haben, arbeitet das Pentagon ganz offen an der Entwicklung einer ganzen Reihe neuer bodengestützter Angriffswaffen, darunter ballistische Raketen mit einer Reichweite von bis zu 5.500 Kilometern. Wenn solche Systeme in der Ukraine stationiert werden, können sie Ziele im gesamten europäischen Russland angreifen, ja sogar hinter dem Ural. Marschflugkörper vom Typ "Tomahawk" erreichen Moskau in 35 Minuten, ballistische Raketen, die aus dem Raum Charkov kommen, in sieben bis acht Minuten, und Hyperschall-Angriffssysteme in vier bis fünf Minuten. Das nennt man wohl, jemandem das Messer an den Hals halten.

So gesehen ist Russland für die Entscheidung verantwortlich, diesen Krieg, der in den urbanen Kämpfen keinen Unterschied zwischen Zivilisten und Kombattanten macht, verantwortlich. Für die Steigerung der Spannungen, die zu dieser katastrophalen Entscheidung führten, sind allerdings die Nato und dabei besonders die USA verantwortlich.

Ob sie es darauf angelegt haben, ist offen. Die Zeitenwende unserer Tage ist jedenfalls das für manche, auch für mich, überraschende Eintreten des Vorhersehbaren.

Eine Lösung gibt es nur in der Diplomatie, die die Präambel des Zwei-plus-vier-Vertrages respektiert und umsetzt: Die Friedensordnung, die die Sicherheitsinteressen "eines jeden", auch die der Ukraine und die Russlands berücksichtigt. Frieden hat nur im Win-win-Ergebnis von Verhandlungen eine Chance, nicht im Win-Lose eines Krieges bis zum bitteren Ende.


URL dieses Artikels:
https://www.heise.de/-7132719

Links in diesem Artikel:
[1] http://www.denkanstoesse-von-links.de/index_htm_files/Brecht.pdf
[2] https://www.swr.de/wissen/gefahr-atomkraftwerke-ukraine-krieg-100.html
[3] https://www.flugrevue.de/tonopah-test-range-in-nevada-b61-12-atombombe-an-f-35-getestet/
[4] https://www.lebenshaus-alb.de/magazin/007481.html
[5] https://www.bundeswehr-journal.de/2016/wassili-archipow-der-mann-der-die-welt-rettete/
[6] https://fas.org/blogs/security/2015/11/b61-12_cartwright/
[7] https://chomsky.info/20121015/
[8] https://www.heise.de/tp/features/Von-Kuba-1962-bis-Ukraine-2002-Stoppt-das-Russisch-Roulette-mit-der-Menschheit-7132719.html?view=fussnoten#f_1
[9] https://www.hsdl.org/?view&did=444565
[10] https://www.fr.de/politik/krieg-in-der-ukraine-trauma-verdraengung-zweiter-weltkrieg-91588271.html
[11] https://www.bpb.de/themen/deutsche-einheit/zwei-plus-vier-vertrag/44112/praeambel/
[12] https://www.faz.net/aktuell/politik/ausland/china-wird-fuer-die-nato-zum-immer-groesser-werdenden-rivalen-16532530.html
[13] http://v
[14] https://www.express.de/politik-und-wirtschaft/eifel-spangdahlem-air-base-eifel-kampfjets-f-35-a-lightning-ii-fliegen-in-die-ukraine-88494?cb=1654413460143
[15] https://www.lebenshaus-alb.de/magazin/010958.html
[16] https://www.sueddeutsche.de/politik/putin-jahrespressekonferenz-ukraine-konflikt-nato-1.5494879
[17] https://www.sueddeutsche.de/thema/Nato
[18] https://www.sueddeutsche.de/politik/putin-jahrespressekonferenz-ukraine-konflikt-nato-1.5494879
[19] https://www.welt.de/politik/ausland/plus236505803/Nato-lehnt-Sicherheitsgarantien-fuer-Russland-ab-und-fuerchtet-Buendnisfall.html
[20] https://news.antiwar.com/2022/03/08/nuland-us-working-with-ukraine-to-keep-biological-research-facilities-out-of-russias-hands/
[21] https://www.schweizer-standpunkt.ch/news-detailansicht-de-international/ukraine-und-die-atomwaffen.html
[22] https://fas.org/blogs/security/2021/10/steadfastnoon2021/
[23] https://zeitschrift-osteuropa.de/blog/putin-rede-21.2.2022/
[24] https://www.fr.de/politik/russischer-angriff-auf-die-ukraine-imperiales-denken-91371109.html