Welche Werte haben Daten und Netze?

"MonoMedia" fördert "MultiValues": Von Vertrauensarchitekturen, Nachbarschaftshilfe und kollaborativen Filtern im Netz

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Die "neuen" Werte, die sich in der vernetzten Gesellschaft abzeichnen, sind oft ganz alte: Kooperation und Kollaboration, Vertrauen, Aufmerksamkeit und sogar die Nachbarschaftshilfe werden im Internet und in den in alle Lebensbereich eindringenden Rechnersystemen hoch gehandelt bzw. von ihnen neu belebt. Das "Networking" von Werten könnte aber dabei helfen, die in der physischen Welt nur begrenzt umzusetzenden sozialen und ökonomischen Ideale in die virtuellen Architekturen einzubauen und ihnen so stärkeres Gewicht zu geben.

Betrachtet man das Treiben der Startups und Dot-coms oder anderer Mitspieler in der neu-alten Ökonomie oberflächlich, drängt sich der Eindruck auf, dass sich alles nach wie vor ums liebe Geld dreht: Tag und Nacht arbeiten die Jungunternehmer auf den großen Börsengang oder den Ausverkauf an einen Giganten der alten Ökonomie hin, um endlich Millionär zu werden und mit dem Porsche durch San Francisco, München oder Berlin zu düsen.

Doch das Internet und die sich rund um Computer, Bildschirme und Standleitungen herum entwickelnde Gesellschaft räumen nicht nur mit unserem alten Verständnis von Medien als singulären Einheiten oder ihrer hilflosen und unreifen Vermischung zu Multimedia auf, glaubt Willem Velthoven. Der seit 1999 die noch unter dem schon wieder veralteten Titel "Multimediale Kunst" laufende "Deutsche-Bank-24-Professur" an der Hochschule der Künste Berlin (HdK) inne habende Designer schwört deshalb auf "Monomedia", was für die Vorstellung steht, dass alle Medien integrale Bestandteile eines Organisationssystems sind. Diese Konvergenz nicht nur unterschiedlicher Medien, sondern auch von Räumen und Prozessen wird laut Velthoven "transparente Infrastrukturen" hervorbringen, in denen sich Beziehungsgeflechte zwischen Kommunikations- und Handelspartnern "auf der Basis gemeinsamer Werte und Ziele" bilden.

Die von Velthoven, einer der bekanntesten Figuren der "Cyberszene" Amsterdams und Gründer des seit 1985 mehr oder weniger regelmäßig erscheinenden Magazins Mediamatic, organisierte Konferenz monomedia berlin:value hatte sich daher das Ziel gesetzt, eine illustre Expertengruppe drei Tage lang in einem sich ganz nach kalifornischem Vorbild unter einem wolkenlosen Himmel präsentierendem Berlin über den prognostizierten Wertewandel philosophieren zu lassen (Neue Medien - neue Werte?).

Doch mag es nun am schönen Wetter, der Vorgeschichte der Konferenz und zunächst überzogenen Preisvorstellungen (die von "Partnern" wie der Deutschen Bank 24 oder Pixelpark gesponserte Tagung sollte sich anfangs nur ums E-Business drehen und vor allem gut zahlende Besucher aus Unternehmen anlocken), oder der alten Konkurrenz zwischen den Medienkünstlern in Amsterdam und Berlin gelegen haben - irgendwie vermisste man nicht nur viele der "üblichen Verdächtigen" aus der Berliner Hacker- und "Digerati"-Szene im Publikum. Trotz ausgezeichneter Referenten fehlte der Tagung im Vergleich zu Wizards of OS oder Berlin Beta auch einfach der Drive. Die Zeit für die Vorträge war in der Regel schlicht zu lange bemessen, so dass die einzelnen Sessions ewig dahinplätscherten und die Diskussionen am Ende vor einem halb leeren Saal im Sande verliefen.

Hat das Geld als dominanter Wert im Netz ausgedient?

Inhaltlich bemühten sich die meisten Referenten allerdings durchaus, die monomediale Revolution plastisch zu umreissen, den "neuen" Werten auf die Spur zu kommen und die Aufmerksamkeit der Zuhörer auf sich zu ziehen. Allen voran Michael Goldhaber, der Vordenker der Aufmerksamkeitsökonomie, der zu diesem Thema auch in Telepolis eine Vielzahl von Beiträgen veröffentlicht hat. Der langjährige Gastprofessor an der University of California in Berkeley vertritt die Meinung, dass wir falsch liegen, wenn wir an Geld als wichtigstes Medium für Austauschprozesse denken ( Das gespenstische Leben des Geldes und die Ankunft der Aufmerksamkeitsökonomie). Diese seien generell von zahlreichen Kontexten abhängig sowie nur schwer auf einen Nenner oder gar eine stabile Währungseinheit zu bringen. Allein bei der sexuellen Begegnung zwischen zwei Menschen könnten die unterschiedlichsten Dinge und Vorstellungen abseits des Konzepts "Liebe" ausgetauscht werden, angefangen von Körperflüssigkeiten über Machtansprüche bis hin zu Krankheiten.

Geld sei zwar seit Jahrhunderten einer der wichtigsten sozialen Werte, da es ideal sei für den Austausch standardisierter Güter und gesellschaftlichen Reichtum repräsentiere. Das Medium werde aber gerade in den USA, wo für Goldhaber alles nur noch in Beziehung zum Geld gesehen wird, deutlich überbewertet. Dieses Denken sei sehr gefährlich, da es ähnlich wie der Bau der Berliner Mauer oder die "Lösung" der Judenfrage alles einem Wert unterordne und dadurch eine rigide Ordnung aufzubauen versuche. Glücklicherweise "kommen wir aber in eine Ära, in der Aufmerksamkeit wichtiger ist als Geld, um als attraktiv zu gelten." Gerade im Internet wetteifern wir daher um die Gunst unserer Mitsurfer, da über die neuen Medien Aufmerksamkeit besonders schnell und direkt erteilt oder wieder entzogen werden kann. Doch nur wenige Stars und Sternchen unter den Künstlern, Programmierern oder Startups können die knappe Ressource wirklich auf sich ziehen - die Übrigen müssen sich mit einem spärlichen Restfünkchen zufrieden geben.

Dass Werte eine äußerst subjektive Maßeinheit sind, bestätigte auch Rishab Ayer Gosh, Begründer der Theorie von den Kochtopfmärkten und Chefredakteur des ökonomische Entwicklungen im Auge behaltenden Netzmagazins First Monday. Seiner Meinung nach "verlieren wir in rein monetären Märkten die Einsicht, dass alles mit Werten versehen werden kann." Wir würden allzu leicht vergessen, dass die Menschen einen Großteil ihrer Zeit Sachen machen, für die sie nicht bezahlt werden. Gerade im Internet habe die Mehrzahl der Interaktionen wie die Beteiligung an Mailinglisten oder Diskussionsgruppen nicht-monetären Charakter. Diese Betätigungen seien allerdings trotzdem ganz klar "ökonomisch", also produktiv, und in einem wirtschaftlichen Kontext zu verstehen.

Aufrechterhalten würde die Kochtopf-Ökonomie des Internet, in die alle Beteiligten ihr Wissen und ihre Fertigkeiten einbringen und aufgrund der digitalen Reproduzierbarkeit unendlich weiter verteilen können, durch einen "balancierten Wertefluss": Die Teilnahme an den Austauschprozessen im Netz werden von den Surfern so lange als zufriedenstellend angesehen, als sich ihre Erwartungen an das Wechselspiel von Geben und Nehmen erfüllten. Der Profit für den Einzelnen übersteige in der Regel sogar seine ursprünglichen Investitionen an Zeit und Wissensweitergabe, da das gemeinschaftlich Zusammengetragene von höherem Wert sei als das individuelle Know-how.

Nachbarschaftswerte könnten dank Wearable Computing ein Revival erleben

Wie das praktisch und dazu noch in der physischen Welt jenseits des Cyberspace funktionieren könnte, will Gerd Kortuem beweisen. Dem Doktorand in der Wearable Computing Research Group am Institut für Computerwissenschaften schweben "Wearable Communities" vor Augen. Darunter versteht er eine Art kollektiver Arbeitsteilung für das Alltagsleben, die über den Nutzer permanent begleitende, unscheinbare Rechner und die dazugehörenden Software-Agenten größtenteils automatisch organisiert werden: Sobald sich Menschen begegnen, tauschen die programmierten Helfer die "To-Do-Listen" sowie die Einkaufszettel oder Verkaufslisten ihrer Träger aus. Dabei könnten sie zum Beispiel feststellen, dass A in der Bibliothek ein Buch zurückgeben, einkaufen sowie einen Brief bei der Post abgegeben muss. B dagegen will auf dem Weg zur Post am Supermarkt vorbei und hat Wäsche aus der Reinigung abzuholen.

Die Agenten signalisieren daraufhin den beiden Passanten, dass es Gemeinsamkeiten auf den Listen gibt. Man könnte sich nun darauf verständigen, dass einer zur Post und einer zum Supermarkt geht und dort jeweils die Erledigungen des anderen mit besorgt. Mit dem Verfahren wäre außerdem einfach festzustellen, dass eine Partei eine Madonna-CD verkaufen, der andere Nutzer gerne eine erstehen möchte. Einen Missbrauch des Systems, mit dem Kortuem und seine Kollegen momentan auf der Basis von Palm Pilots experimentieren, verhindern soll ein dezentralisiertes Bewertungsmodel. So würden, erklärt Kortuem, die akkumulierten Meinungen über andere Mitglieder der Community bei jedem Kontakt zwischen zwei Software-Agenten ausgetauscht. Falschspieler, die ihren Aufgaben nicht nachkommen oder die Hilfsbereitschaft anderer ausnutzen, hätten so keine Chance, glaubt der Weltverbesserer, der die soziale Realität mit seiner computervermittelten Nachbarschaftshilfe verändern will.

Die Frage, wie sich Vertrauen und damit einer der wichtigsten Werte für das menschliche Kooperieren in den neuen Medien aufbauen lässt, beschäftigte auch mehrere andere Redner. Wenn Staat, Kirche oder andere zentrale Autoritäten in der Netzwerkgesellschaft bedeutungslos werden, wie Paul Frissen, Professor für Öffentliche Verwaltung an der Tilburger Universität in den Niederlanden, argumentierte, und selbst traditionelle Drittparteien wie Unternehmen oder Organisationen nur noch bedingt mit der Offenheit des Netzes harmonieren, bleibt für den studierten Psychologen Dick Rijken nur die Möglichkeit, dass die Nutzer selbst über Vertrauen und verwandte Werte entscheiden. Dazu müssten Anbieter im Web ihnen allerdings die geeigneten Infrastrukturen zur Verfügung stellen.

Ansätze für solche Bewertungsmechanismen sieht der Mitbegründer des Zentrums für Künstliche Intelligenz an der Kunsthochschule von Utrecht in Marktplätzen wie eBay, wo ein Käufer zunächst die von anderen Usern zusammengestellte "Verkaufsgeschichte" eines Auktionators einsehen kann. Allgemein eigneten sich richtig implementierte Techniken des kollaborativen Filterns, bei denen Surfer zunächst Personen oder Güter bewerten und das System daraus Empfehlungen für andere Nutzer mit ähnlichen Interessenprofilen ableitet, gut als "Vertrauensarchitekturen". Dabei müsste aber offen gelegt werden, wie eine Webplattform "Tipps" aus dem Datensalat ableitet. Rijken selbst hat einen solchen transparenten Filterservice für den holländischen TV-Sender VPRO entwickelt.

Nutzerprofile und persönliche Daten - oft unterschätzte Werte im Cyberspace

Auch für Matthew Chalmers, Forscher am Informatik-Lab der Universität in Glasgow, entsteht durch die Kollaboration der Nutzer der neuen Medien ein Schatz von größtem Wert: Dabei denkt er gar nicht an die vorsätzliche Zusammenarbeit oder den gezielten Austausch von Wissen, sondern an die unbewussten Spuren, die die Nutzer mit jedem Klick im Cyberspace hinterlassen. Denn aus dem Verfolgen dieser Bewegungen über zahlreiche Websites hinweg erzielen ganze Unternehmen wie Doubleclick, Personify oder Engage ihre Businessmodelle und Verkaufsgüter in Form von Nutzerprofilen fürs zielgruppenadäquate "One-to-one"-Marketing. Aber auch einzelne, auf personalisierte Angebote setzende Webverkäufer und -plattformen wie Amazon oder Yahoo sammeln eifrig die Bewegungspfade der zu ihnen kommenden Surfer und hoffen durch Data-Mining darin verwertbare Informationen zu finden.

Das "Tracking" der User führt tatsächlich zu immer neuen Erkenntnissen, hat Chalmers selbst ausfindig gemacht. Seine sich in Entwicklung befindliche Empfehlungs- und Suchmaschine Recer benutzt daher nicht nur Bots und vordefinierte Ordnungskriterien wie die gängigen anderen Search-engines, sondern implementiert auch die sich aus dem Klickverhalten von Surfern ergebenden Hinweise. Die Pfade der Nutzer verdichtet Recer dabei zu "Symbolmustern", die bisher unbekannte, aber auf die eigenen Interessen zugeschnittenen Links ausspucken sollen.

Bisher funktioniert Recer allerdings nur im Testbetrieb innerhalb des geschützten Universitätsumfelds, wo die User sich gegenseitig vertrauen und ihre Bewegungspfade offen legen. "Wenn wir die Werkzeuge allen zugänglich machen, müssen wir bessere Wege finden, um die Daten zu kontrollieren, die jemand herausgibt", ist sich Chalmers bewusst. "Das Eigentum an den eigenen Daten ist entscheidend", findet auch Victoria Vesna, die mit ihrem Kunstprojekt Bodies INCorporated den Surfern vor Augen halten will, wie einfach man die Rechte an seinen Daten ähnlich wie beim Akzeptieren von Bestimmungen für den Gebrauch von Software "wegklicken" kann. Chalmers will daher die wertvollen Ergebnisse der Pfadanalysen den Nutzern selbst und nicht den Marketingabteilungen von Webanbietern überlassen: "Die fünf Cents, für die man bei Amazon dafür ein Buch billiger bekommt, entsprechen dem Wert dieser Daten einfach nicht".

Die menschliche Stimme des Internet

Nur gut, dass noch nicht alle Netzbewohner allein dem großen Geld hinterher jagen und im Ausspionieren der Surfer ihr Geschäftsmodell sehen. Craig Newmark aus San Francisco etwa hat sich zum Ziel gesetzt, die "menschliche Stimme" angesichts der immer glatter werdenden, Venture-Kapital gestützten Webunternehmer wieder herzustellen. Deswegen hat der Computernerd neben seinen Programmiertätigkeiten eine Email-Liste ins Leben gerufen, um den "Community Spirit" in seiner Heimatstadt am Leben zu erhalten. So gehörten zu den ersten Nutzern der Liste allein erziehende oder tagsüber arbeitende Mütter, die Tipps und Angebote fürs Babysitten austauschten. Inzwischen gehört die längst ins Web umgezogene Liste zum Lebensalltag "Zehntausender" in der Bay Area, die über die Site "ihre Futons verkaufen, ein Haus oder Jobs finden", freut sich Newmark.

Mit den "Werten", den die meisten seiner Kollegen unter den Web-Entrepreneuren so zugetan sind, kann der Computerfreak wenig abgewinnen. "Vor zwei Jahren wollte jemand Banner-Ads auf der Site schalten", erinnert sich Newmark. Er hat abgelehnt, weil die Leute die Zuckelbildchen "doch eh rausfiltern" oder doch nur davon genervt seien. Auch dem Angebot, seine Plattform zu verkaufen, widerstand der ganz in seiner Webgemeinschaft aufgehende Junggeselle: "Damit hätte die Site ihre Menschlichkeit verloren." Inzwischen erzielt "Craig's List" über acht Millionen Pageviews im Monat und wurde von Forrester Research zur "effektivsten Job-Site" gekürt. "Wir haben keinen großen Börsengang geplant", schaut Newmark in die Zukunft. "Der Erfolg fühlt sich aber sehr gut an."

Momentan plant der bescheidene "Unternehmer" die Ausweitung seines "Imperiums". Der "Liste" für San Francisco und das Silicon Valley sollen Ableger in Los Angeles, New York, Boston oder Sydney folgen. Auch für Berlin sucht Newmark einen "Franchise-Nehmer", der ein regionales Angebot hier zu Lande umsetzen möchte. Über Aktienanteile sollte der Bewerber aber erst gar nicht zu verhandeln versuchen.