Wenn Visionen zu Utopien werden

Das Scheitern der eBooks von Gemstar als Indiz für die grundsätzliche Krise der Hypertext-Literatur

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Als gewichtssparender Weg zum Stillen des Lesehungers in der Ferienzeit boten sich eBooks von Gemstar an. Aber schon Ende Juni war der deutsche Bookstore von Gemstar geschlossen worden, Mitte Juli folgte das endgültige Aus für die eBooks. Ist dies nur normales unternehmerisches Scheitern, oder können auch tiefergehende Ursachen ausgemacht werden?

Flache, etwa DIN-A4-große, tragbare Computer-Bildschirme gehören, so wie das Videophon, zu den Urvisionen des elektonischen Zeitalters. Alan Kays Vorstellungen von eBook-ähnlichen, kinderleicht zu bedienenden "Dynabooks", standen Anfang der 70er Jahre Pate bei der Entwicklung grafischer Benutzeroberflächen am berühmten Palo Alto Research Center der Firma Xerox.

Dynabooks: Zeichnung von Alan Kay, 1972

Kubricks Filmklassiker "2001 - Odyssee im Weltall" kann als Paradebeispiel genommen werden, welche technologischen Visionen zu Beginn der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts realistisch klangen. In einigen Filmszenen liegen Flachbildschirme auf dem Tisch der Astronauten, an dem sie ihr Essen einnehmen. Von allen technologischen Visionen, die der Film Ende der 60er Jahre ins Jahr 2001 - unsere Vergangenheit - projizierte, sind sie die einzige, die realisiert worden ist. Zwar landeten kurz nach Fertigstellung des Films 1969 die ersten Menschen auf dem Mond, aber seit inzwischen über dreißig Jahren hat kein menschlicher Fuß mehr den irdischen Trabanten betreten. Die damals im Film - und nicht zuletzt auch von der NASA - kolportierte Vorstellung war jedoch, dass eine permanente Besiedlung des Mondes fast schon zwingend erschien.

Heute sieht alles ganz anders aus. Vielleicht wird niemals mehr ein Mensch zum Mond fliegen, allen weiterhin gehätschelten Fantastereien über Weltraumbesiedlungen und Marsflüge zum Trotz. Aus einer einst realistisch erscheinenden Vision ist eine unerreichbare Utopie geworden.

Das Verschwinden der eBooks kann als Indiz verstanden werden, dass die Vision einer neuen Literatur, basierend auf Hypertexten, gescheitert und zu einer Utopie geworden ist. Natürlich kann alles auch vermeintlich nüchtern interpretiert werden. Etwa, dass neben Laptop, Palmtop und Handy im Koffer kein Platz mehr sei für ein singuläres elektronisches Device, mit dem man bloß Texte lesen kann. Oder, dass die Display-Technologien bei weitem noch nicht die Lesefreundlichkeit einer Buchseite erreichen, die am lichtdurchfluteten Strand ebenso zu lesen ist, wie im Schein der Taschenlampe unter der Bettdecke. Diese Argumente mögen durchaus zutreffend sein. Allerdings darf nicht übersehen werden, dass die Verarbeitung von Hypertexten ein charakteristischer Wesenszug elektronischer "Lesegeräte" ist. Wäre Ernst zu nehmende Hypertext-Literatur in den letzten Jahren wirklich entstanden, so wäre ein Bedarf geweckt worden, der nur mit innovativen Produkten wie den eBooks hätte befriedigt werden können.

1945 veröffentlichte Vannevar Bush seinen Artikel "As We May Think" und entließ in ihm die Idee in die Welt, Informationsmaschinen könnten, ausgehend von der zitierend/rückgekoppelten Art und Weise wissenschaftlicher Diskurse, durch Verlinken und automatisches Beschaffen zu einer Revolution der menschlichen Rezeption von Information führen. Das Internet in seiner heutigen Erscheinungsform scheint seiner Vision zu entsprechen. Was erstaunlich ist, da die meisten Visionen sich im Laufe der Zeit als Hirngespinste erweisen. Das WWW, durch dessen Erfindung das Internet erst popularisiert wurde, entstammt sogar direkt dem naturwissenschaftlichen Bedürfnis an unmittelbarer Kollaboration zwischen Wissenschaftlern in der Elementarteilchenphysik (Das Datengitter).

Es ist keine neue Netzliteratur entstanden

Jedoch ist Publikation unter Verwendung von "Hyper"-Links nicht gleichbedeutend mit "Hypertext-Literatur". Dieser Telepolis-Artikel beispielsweise erhebt gar keinen Anspruch darauf, "Literatur" zu sein. Er funktioniert im Grunde genommen konventionell: Es handelt sich um einen linearen Text, der Hyperlinks enthält, die zum Verständnis nicht referenziert werden müssen. Sie dienen als Quellen und somit als "Authentizitätsverstärker", so wie Quellenangaben in klassischen Zeitschriften auch. Die elektronische Natur des Mediums dient vor allem der Effizienzsteigerung. Der Autor muss nicht in einem bestimmten Redaktionsgebäude anwesend sein, die Texte müssen nicht gesetzt werden und die Rückmeldung und Beteiligung der Leserschaft ist viel unmittelbarer, als es Leserbriefe je sein könnten. Zudem sind weder Druckerei noch Vertriebssystem nötig, um Telepolis ans virtuelle Kiosk zu bringen.

Hypertext-Literatur wollte aber viel mehr sein. Die Befreiung der Literatur von linearen, eindimensionalen Strukturen, die nicht der menschlichen Natur und Erfahrung entsprechen. Die Berücksichtigung des freien Willens des Lesers und des Zufalls im Gegensatz zu vom Autor starr vorgegebenen Handlungssträngen. Beflügelt durch das Internet gab es zu Beginn der 90er Jahre zahlreiche Experimente. Sogar die altehrwürdige "Zeit", ansonsten jahrzehntelang dem Bleiwüsten-Layout verpflichtet, startete zusammen mit anderen, einen jährlichen "Pegasus" genannten Internet-Literatur-Wettbewerb. 1998 fand der letzte dieser Art statt.

Die "Literatur" hatte man bei der Ausschreibung allerdings schon fallen gelassen, es war nur noch von einem "Internet-Wettbewerb" die Rede. Die Preisverleihung fand Ende 1998 im Karlsruher ZKM statt. Peter Weibel hielt eine Rede, in der er sich mit dem Algorithmischen in der Kunst befasste - was mit den meisten Arbeiten nicht viel zu tun hatte -, und am Ende konnte niemand sagen, was denn nun Internet- oder Hypertext-Literatur eigentlich sei. Ein weiterer Wettbewerb wurde nicht mehr ausgeschrieben. Selbstverständlich gibt es weiterhin Hypertext- und Netzliteraten und entsprechende Wettbewerbe werben immer noch für eine Teilnahme mit einem spannenden "Alles ist erlaubt"-Literaturpreis. Es wird also weiterhin fleißig experimentiert und ausprobiert. Aber von einer neuen, revolutionären Literaturgattung, die auf breites Interesse stößt, kann keine Rede sein.

Die Schrift ist linear

Von der Erfindung der Schrift bis zum ersten Auftauchen von Romanen vergingen mehr als 3500 Jahre. Ist in unseren stürmischen Zeiten vielleicht einfach die Erwartungshaltung zu hoch? Vielleicht muss der Shakespeare der Hypertext-Literatur erst noch geboren werden?

Mir erscheint eine andere Sichtweise angemessener. Die Erfindung der Schrift stellte den Menschen einen einzigartigen Mechanismus zur Komplexitätsreduktion und gleichzeitig zur Schaffung neuer Strukturen zur Verfügung. Mit der Schrift begann die Historie der Menschen. Erstens, weil jetzt bewusst dokumentiert werden konnte. Zweitens, weil Schrift Information linear codiert. Erst dadurch entstand ein gerichteter Zeitpfeil und die menschliche Urerfahrung der ewigen Wiederholung des Gleichen wurde überwunden. Die bis dahin herrschende Magie der Bilder an den Wänden der Höhlen und in den Köpfen der Menschen wurde durchbrochen von der Möglichkeit, abstrakte Ideen mitteilen zu können.

Der Kampf der Schrift gegen das Bild, des Geschichtsbewusstseins gegen die Magie, kennzeichnet die gesamte Geschichte.

Vilém Flusser

Bilder sind nicht-linear, allein schon durch die ihnen eigene Möglichkeit, in der zweidimensionalen Bildfläche verschiedene Dinge gleichzeitig zeigen zu können. Die Macht der Schrift erwächst dahingegen aus der Notwendigkeit, geordnet und abstrakt vorgehen zu müssen. Hypertext-Literatur ist somit der sinnlose Versuch, Texte in der Funktion von Bildern einzusetzen. Die Fragmente eines Hypertextes sind immer nur einzeln und linear zu lesen. Was Parallelität und Mehrdeutigkeit sein soll, wird so allenfalls Zersplitterung. Die Schrift in der Funktion von Bildern einzusetzen, schafft somit keine neue Literatur, sondern verharrt im lexikalischen oder erzeugt Chaos, was allerdings beides durchaus unterhaltsam sein kann.

Dreizehn Jahre WWW und noch immer steht keine Hypertext- oder Netzliteratur, sondern konventionelle dicke Schwarten wie "Harry Potter" auf den Bestsellerlisten. Aber Buch und Netz kooperieren auch gut miteinander. Und dabei bleiben sogar klassische Visionen erhalten, etwa dann, wenn sich der Internet-Buchhändler und Amazon-Gründer Jeff Bezos anschickt, den Weltraum zu erobern (Bezos, der Gründer von Amazon, hat große Pläne).