Neue Rhetorik macht Bildungsreform-Versprechen nicht besser

Didaktikprofessor Jochen Krautz über aktuelle "Bildungsreformen" und die katastrophale Situation im Bildungsbereich

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Prof. Dr. Jochen Krautz ist Professor für Kunstpädagogik an der Bergischen Universität Wuppertal und arbeitet neben kunstpädagogischen und fachdidaktischen Fragestellungen insbesondere zur Analyse und Kritik der Bildungsreformen seit PISA und Bologna. Er ist Beiratsmitglied der Gesellschaft für Bildung und Wissen.

Herr Krautz, Sie haben vor rund zwei Jahren mit einem Artikel in der FAZ ganz schön für Aufruhr gesorgt, als Sie darauf aufmerksam machten, dass unser Bildungssystem zunehmend der demokratischen Kontrolle entzogen und in die Hand von Stiftungen, Lobbygruppen und internationalen Organisationen gelegt wird. Hat sich die Lage denn inzwischen ein wenig entschärft?

Jochen Krautz: Jain. Ich hatte damals dargestellt, dass die Bildungsreformen im Gefolge von PISA und Bologna maßgeblich mit Mitteln sogenannter "Soft Governance" durchgesetzt wurden. Zu Deutsch: mit nicht demokratisch legitimierter Einflussnahme. Maßgeblich sind dabei die OECD mit den PISA-Tests und die EU mit der Bologna-Reform. Unterstützt und vorangetrieben werden diese Prozesse von Stiftungen und Lobbygruppen, in Deutschland vor allem von der Bertelsmann Stiftung.

Dabei weiß etwa die OECD selbst sehr genau, dass sie gar keine legitimen Einflussmöglichkeiten auf nationale Bildungspolitik hat. Daher arbeitet sie auch mit der "naming and shaming"-Technik. "PISA-Verlierer" werden an den medialen Pranger gestellt, "PISA-Gewinner" hingegen gefeiert und gelobt. So übt man Druck auf eigentlich souveräne Staaten aus.

Der hierdurch inszenierte "PISA-Schock" hinterließ zudem ein reflexives Vakuum, in dem man sich bereitwillig nach dem mit PISA gelieferten funktionalistischen Konzept von Bildung richtete, um die vermeintliche "Schmach" wettzumachen. Das OECD-Konzept impliziert aber normative Ideen und ein ökonomistisches Menschenbild, das mit dem personalen Menschenbild, das unseren Verfassungen und Richtlinien zugrunde liegt, nicht viel zu tun hat.

Zudem hatte ich auf ein wichtiges Strategie-Papier der Bertelsmann Stiftung verwiesen, das Regierungen instruiert, wie sie Reformen auch gegen den Willen der Bürger und Beteiligten durchsetzen können. Das kann man etwa am Bologna-Prozess sehr genau nachvollziehen, an dessen Umsetzung das von der Bertelsmann Stiftung mitgetragene CHE ja maßgeblich beteiligt war. Die hierbei genutzten Strategien der Spaltung und Zersetzung von Opposition funktionieren leider bis heute sehr gut. Auch weil man sehr gezielt an den Interessen, Wünschen und Ängsten der verschiedenen Gruppen angesetzt und diese gegeneinander ausspielt.

Ich würde also sagen: Das kritische Bewusstsein über derlei Prozesse und die sie treibenden Akteure hat in letzter Zeit sehr wohl zugenommen, wirkliche Einflusseinbußen hat die "Bildungsreformerlobby", die Bildung konzeptionell wie strukturell unter ökonomischen Gesichtspunkten führen will, dadurch bisher aber nicht hinnehmen müssen.

Nach Standards, Tests und Kompetenzen ausgerichtete Bildungsreformen haben keinen Nutzen für die Bildung

Und was stimmt Sie eher positiv?

Jochen Krautz: Nun, da ist zum einen die Tatsache, dass Lehrer und Wissenschaftler zunehmend skeptisch gegenüber den undemokratischen und bildungswidrigen Steuerungsversuchen werden und immer wieder und immer mehr auch selbst Position beziehen. Und da sind zum anderen die zunehmenden Verwerfungen, die all diese Reformen erzeugen. Deren negative pädagogische, soziale, politische und wirtschaftliche Effekte werden zunehmend sichtbar. Auch hierdurch kommt manch einer - auch in der Wirtschaft - inzwischen ins Nachdenken.

Welche negativen Effekte meinen Sie?

Jochen Krautz: Unlängst hat etwa ein offizieller Bericht, den das Bildungsministerium in Österreich selbst in Auftrag gegeben hat, in aller Deutlichkeit das Scheitern der nach Standards, Tests und Kompetenzen ausgerichteten Bildungsreformen attestiert.

Er kam zu dem Schluss, es gäbe keine empirischen Nachweise, dass diese der Bildungsqualität irgendwie von Nutzen sind. Im Gegenteil führen standardbasierte Tests und Kompetenzorientierung mittels eines zunehmenden Teaching-to-the-Test immer mehr weg vom verstehenden Lernen und damit schließlich zu einem Bildungsabbau, zu etwas also, das man aus Amerika schon seit langem kennt und weiß, aber natürlich nicht wahrhaben wollte.

Und warum gehen die Reformversprechungen dennoch immer weiter?

Jochen Krautz: Ein Aspekt scheint mir, dass die Strategen der indirekten Steuerung inzwischen dazugelernt haben. Das ökonomistische Neusprech, dessen sie sich bisher bedienten, wurde in der letzten Zeit zurückgefahren, weil es zunehmend weniger überzeugte und in die Kritik geriet. Sie hören heute immer weniger von "Humankapital", "Output-Orientierung", "Qualitätsmanagement" etc.

Statt solchem Manager-Kauderwelsch trifft man nun aber verstärkt auf kinderfreundlich klingende Reformeuphorie, die irgendwo zwischen reformpädagogischem Kitsch, antipädagogischen Versatzstücken und neuer Methodenlehre schwankt, letztlich aber wohl neue Rhetorik für alte Reformziele und nicht minder ökonomistische Hintergrundmodelle ist.

Stichworte sind dabei nun vor allem "selbstgesteuertes Lernen", "Selbstorganisation", "offener Unterricht", "Lernlandschaften", "Individualisierung", "jedem Kind sein dies und das", "gehirngerechtes Lernen", "Potenzialentfaltung" usw. usf. Das klingt in der Tat alles sehr verführerisch, weil es ans Herz greifen soll. Wer will da etwas dagegen haben?

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