Festung Europa jetzt mit Bewegungsmelder

European Situational Picture - Bericht über die Rettung von Migranten auf dem Mittelmeer.Bild Frontex

Die Europäische Union startet heute ihr neues Überwachungssystem EUROSUR. Neben den Außengrenzen wird auch die Hohe See ausgespäht. Die EU-Kommission veröffentlicht erstmals technische Details

Der folgende Beitrag ist vor 2021 erschienen. Unsere Redaktion hat seither ein neues Leitbild und redaktionelle Standards. Weitere Informationen finden Sie hier.

Nach fünfjähriger Vorbereitungszeit nimmt die Europäische Union heute ihr Grenzüberwachungssystem EUROSUR in Betrieb. Zunächst werden "nationale Kontrollzentren" von 19 Mitgliedstaaten untereinander vernetzt. Hierzu gehören alle Mittelmeeranrainer sowie jene Staaten mit einer östlichen Außengrenze. Auch Norwegen als im Schengener Abkommen assoziiertes Land ist dabei. In genau einem Jahr sollen dann alle übrigen EU-Mitglieder folgen, zuzüglich Island, der Schweiz und Liechtenstein.

Frontex Situation Centre. Bild: Frontex

Als Hauptquartier fungiert die EU-Grenzpolizei FRONTEX. Der Sitz der Agentur in Warschau ist hierfür mit einer Kommandozentrale ausgestattet worden: Auf einem riesigen Monitor wird jeder neue Vorfall grafisch angezeigt. Ein Werbevideo zeigt diese Funktionalität auch in den Mitgliedstaaten: Immer wenn Grenzbehörden einen Vorfall melden, blinkt das Symbol einer verkehrt herum befahrenen Einbahnstraße.

Die EU hat für die Einrichtung und Modernisierung der "nationalen Kontrollzentren" sowie bei FRONTEX in Warschau rund 244 Millionen Euro locker gemacht. Die Daten werden nahezu in Echtzeit über ein gesichertes Netzwerk übertragen.

EUROSUR als "Mehrzwecksystem"

EUROSUR bildet eine Matrix aus bereits vorhandenen Sensoren. Hierzu gehören vor allem die seeseitigen Grenzüberwachungssysteme im Schwarzen Meer, in der Ostsee und im Atlantik. Die Netzwerke bleiben nicht auf EU-Mitgliedstaaten beschränkt: Im unter spanischer Ägide errichteten "Seahorse Atlantic Projekt" kooperieren auch Mauretanien, Marokko, Senegal, Gambia, Guinea Bissau und die Kap Verden.

Auf Initiative Spaniens wird derzeit im Mittelmeer eine ähnliche Plattform aufgebaut, an der auch Libyen teilnehmen will. Die Vernetzung soll über Italien eingefädelt werden, in Tripolis und Benghasi sind bereits zwei "nationale Kontrollzentren" eingerichtet worden. Die EU hat auch auf Tunesien, Ägypten und Algerien Druck zur Teilnahme am Überwachungsnetzwerk ausgeübt - anscheinend erfolgreich: Drohnen vor Libyen und Tunesien.

Erst Anfang Oktober hatte das EU-Parlament die notwendige EUROSUR-Verordnung in erster Lesung beschlossen. Die Abgeordneten pochen darauf, dass EUROSUR "zur Rettung von Zuwanderern eingesetzt werden muss, wenn diese sich in Gefahr befinden". Die Grenzpolizisten müssten "stets die Menschenrechte achten, einschließlich des Grundsatzes der Nichtzurückweisung".

Die Guardia Civil ist im spanischen Koordinierungszentrum tätig. Bild: Spanish National Coordination Centre

Offiziell wird EUROSUR als "Mehrzwecksystem" bezeichnet. Es soll grenzüberschreitende Kriminalität aufdecken, darunter Drogenhandel oder Schmuggel. Wie vom Parlament gefordert sollen auch Schiffbrüchige gerettet werden. Es kann aber davon ausgegangen werden, dass EUROSUR die Passagen Schutzsuchender vor allem im Mittelmeer eher riskanter macht: Werden Migranten schon bei der Abfahrt aufgespürt, erreichen sie erst gar nicht internationale Gewässer oder Hoheitsgebiete von EU-Mitgliedstaaten, in denen Asyl beantragt werden kann.

Diese Einschätzung wird auch dadurch gestützt, dass die Mittelmeeranrainer Italien, Frankreich, Spanien, Griechenland und Malta neue Vorschriften zu Rettungsmissionen rundherum ablehnen. Diese waren notwendig geworden, nachdem der Europäische Gerichtshof die 2010 erweiterte FRONTEX-Verordnung aus formalen Gründen für teilweise nichtig erklärte (Mittelmeerländer weigern sich, die EU-Grenzagentur FRONTEX auf Menschenrechte zu verpflichten).

FRONTEX erhält mehr Kompetenzen

Es wird sich zeigen, ob die Vernetzung der "nationalen Kontrollzentren" einen tatsächlichen Mehrwert für die europäische Flüchtlingsabwehr darstellt: Denn bereits jetzt kooperieren Nachbarstaaten in gemeinsamen Operationen oder mit Datentausch. Vielmehr kann angenommen werden, dass die EU-Grenzpolizei - obwohl eigentlich in EU-Verträgen untersagt - faktisch operative Kompetenzen erhält: Denn über EUROSUR wird FRONTEX mit Daten aus der Satellitenaufklärung versorgt. Bislang werden diese vornehmlich für militärische und geheimdienstliche Zwecke verwendet. Zahlreihe Forschungsprojekte haben ihre Nutzung auch für die Flüchtlingsabwehr bereitgestellt (Frontex geht in die Luft). Nun kann FRONTEX die Bilder aus dem All nach eigener Einschätzung an die "nationalen Kontrollzentren" durchreichen.

Inzwischen hat die EU-Kommission erstmals technische Details zu den getauschten Informationen herausgerückt. Jeder Teilnehmer darf beispielsweise selbst entscheiden, welche seiner Daten verarbeitet werden: Möglich sind polizeiliche oder militärische Mitteilungen. Die Rede ist auch von "intelligence reports", also quasi-geheimdienstlichen Berichten. Einzelne Länder können untereinander Kooperationsabkommen zu ihrer Weitergabe schließen. So könnte Griechenland jederzeit detailliert im Bilde sein, was an spanischen Küsten vor sich geht oder ob Italien wieder mit Malta um die Rettung Schiffbrüchiger streitet. Erst kürzlich ertranken deshalb 200 Menschen qualvoll.

Das italienische Koordinierungszentrum. Bild: Italian National Coordination Centre

Laut der Mitteilung der EU-Kommission verfolgt EUROSUR einen "informationsbasierten Ansatz" ("intelligence-driven approach"). Gemeint ist, dass alle Informationen auch als Statistiken verarbeitet werden, um dann als Basis für "Risikoanalysen" zu dienen. So will FRONTEX Flüchtlingsströme im Vorfeld prognostizieren (Das Ende des "patrouillengestützten Ansatzes").

Zur Zeit wird etwa aus Warschau gemeldet, dass die Aufrüstung des Mittelmeers bereits jetzt zu neuen Routen geführt hat. FRONTEX warnt, dass mehr Migranten den Landweg über spanischen Exklaven Ceuta und Melilla wählen würden. Die dortigen Landgrenzen sind noch mit tödlichem Klingendraht gesichert, der als "European Security Fence" unter anderem über Berlin vertrieben wird (Spanien prüft trotz "Ansturm" eine Abrüstung der Grenze).

Zivil-militärische Kontrollzentren

Das deutsche Lagezentrum See in Cuxhaven wird erst im Dezember 2014 an EUROSUR angeschlossen. Soweit bekannt, ist dann lediglich die Bundespolizei mit FRONTEX oder anderen Grenzbehörden vernetzt. In vielen anderen Mitgliedstaaten sind aber Gendarmerien für die Grenzsicherung zuständig, die dem Militär unterstellt sind. Auch die Marine übernimmt entsprechende Aufgaben. Im italienischen Kontrollzentrum sind etwa die Polizei, die dem Militär unterstellte Carabinieri, die zur Finanzpolizei oder den Carabinieri gehörende Küstenwache und die Marine im "nationalen Kontrollzentrum" vereint.

Italien hatte im Oktober eine Militäroperation gestartet, die ebenfalls dem Aufbringen von Flüchtlingsbooten dienen soll. Sie arbeitet eng mit der libyschen Küstenwache zusammen, die dem Militär obliegt. Laut Medienberichten fahren libysche Soldaten nach einem neuen Abkommen auf den italienischen Kriegsschiffen mit. Italienische Drohnen dürfen demnach nicht mehr nur die libysche Seegrenze überwachen, sondern bis tief ins Landesinnere vorstoßen.

Der Europäische Auswärtige Dienst, der in der EU für die Außenpolitik zuständig ist, schlägt nun ebenfalls die Nutzung militärischer Aufklärung im Mittelmeer vor (Festung Europa: EU will Migration im Mittelmeer mit Kriegsschiffen eindämmen). FRONTEX könnte etwa auf Schiffe oder Flugzeuge der NATO oder von einzelnen EU-Mitgliedstaaten zurückgreifen. Damit wird EUROSUR zum zivil-militärischen Bewegungsmelder für die Festung Europa.