Wie könnte ein zeitgemäßer Liberalismus aussehen?

Interview mit der Wirtschaftsphilosophin Lisa Herzog

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Lisa Herzog ist Postdoktorandin am Institut für Sozialforschung und am Exzellenzcluster Die Herausbildung normativer Ordnungen der Goethe-Universität Frankfurt am Main. Anfang des Jahres erschienen ihre Dissertation Freiheit gehört nicht nur den Reichen, die sie als "Plädoyer für einen zeitgemäßen Liberalismus" versteht.

Frau Dr. Herzog - Sie schreiben: "Wir sollten uns von der Vorstellung verabschieden, dass 'der Markt' eine 'blackbox' sei, an der man nichts ändern, sondern allenfalls später den Kuchen anders aufteilen kann. Viel sinnvoller ist, von vornherein zu fragen, wie der Kuchen entsteht und hier gegebenenfalls das Regelwerk zu ändern." Und: "Die Rahmenbedingungen der Märkte […] zu gestalten, verlangt weit mehr Aufmerksamkeit, als ihnen in den letzten Jahren zugestanden wurde". Gab es da aus der Politik heraus überhaupt Anstrengungen, die über Selbstregulierung hinausgehen, welche den Finanzsektor in die organisierte Verantwortungslosigkeit führte?

Lisa Herzog: Gewisse Regulierungen gab es schon, wenn auch in verschiedenen Ausprägungen in verschiedenen Ländern. Wenn es keinerlei Regulierung gegeben hätte, stünden wir heute vermutlich noch ganz anders da! Aber im Finanzsektor hat sich die Vorstellung, dass man Anbietern und Nachfragern freie Hand lassen solle, besonders stark niedergeschlagen. In vielen anderen Märkten müssen neue Produkte erst zugelassen werden: es gibt einen Sicherheitscheck, möglicherweise Umweltauflagen, etc. Das gab es für viele Finanzprodukte nicht. Besonders die Frage nach systemischen Ungleichgewichten wurde vernachlässigt, zum Beispiel weil man in den USA davon ausging, dass die Risiken des Immobilienmarktes über das ganze Land hinweg gestreut werden könnten, und eine Blase für den gesamten Markt unmöglich sei.

Konkret schlagen Sie schlagen zum Beispiel vor, dass "bei jeder gerichtlichen Durchsetzung von Verträgen viel stärker danach gefragt [werden könnte], ob die Bank sich am Wohl der Kunden orientiert hat oder nicht." Wurden Sie von Politikern schon nach Hilfe zu einem Gesetzentwurf dazu gefragt?

Lisa Herzog: Bisher kam keine Anfrage, aber manche Änderungsvorschläge gehen genau in diese Richtung. Allerdings sind gesetzliche Änderungen nicht die einzig mögliche Lösung (auch wenn sie vielleicht die beste wären); Kunden können in gewissem Maß auch mit den Füßen abstimmen, bei welchen Banken sie ihre Interessen am besten gewahrt sehen. Mein Eindruck ist, dass das Bewusstsein dafür nach der Finanzkrise gewachsen ist.

Arbeitsmärkte sind Ihren Worten nach "von viel zu vielen störenden Faktoren beherrscht, als dass man davon ausgehen könnte, dass hier die Leistungen der Einzelnen auf eine Art und Weise entlohnt werden, die 'verdient' genannt werden könnte". Könnte man die Regeln für Arbeitsmärkte so ändern, dass Verdienst mehr mit Leistung zu tun hat? Oder wäre das zu kompliziert und deshalb unmöglich?

Lisa Herzog: Mit der Kategorie "Verdienst" muss man vorsichtig sein, weil sie missbraucht werden kann und die Diskussion schnell ideologisch wird. Eine "Feinsteuerung" halte ich deshalb nicht für realistisch. Aber man kann sich bei gewissen Extremen - nach oben und nach unten - fragen, welche Form von Wertschöpfung für die Gesellschaft hier erbracht wird, und ob möglicherweise in der Preisfindung in den entsprechenden Märkten Verzerrungen vorliegen, die man durch ein besseres Regelwerk verändern kann.

Lisa Herzog. Foto: © Normative Orders.

Sie sympathisieren mit einem Wechsel von Opt-In zu Opt-Out in Bereichen, in denen man weiß, dass der Bürger dazu tendiert, sich problematisch zu verhalten und in denen problematische Entscheidungen nicht nur negative Auswirkungen auf den Einzelnen, sondern auch auf die Gemeinschaft haben - zum Beispiel bei der Altersvorsorge. Wie darf man sich das konkret vorstellen? Und warum wäre das ein "libertärer Parternalismus"?

Lisa Herzog: "Libertärer Paternalismus" ist ein Begriff, der von amerikanischen Sozialwissenschaftlern geprägt wurde, um zwei scheinbare Gegensätze zu vereinen: "libertär", weil die Einzelnen immer noch alle Wahlmöglichkeiten haben, "Paternalismus", weil der Staat sich um das Wohlergehen der Einzelnen sorgt, wo diese sich nicht selbst darum kümmern, oder das nicht auf die optimale Art und Weise tun.

Ein Beispiel, das besonders in den USA relevant ist, ist die Frage, ob automatisch ein Teil des Einkommens für die Rente gespart wird, oder man sich selbst aktiv darum bemühen muss, einen Sparplan einzurichten. Man hat in Studien festgestellt, dass viele Menschen gerne mehr sparen würden, als sie de facto tun. An solchen Stellen greift dieses Modell zum Wohl der Einzelnen und quasi zum Schutz vor sich selbst.

Ein anderes Beispiel, das auch in Deutschland kontrovers diskutiert wurde, betrifft Organspenden. Ich sehe in diesem Ansatz das Potential für Formen der Steuerung, die nicht mit bedingungslosem Zwang einhergehen, aber trotzdem bessere Ergebnisse erzielen.

Allerdings ist dabei wichtig, dass die Transparenz- und Informationspflicht den Einzelnen gegenüber sehr ernst genommen wird. Und man darf den Ansatz nicht zu einem Allheilmittel verklären; wenn jemand zum Beispiel insgesamt zu wenig verdient, um sinnvoll fürs Alter vorzusorgen, hilft auch ein Opt-Out-System nicht.

In Ihrem Buch zeigen Sie, dass der "Mythos trickle down" durch Einkommensentwicklung in den USA schon seit Mitte der 1990er Jahre empirisch widerlegt wurde. War der Liberalismus die letzten 20 Jahre zu empirieresistent? Und wenn ja - warum?

Lisa Herzog: Empirieresistenz ist eine Deutung - eine andere wäre, dass so manchen selbsterklärten Liberalen nicht wirklich interessierte, wie es den ärmeren Bevölkerungsschichten ging, solange die eigenen Schäfchen im Trockenen waren ...

Es ist schwer, hier zu verallgemeinern, zumal die Diskurse in Europa und den USA unterschiedlich abgelaufen sind, von anderen Weltregionen gar nicht zu sprechen. Insofern Empirieresistenz vorlag, haben vermutlich zwei Dinge eine Rolle gespielt: zum einen der Glaube an bestimmte mathematische Modelle, die angebliche "Gesetze" der Ökonomie sehr eindringlich vermitteln, und zum anderen das Gefühl, dass nach dem Ende das Sowjet-Kommunismus der Kapitalismus sich endgültig als das überlegenere System erwiesen habe.

Beides hat vermutlich dazu beigetragen, dass man weniger genau hingeschaut hat, was innerhalb des kapitalistischen Systems eigentlich passiert, und ob die Wirklichkeit sich so verhält, wie die Lehrbuchmodelle das behaupteten.

Ihrer Wahrnehmung nach tendieren sowohl Liberale als auch Linke zu einem unrealistischen Menschenbild. Könnte die Neuroökonomie da für Korrekturen sorgen?

Lisa Herzog: Sie hat sicher Potential dazu. Manchmal würden vielleicht auch der gesunde Menschenverstand oder historische Beispiele genügen, um sich klar zu machen, dass bestimmte Annahmen unrealistisch sind. Menschen neigen z.B. dazu, sich von ihrem sozialen Umfeld mitreißen zu lassen, Gefühle besitzen daher eine gewisse Ansteckungskraft - das zeigt sich im Alltag oft genug. Die Neurowissenschaft kann genauer klären, was in solchen Fällen passiert, aber die Einsicht an sich ist nicht neu. Adam Smith schrieb auch schon darüber!

Und Wilhelm Röpke und Alexander Rüstow griffen schon in den 1940er Jahren viele der Probleme und Widersprüche auf, die Sie in Ihrem Buch behandeln. Warum gerieten die beiden - im Vergleich zu Ludwig von Mises oder Friedrich August von Hayek - in relative Vergessenheit?

Lisa Herzog: Gute Frage! Die historischen Details dazu weiß ich leider nicht. Vielleicht spielte eine Rolle, dass von Mises und von Hayek in den USA stärker aufgegriffen wurden. Sie haben natürlich Recht - viele der Fragen, die sich heute stellen, ähneln denen, die die Freiburger Schule diskutiert hat. Allerdings haben wir es heute mit globalen Problemen und mit Umweltproblemen - besonders dem Klimawandel - in einem Ausmaß zu tun, das damals vermutlich schwer vorstellbar gewesen wäre.

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