Droht das sechste Massensterben?

Die Weltbevölkerung hat sich in den vergangenen 35 Jahren verdoppelt und die Zahl der Wirbellosen um rund 45 Prozent verringert

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Biologen schlagen Alarm: Auf der Erde könne eine neue Welle des Massensterbens einsetzen. Was wie eine Schlagzeile aus den Boulevardmedien klingt, ist das Fazit einer Meta-Studie, die jüngst im Wissenschaftsjournal "Science" veröffentlicht wurde.

Fossilienfunde zeigen, dass es in den letzten 540 Millionen Jahren insgesamt fünf große Aussterbewellen gab. Nun scheint sich die sechste Welle anzukündigen: Seit Anfang des 16. Jahrhunderts sind mehr als 320 Wirbeltiere völlig vom Erdboden verschwunden. Bei den noch lebenden Wirbeltieren sind 16 bis 33 Prozent unmittelbar vom Aussterben bedroht, bei den Amphibien sind es sogar 41 Prozent. Von den noch fünf bis neun Millionen auf der Erde lebenden Tierarten gehen jährlich 11.000 bis 58.000 unwiderruflich verloren, so Rodolfo Dirzo, der als Biologieprofessor an der Stanford University forscht.

"Wir neigen dazu, das Massensterben bloß als den Verlust verschiedener Arten auf der Erde zu betrachten, aber damit einher geht auch ein Verlust der Funktionsfähigkeit unseres Ökosystems, in dem Tiere eine zentrale Rolle spielen", sagt Dirzo.

Schuld an der drohenden sechsten Aussterbewelle sei der Mensch, weshalb Dirzo von einer Ära der "anthropocene defaunation" spricht, sozusagen einer "Enttierlichung" des Planeten. Die Menschheit zerstört und verschmutzt im großen Stil die Weltmeere und Landflächen, Wälder werden gerodet, Seen versalzen und große Städte entstehen meist dort, wo der fruchtbarste Boden ist - und eben dieser Boden wird großflächig versiegelt und asphaltiert.

Die Weltbevölkerung hat sich in den vergangenen 35 Jahren verdoppelt, im gleichen Zeitraum hat sich die Zahl der Wirbellosen - von Käfern bis hin zu Spinnen und Honigbienen - um rund 45 Prozent verringert. Gerade die Wirbellosen haben keine Lobby, scheinen sie doch im Überfluss vorhanden zu sein. Aber ihr Aussterben kann zu enormen Schneeballeffekten in den verschiedenen Nahrungsketten bis hin zu den Wirbeltieren und Menschen sorgen. Insekten sind die Hauptnahrungsquelle für Vögel, Nagetiere und etliche andere Lebewesen, die wiederum Beutetiere für andere Fleischfresser sind. Ohne Würmer gibt es keinen Humus und damit keine Landwirtschaft. Ohne Honigbienen, die den Großteil unserer Nutzpflanzen bestäuben, gäbe es kaum Äpfel, Kirschen, Gurken, Kaffee und viele weitere Nahrungsmittel. Der ökologische Schneeballeffekt kann also eine Lawine auslösen, kurzum: ein Massensterben.

Osterinsel reloaded?

Es gibt nur zwei Wesen, die ihre eigene Lebensgrundlage zerstören: Viren und Menschen. Die Menschen betreiben ihre eigene Zerstörung exzessiv. Exemplarisch hierfür steht der Niedergang der Osterinsel. Die Bewohner der Insel (die Rapa Nui) haben sich ihre eigene Lebensgrundlage zerstört, indem sie auf ihrer Insel radikal Raubbau begingen: Jeder Baum der riesigen Palmwälder wurde abgeholzt, um Hütten und Boote zu bauen und immer weiter zu expandieren. Doch irgendwann war der letzte Baum von der Erdoberfläche verschwunden, sodass die Rapa Nui keine Boote mehr hatten zum Fischen. Ergebnis: Die Menschen starben entweder an Hunger oder in den nun einsetzenden Stammeskriegen. Trotz aller Warnzeichen sägten sich die Rapa Nui den Ast ab, auf dem sie saßen - und löschten somit ihre Kultur aus.

Es scheint sich um eine global anzutreffende Tendenz der Spezies Mensch zu handeln: Wir beuten unsere Umwelt und unsere Mitmenschen so lange aus, bis alles zerstört ist. Und all das sehenden Auges. Eine aktuelle Studie des Mathematikers Safa Motesharrei unterstreicht die düsteren Aussichten der "Science"-Meta-Studie. Der Mathematiker führt die Räuber-Beute-Gleichung an, derzufolge gilt: Wenn es genug Beute gibt, so nimmt die Zahl der Räuber zu. Dadurch jedoch nimmt anschließend die Zahl der Beute ab, wodurch auch die Zahl der Räuber sinkt.

Übertragen auf die Menschen warnt Motesharrei, dass die Ausbeutung der natürlichen Ressourcen (und auch die ungleiche Verteilung des Reichtums) zum totalen Kollaps der Zivilisation führen könne. Für die bereits erwähnte Osterinsel haben 1998 die Ökonomen James Brander und Scott Taylor das Modell durchgerechnet und dabei nachgewiesen, dass die Rapa Nui mathematisch gesehen aussterben mussten. Für die westlichen Industrienationen liegen vergleichbare Zahlen vor - sie verbrauchen derzeit 1,5-mal mehr Ressourcen als in der gleichen Zeit auf der Erde nachwachsen können.

Die "Weissagung der Cree", die vor allem in der Umweltschutzbewegung der 1970er-Jahre die Runde machte, hat also nichts von ihrer Aktualität eingebüßt: "Erst wenn der letzte Baum gerodet, der letzte Fluss vergiftet, der letzte Fisch gefangen ist, werdet ihr merken, dass man Geld nicht essen kann."

Patrick Spät lebt als freier Journalist und Buchautor in Berlin. Zuletzt erschien von ihm das Buch: Und, was machst du so?, Zürich: Rotpunktverlag, 2014.