Das Dersim-Massaker an den alevitischen Kurden in der Türkei

Dersim (1937); Karte: NordNordWest/CC BY-SA 3.0

Nach der Diskussion um den Genozid an den Armeniern rückt ein neues Massaker ins Blickfeld: das Massaker an den kurdischen Aleviten in Dersim (heute Tunceli) vor 77 Jahren

Der folgende Beitrag ist vor 2021 erschienen. Unsere Redaktion hat seither ein neues Leitbild und redaktionelle Standards. Weitere Informationen finden Sie hier.

Die Diskussion um den Völkermord an den Armeniern (Völkermord an den Armeniern) hat international für einigen Wirbel gesorgt, nachdem der Papst und etliche Staaten, nicht zuletzt auch die Bundesregierung - zwar zögerlich und verklausuliert - in Person von Bundespräsident Gauck und Bundestagspräsident Lammert (CDU) von Völkermord sprechen.

Die Türkei reagiert pikiert und wehrt sich, das Massaker als Völkermord zu bezeichnen. Nach wie vor wird von "Umsiedlung" gesprochen. Ministerpräsident Davutoglu beschwert sich persönlich bei Merkel, der türkische Präsident Erdogan will Deutschland den Mund verbieten.

Dabei hält die Unterdrückungs- und Diskriminierungspolitik gegenüber Minderheiten auch in der heutigen Türkei an. Auch die Geschichte der Verfolgung und Diskriminierung der Aleviten hat ihre Wurzeln im Osmanischen Reich. Schon vor der Gründung der Türkischen Republik (1923) wurde die Provinz Dersim, das Hauptsiedlungsgebiet der kurdischen Aleviten in der Osttürkei, von den Osmanen angegriffen und Massaker verübt.

Historische Hintergründe

In dieser damals schwer zugänglichen Bergregion konnten die kurdischen Aleviten ihre Kultur nahezu unbehelligt leben. Die Aleviten stellen mit 10 - 20% der Bevölkerung in der Türkei die größte religiöse Minderheit dar. Hauptsiedlungsgebiete sind die kurdischen Provinzen Dersim (türk: Tunceli), Xarpet (türk: Elazig, und Bingöl, wie auch die gemischten Provinzen Sivas, Erzincan und Adana und die türkischen Provinzen Malatya, Kayseri und Tokat.)

Bis heute sind die Aleviten in der Türkei nicht als konfessionelle Minderheit anerkannt, was die Europäische Kommission mehrfach kritisiert hat und nunmehr zur Bedingung bei den Beitrittsverhandlungen der Türkei zur Europäischen Union macht.

Diese Religionsgemeinschaft setzt sich in starkem Masse aus Zaza- und Kurmanci-sprachigen Kurden, zusammen1. Die Entstehungsgeschichte der alevitischen Religionsgemeinschaft und ihre Zuordnung zu den großen Religionen ist nach wie vor umstritten.

Es gibt in ihrer Philosophie große Übereinstimmungen mit den Schiiten und den Sufi-Orden, nicht aber in den angewandten Ritualen. Die Aleviten standen immer in Opposition zur sunnitischen Glaubensrichtung des Islam. Auch heute findet man kaum eine alevitische Frau, die das islamische Kopftuch trägt.

In den 30er Jahren lebten im Gebiet um die Provinz Dersim rund 150.000 kurdische Aleviten, die von den sunnitischen Türken verächtlich als "Kisilbasch" (Rotköpfe) bezeichnet wurden.

Die Massaker 1937/1938

Der Staatsgründer Mustafa Kemal Atatürk sicherte anfänglich allen Bürgern ohne Ansehen der ethnisch-religiösen Zugehörigkeit die gleichen Rechte zu. Darauf vertrauten auch die Aleviten, sahen sie doch hier die Chance, die Unterdrückung durch das osmanische Kalifat zu überwinden. Aber schon bald stellten sie fest, dass Atatürk ihre Stammesstrukturen nicht duldete, weil er sie im Widerspruch sah zu seinem Republikanismus, da er proklamierte:

Alle, die in der Türkei leben, sind Türken.

Es brachen Aufstände aus und 1926 gab es große Unruhen in Dersim, 1930 wurden ca. 10.000 Aleviten in westliche Gebiete der Türkei deportiert, mit dem Ziel, sie zu assimilieren und die quasi autonome Region Dersim zu schwächen. 1934 wurde im türkischen Parlament das "Zwangsevakuierungsgesetz" beschlossen, das 1935 den rechtlichen Rahmen für die Deportation der Aleviten schuf:

Das türkische Kabinett beschloss am 4.Mai 1937 in geheimer Sitzung: "Dieses Mal wird die Bevölkerung in dem aufrührerischen Gebiet zusammengezogen und in andere Gebiete überführt werden. […] Wenn man sich lediglich mit einer Offensivaktion begnügt, werden die Widerstandsherde fortbestehen. Aus diesem Grunde wird es als notwendig betrachtet, diejenigen, die Waffen eingesetzt haben und einsetzen, vor Ort endgültig unschädlich zu machen, ihre Dörfer vollständig zu zerstören und ihre Familien fortzuschaffen.

Diese Argumentation erinnert an den Genozid an den Armeniern 1915 und zeigt, dass es einen weiteren Genozid gab: den an den kurdischen Aleviten, was im Westen nicht bekannt ist, von den vielen hier ansässigen Aleviten aber als Demütigung empfunden wird.

In seiner Rede zur Parlamentseröffnung im Jahr 1936 postulierte Atatürk:

Wenn es etwas Wichtiges in unseren inneren Angelegenheiten gibt, dann ist es nur die Dersim-Angelegenheit. Um diese Narbe, diesen furchtbaren Eiter in unserem Innerem, samt der Wurzel anzupacken und zu säubern, müssen wir alles unternehmen, egal was es koste, und die Regierung muss mit weitreichenden Kompetenzen ausgestattet werden, damit sie dringend erforderliche Entscheidungen treffen kann.

"Züchtigung und Deportation" (tedip ve tenkil) war die Formulierung, mit der die Massaker gerechtfertigt wurden. Am 4. Mai 1937 fasste die türkische Regierung den Beschluss zur Durchführung. Die Aleviten leisteten Widerstand, indem sie Militärstationen und andere militärische Einrichtungen angriffen.

Im Sommer eskalierten die Ereignisse, als türkische Bodentruppen Dörfer niederbrannten und Tausende von Zivilisten ermordeten, darunter auch Frauen und Kinder. Die türkische Luftwaffe bombardierte diese Gebiete z.T. auch mit Giftgas - mit von der Partie war die Pilotin Sabiha Gökcen, eine Adoptivtochter Atatürks, nach ihr wurde der 2. Flughafen in Istanbul benannt.

Man munkelt, dass Sabiha armenische Wurzeln hat, also eins der Kinder ist, die 1915 entführt und zwangsassimiliert wurden. Etwa 70.000 Aleviten fielen diesen Angriffen zum Opfer und ca. 50.000 Menschen wurden deportiert. Hilferufe der Aleviten an den Völkerbund wurden überhört, denn dort wurde das Massaker als innere Angelegenheit der Türkei betrachtet -es war ja nur eine muslimische Minderheit davon betroffen.

1938 war der Aufstand in Dersim niedergeschlagen, die als "Säuberung" benannte Aktion der türkischen Armee endete in der Umbenennung von Dersim in "Tunceli" (Eiserne Hand), auf den Bergen prangte in Steinen: "Ich bin stolz ein Türke zu sein"; kein Dorf wurde verschont von den Morden der türkischen Armee.

Mädchen von Dersim, 1938. Bild: Türkische Armee/Dünya Bülteni/gemeinfrei

Im Gegensatz zum Armenier-Genozid leben heute noch Zeitzeugen, die die Massaker als Kinder erlebt haben. Der Journalist und Dokumentarfilmer alevitischer Abstammung, Cemal Tas, hat zahlreiche Interviews mit Überlebenden dieses Massakers gemacht. So z.B. die Geschichte von Xidir Tunc:

Xidir Tunc war zwölf Jahre alt damals, an jenem Tag im Sommer, als türkische Soldaten in sein Dorf einrückten. Auf einer höher gelegenen Weide hütete er gerade die Tiere. So sah er, wie Soldaten die Menschen aus ihren Häusern trieben, die Männer auf dem Dorfplatz sammelten und die Frauen und Kinder zum Hang an einem nahe gelegenen Bach scheuchten. Dann hörte Tunc einen Schuss, offensichtlich das Signal zum Beginn des Mordens.

Gleich darauf wurden die Männer mit Maschinengewehren niedergemäht und die Frauen und Kinder mit Gewehren erschossen. Anschließend zogen die Soldaten von Haus zu Haus und legten Feuer. Alles, was nicht aus Stein war, ging in Flammen auf. Noch heute liegen in den Bergen hoch über einem Dorf die Knochen von 97 ermordeten Männern unter freiem Himmel.

Heute versucht man, die religiös bedeutenden Orte der Aleviten durch den Bau von acht Staudämmen auf dem Fluss Munzur zu zerstören. 1971 wurde dieses Gebiet international als Nationalpark unter Schutz gestellt. Dieser Fluss und sein Tal, wie auch die umliegenden Berge haben bei den Aleviten eine mystische, religiöse Bedeutung, sie sind Ort und Gegenstand vieler Sagen und Mythen.

Wenn man sich die Geschichte der Türkei mit ihrem osmanischen Erbe ansieht, zieht sich eine Perlenkette der Vernichtung durch die Geschichte bis heute, die in den türkischen Geschichts- und Schulbüchern nirgends zu finden sind.

Der Völkermord an den Armeniern 1915 wurde als "Umsiedlung" bezeichnet, die Massaker an den kurdischen Aleviten 1937/38 als "Niederschlagung einer Rebellion gegen die Modernisierung, Reform und Bildung einer modernen Türkei". Dabei kann man, wie bei den Armeniern heute von einem Genozid sprechen, -ging es doch um nichts anderes, als diese kurdische Gruppe - wobei in dieser Zeit alle kurdischen Gruppen als Feinde angesehen wurden, zu assimilieren oder eliminieren.

Weitere Massaker (rechtsradikale) an den Aleviten folgten: Maras 1978, Corum 1980, Sivas 1993 Gazi 1995. Die folgenden Pogrome waren furchtbar, hatten aber nicht die Ausmaße eines Genozids wie bei den Armeniern und den Aleviten 1937/38. Trotzdem ist es wichtig, dass diese menschenverachtenden Pogrome der Türkei öffentlich werden und auch als solche benannt werden.

Erinnert werden muss auch an die Pogrome an der griechischen Bevölkerung in Istanbul im September 1955 und an den Krieg der türkischen Armee gegen die kurdische Bevölkerung in den achtziger und neunziger Jahren.

Die offensichtliche Unterstützung des IS durch die Türkei und die heutigen Militäroperationen gegen die kurdischen Gebiete, wie z. B. ganz aktuell in Agri lassen nichts Gutes hoffen. Die Türkei wird noch lange brauchen, um sich ihrer Geschichte zu stellen.