Erdogan droht Beendigung des Flüchtlingsabkommens an

Alle Versprechungen müssen eingelöst werden, bislang sei noch nichts geschehen, so der türkische Präsident, der seine Macht gegenüber der EU ausspielt

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Die Macht, die der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan über die EU und vor allem Deutschland wegen des Flüchtlingsdeals ausüben kann, wurde nicht nur an der Zurückhaltung und dem Schweigen gegenüber dem Vorgehen gegen die Kurden oder der Unterdrückung der Medien deutlich, sondern auch daran, wie nun mit dem Fall Böhmermann umgegangen wird.

Der hatte in der Sendung Neo Magazin Royal vorgeführt, wie ein Schmähgedicht aussehen würde, das er auch verlesen hat, um dann Erdogan aufzufordern, es verbieten zu lassen. Böhmermann reagierte damit auf das Vorgehen der türkischen Regierung, die den deutschen Botschafter wegen einer Erdogan-Parodie im Magazin Extra 3 einbestellte. Böhmermann legte seinen Beitrag als Provokation an, was ihm auch gelungen ist.

Erdogan, der fast 2000 Klagen in der Türkei gegen Beleidigungen führt, aber seinerseits bekundet hat, das Urteil des türkischen Verfassungsgerichts zum Vorgehen gegen Journalisten nicht anzuerkennen, muss erst einmal nichts tun. Das ZDF ließ das Video aus der Mediathek entfernen und distanzierte sich davon (ZDF entfernt Böhmermanns "Schmähgedicht" aus Mediathek). Bundeskanzlerin Merkel hat am Sonntag in einem Gespräch mit Erdogan schon versucht, die Wogen zu glätten. Die Pressefreiheit sei nicht schrankenlos, habe sie versichert, der Beitrag von Böhmermann habe sie als "bewusst verletztenden Text" geschildert, so Regierungssprecher Seibert. Zuvor hatte Merkel sich beim Auswärtigen Amt abgesichert, das in einem internen Gutachten erklärte, Böhmermann habe sich wahrscheinlich dadurch strafbar gemacht, dass er das Schmähgedicht als Beispiel dafür verlesen habe, was auch in Deutschland verboten wäre.

Prompt leitete auch die Staatsanwaltschaft Mainz strafrechtliche Ermittlungen gegen Böhmermann eingeleitet. Eingegangen seien 20 Strafanzeigen, die zusammengeführt würden. Nach § 103 StGB kann auch die Beleidigung von Organen und Vertretern ausländischer Staaten mit einer "Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren oder mit Geldstrafe, im Falle der verleumderischen Beleidigung mit Freiheitsstrafe von drei Monaten bis zu fünf Jahren bestraft" werden. Allerdings müsste hier die türkische Regierung ein Strafverfahren wünschen und die Bundesregierung einwilligen.

Noch hat die türkische Regierung dies nicht bekundet, die deutsche Regierung würde dies wohl lieber vermeiden. Währenddessen wurde das ZDF-Studio in Istanbul mit faulen Eiern beworfen und sind auch gegen ZDF-Verantwortliche Anzeigen eingegangen, wie der Tagesspiegel berichtet.

Sevim Dagdelen, Sprecherin für Internationale Beziehungen der Linksfraktion, kritisiert die Haltung der Bundesregierung: "Der lange Arm Ankaras reicht offensichtlich sehr weit. Erdogan-kritische Medien und Journalisten sind mittlerweile nicht nur in der Türkei bedroht, wie die Einleitung staatsanwaltschaftlicher Ermittlungen gegen den ZDF-Neo-Moderator Jan Böhmermann in Deutschland zeigen. Die Bundesregierung darf nach einem förmlichen Strafverlangen Ankaras keinesfalls die Ermächtigung zur Strafverfolgung erteilen."

Flüchtlingslager in Idomeni. Bild: Fabian Köhler

"Wir machen dies nicht wegen des Danks"

Das ist freilich auf der politischen Bühne nur eine Lappalie. Erdogan weiß natürlich um seine Macht. Das hat er kürzlich herausgestellt, als er gegenüber den USA seine Bedingungen für eine Unterstützung des Kampfs gegen den IS nannte. Die USA wollen mit der Hilfe der SDF die Stadt von Manbij südlich der türkisch-syrischen Grenze einnehmen, um so dem IS den wichtigen Versorgungskorridor zwischen der Grenze und der Grenzstadt Jarabalus und den anderen, vom IS kontrollierten Territorium abzuschneiden. Hier drängt Erdogan die USA, die Unterstützung der syrischen Kurden aufzugeben, die vom Pentagon aber als wichtige und vor allem effektive Bodentruppen betrachtet werden (Türkei stellt Bedingungen für Mitwirkung am Kampf gegen den IS).

Heute warnte Erdogan schließlich die EU, dass die Türkei das Flüchtlingsabkommen zur Reduzierung der Flüchtlinge nicht umsetzen werde, falls Brüssel nicht die ausgehandelten Bedingungen einhält. Dazu gehört die Einräumung einer visafreien Einreise von Türken in die EU bis "spätestens Juni 2016", was innerhalb der EU-Mitgliedsländer und auch in Deutschland auf Widerstände stößt, und die Beschleunigung der Betrittsverhandlungen - besonders schwierig nach dem harten Vorgehen gegen die Presse- und Meinungsfreiheit. Es gebe "genaue Bedingungen", sagte Erdogan: "Wenn die EU nicht die notwendigen Schritte unternimmt, dann wird die Türkei das Abkommen nicht umsetzen."

Die Türkei hat in dem Deal versprochen, die Flüchtlinge aus Griechenland zurückzunehmen, wenn die EU für jeden abgeschobenen syrischen Flüchtlingen einen in der Türkei registrierten Flüchtling aufnimmt. Ob das mit der breiten Front der aufnahmeunwillligen EU-Länder überhaupt klappen und sich nicht nur auf wenige Staaten beschränken wird, ist sowieso fraglich, zumal sich in Griechenland noch 50.000 Flüchtlinge befinden (Flüchtlinge: Die Lage in Griechenland spitzt sich zu) und die Wahrscheinlichkeit hoch ist, dass mit dem Frühjahr aus Libyen über das Mittelmeer wieder mehr Flüchtlinge nach Italien kommen.

Am einfachsten zu leisten wird noch sein, der Türkei die 6 Milliarden Euro für die Versorgung der syrischen Flüchtlinge in der Türkei bis Ende 2018 zu zahlen. Erdogan hatte die zunächst auf 3 Milliarden Euro festgelegte Summe mal schnell verdoppelt, was klaglos akzeptiert wurde. Heute machte Erdogan noch einmal deutlich, dass womöglich weitere Geldforderungen kommen könnten. Die Türkei habe an die 3 Millionen Flüchtlinge bislang aus eigenem Geld versorgt, erklärte, nach türkischen Angaben wurden dafür 10 Milliarden Euro seit 2011 ausgegeben. "Es gab Versprechungen", so Erdogan, "aber bis jetzt ist nichts eingelöst worden. Wir haben großen Dank für unser Handeln gegenüber den Flüchtlingen und den Kampf gegen den Terrorismus erhalten. Aber wir machen dies nicht wegen des Danks." Alles müsse so geschehen, wie es vereinbart wurde.

Mittlerweile ist auch ohne das Einwirken der türkischen Regierung die Abschiebung wieder ins Stocken geraten. Gerade einmal 200 Flüchtlinge wurden am 4. April von Lesbos und Chios aus den nunmehr geschlossenen Lagern in die Türkei mit Fähren gebracht. Seitdem kamen keine mehr, weil die eingesperrten Flüchtlinge massenhaft Asylanträge stellten und damit die griechischen Behörden überforderten (Lesbos: Flüchtlinge stellen Asylanträge). Die eigentlich versprochene Hilfe aus den anderen EU-Ländern ist nach dem überstürzten Abschluss des Deals noch nicht eingetroffen.

Vizeaußenminister Nikos Xydakis sagte, es seien "zwei Dutzend" Helfer für die Registrierung eingetroffen, aber hunderte Mitarbeiter von Frontex. Es sei einfacher, kritisierte er, Polizisten zu schicken als Rechtsexperten oder Übersetzer. Wenn alles bereit wäre, könnten die Asylverfahren innerhalb von 2 Wochen abgewickelt werden. Es sei "verrückt" gewesen, dass man innerhalb von Tagen glaubte, die Abschiebungen beginnen zu können. Man habe dies in Brüssel wiederholt gesagt.

Seit dem Beginn des Abkommens am 20. März sind bereits wieder mehr als 7000 Flüchtlinge nach Griechenland gekommen. Allerdings scheinen die Zahlen nun weiter zurückzugehen. Vom Dienstag auf Mittwoch sind nur noch 68 Flüchtlinge auf den griechischen Inseln gelandet, am Tag davor waren es noch 228. Nach dem türkischen Regierungschef Ahmet Davutoglu sei das eine Folge des Abkommens, das funktioniere. Das sagte er gestern, bevor nun Erdogan droht.