Werkverträge statt "equal pay"

Nachdem der Missbrauch der Leiharbeit durch den Gesetzgeber endlich begrenzt wurde, suchen deutsche Unternehmen nach neuen Formen des Lohndumpings - mit Unterstützung der Wissenschaft

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Viele Jahre bot die Zeitarbeit deutschen Unternehmen eine lukrative Möglichkeit, Personalkosten zu sparen und die Stammbelegschaft unter Druck zu setzen. Kein Wunder also, dass die Anzahl der Leiharbeitnehmer im Sommer des vergangenen Jahres auf den Rekordwert von über 900.000 kletterte.

Doch die anhaltenden Proteste von Parteien, Gewerkschaften und Verbänden blieben nicht ohne Wirkung. Ende 2011 sah die Bundesregierung keine realistische Chance mehr, die rasante Ausbreitung eines Billiglohnsektors als Flexibilisierung des deutschen Arbeitsmarkts zu deklarieren. Schwarz-Gelb beschloss deshalb die Festsetzung einer Lohnuntergrenze. Seit dem 1. Januar gelten in der Zeitarbeitsbranche nun Mindestlöhne (7,89 Euro in West- und 7,01 Euro in Ostdeutschland), die ab November noch einmal angehoben werden sollen.

Findige Unternehmen haben diese Entwicklung allerdings frühzeitig antizipiert und längst Alternativen gefunden, um für gleiche Arbeit auch in Zukunft nicht den gleichen Lohn zahlen zu müssen.

Ein Institut für Arbeitgeberinteressen

Im Herbst 2011 geriet mit BMW eines der bekanntesten deutschen Großunternehmen in die Schlagzeilen. Der Vorwurf: BMW zahle Leiharbeitern zwar seit geraumer Zeit das gleiche Grundgehalt wie seinen Festangestellten, habe darüber hinaus aber sogenannte Werkverträge mit externen Firmen abgeschlossen, um die dort entliehenen Arbeiter zu deutlich geringeren Bezügen beschäftigen zu können.

Anfang Dezember berichtete dann die "Zeit" über eine Tagung mit dem vielsagenden Titel "Freie Industriedienstleistungen als Alternative zur regulierten Zeitarbeit", die Spitzenvertreter aus Industrie und Wirtschaft nach Düsseldorf lockte. Veranstalter war das Zentrum für Arbeitsbeziehungen und Arbeitsrecht (ZAAR) der Ludwig-Maximilians-Universität in München, das von Arbeitgeberverbänden mit einem Stiftungsvermögen von 55 Millionen Euro ausgestattet wurde.

Dafür bietet das ZAAR seiner Klientel Hilfe in sämtlichen arbeitsrechtlichen Fragen an. In Düsseldorf suchte man nach Alternativen zur Zeitarbeit, weil mit ihr "ein Lohnunterbietungswettbewerb nicht mehr zu gewinnen" sei. Daneben betreibt ZAAR Forschungsprojekte, die der Frage nachgehen, unter welchen Umständen auch unkündbaren Arbeitnehmern außerordentlich betriebsbedingt gekündigt werden kann. Das Institut produziert juristische Leitfäden, etwa zum Thema "Rechtsschutz gegen Mindestlöhne", und publizierte bis Ende 2010 "Tagespolitische Kolumnen und Beiträge", die von Universitätsprofessor Volker Rieble verfasst wurden, der einen Lehrstuhl für Arbeitsrecht und Bürgerliches Recht innehat.

Die Kolumnen des Professors oder: "Überlaufventile in andere Formen arbeitsteiligen Wirtschaftens"

Riebles Beiträge tragen allerhand seltsame Titel wie "Mehr Spaß ohne Tarif", "Die Arbeitspolizei geht um" oder ganz einfach "Arschloch". Im März 2010 begeisterte sich der Universitätsprofessor für die Zeitarbeit, die Arbeitgebern die Konzentration auf ihr "wertschöpfendes Kerngeschäft" erlaube.

Zeitarbeit deckt nicht nur vorübergehenden Arbeitskräftemehrbedarf zuverlässig ab. Zeitarbeit nimmt dem Einsatzbetrieb die Rechtslasten ab und mindert so die Transaktionskosten. Dafür zahlt der Entleiher dem Verleiher zwar dessen Preis – doch erfährt er Amortisation durch geminderten eigenen Personalverwaltungsaufwand. Vor allem aber kann sich der Einsatzbetrieb auf sein wertschöpfendes Kerngeschäft konzentrieren und die fröhliche Beschäftigung mit Arbeitsrecht, Arbeitsrichtern und Anwälten anderen Frohnaturen überlassen. (...) Befristungsrisiken gibt es nicht. Diskriminierungsschutz bei der Auswahl und Rückgabe von Zeitarbeitnehmern ist kein Problem.

Volker Rieble: Mehr Zeitarbeit!

Doch schon im Dezember desselben Jahres nahm der ZAAR-Direktor eine Kurskorrektur vor. Weil das Bundesarbeitsgericht den Betriebsräten "eine neue Waffe gegen den Einsatz von Zeitarbeitnehmern in die Hand gegeben" habe, würden sich nun "Überlaufventile in andere Formen arbeitsteiligen Wirtschaftens" öffnen.

12 Monate, bevor das Thema in Deutschland im größeren Stil öffentlich diskutiert wurde und schließlich den Weg ins Fernsehen fand, hatte Rieble seine Leser bereits auf die neue Devise "Dienstleistung statt Zeitarbeit" eingeschworen. Mit Bedienungsanleitung, versteht sich.

Industriedienstleister bieten eine der Zeitarbeit durchaus ähnliche Leistung an: Sie führen bestimmte Dienstleistungen im Einsatzbetrieb aus – von einfachen Reinigungstätigkeiten bis hin zu komplexen maschinentechnischen Instandhaltungen oder Sicherheitsüberprüfungen. Solche Dienstleister tragen gegenüber ihren Arbeitnehmern die volle und alleinige Arbeitgeberverantwortung: Sie steuern deren Arbeitseinsatz selbst und sind dem Einsatzbetrieb nur durch Werk- oder Dienstvertrag verbunden. Industriedienste leisten, was Zulieferer auf der Produktionsseite tun: Sie übernehmen Teilaufgaben des Hauptunternehmens und führen diese selbständig aus. Zeitarbeit ist das nicht; alleiniger Arbeitgeber ist der Dienstleister. Der Betriebsrat des Einsatzbetriebes hat für die Vergabe solcher Aufträge keine Zustimmungsrechte und für die Arbeitnehmer des Dienstleisters auch keine Mitbestimmungsrechte, gerade weil der Stammarbeitgeber keine Rechte gegenüber den Fremdfirmenkräften ausübt.

Volker Rieble: Dienstleistung statt Zeitarbeit

Ungeheuer praktisch und garantiert kein "Getrickse", wie Rieble im weiteren Verlauf seiner humorigen Ausführungen betont. Sogar eine Kombination aus Zeitarbeit und Werkverträgen sei problemlos möglich, solange der autonome Industriedienstleister sein Personalangebot eigenverantwortlich steuere. Besser noch: "Den Auftraggeber und seinen Betriebsrat geht das nichts an." Und noch viel besser: "Beim Industriedienstleister gibt es meist keinen Betriebsrat und auch keinen Tarifvertrag."

Verdacht auf Sozialversicherungsbetrug

Während man in München über die schöne neue Welt prekärer Beschäftigungsverhältnisse theoretisierte, erprobten die Einzelhandelsketten Netto und Kaufland kostensparende Alternativen zur Leiharbeit möglicherweise bereits in der Praxis. Beide bekamen im Januar Besuch von mehreren hundert Zollfahndern, weil sie verdächtigt wurden, mit Subunternehmern und Geschäftspartnern rechtswidrige Werkverträge abgeschlossen zu haben. Durch dieses Konstrukt sollen Lagerarbeiter und Staplerfahrer rund 30 Prozent unter Tarif bezahlt und Sozialversicherungsbeiträge in erheblichem Umfang hinterzogen worden sein.

Kaufland hat dem Zoll inzwischen Kooperationsbereitschaft zugesichert und bei der Gelegenheit eingestanden, dass der Logistik-Bereich mit unabhängigen Werkvertragsunternehmen zusammenarbeitet. Mit den entsprechenden Firmen sollen Vereinbarungen getroffen worden sein, "dass der intern festgelegte Mindestlohn bei deren Beschäftigten ebenfalls ankommt".

Auch Netto ist sich keiner Schuld bewusst und verweist auf "vertraglich fixierte Absprachen mit seinen externen Partnern", die ihr Personal nach den Bestimmungen des gesetzlichen Mindestlohns bezahlen müssten. Die Auswertung des sichergestellten Materials soll mehrere Monate in Anspruch nehmen.

Kein Handlungsbedarf?

Seit den Razzien und der vermehrten öffentlichen Berichterstattung beschäftigt die Frage der Werkverträge auch das zuständige Bundesministerium für Arbeit und Soziales. Das war kurz vor Weihnachten offenbar noch anders. Seinerzeit fragte die linke Bundestagsabgeordnete Jutta Krellmann, die sich seit längerem mit der "Leiharbeit hoch Zwei" auseinandersetzt, welche Handlungsabsichten sich für die Bundesregierung aus den Berichten über die Tagung "Freie Industriedienstleistungen als Alternative zur regulierten Zeitarbeit" ergeben könnten – und wie die dort "beworbene Niedriglohnstrategie" insgesamt bewertet würde.

Der Parlamentarische Staatssekretär Ralf Brauksiepe (CDU) gab daraufhin zu Protokoll:

Grundsätzlich steht es jedem Unternehmer frei, seinen Arbeitskräftebedarf durch eigene Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer zu decken oder beispielsweise Zeitarbeitnehmerinnen und Zeitarbeitnehmer oder Werkvertragsunternehmer einzusetzen, um das Unternehmensziel zu verfolgen. Der verantwortungsvolle Einsatz des gewählten Weges zur Deckung des Arbeitskräftebedarfs obliegt dem jeweiligen Unternehmer, insbesondere unter Berücksichtigung der geltenden arbeitsvertraglichen Vorschriften. Die Bundesregierung sieht derzeit im Zusammenhang mit der angesprochenen Tagung keinen Handlungsbedarf.

Ralf Brauksiepe, 20.12.2011

Sechs Wochen später kommt Brauksiepes Dienstherrin an dem Thema nicht mehr vorbei. Bundesarbeitsministerin Ursula von der Leyen (CDU) verlangt nun "mehr Transparenz, damit die Arbeitnehmer ihre Rechte genau kennen und auch einfordern". Es steht freilich zu befürchten, dass die Informationslage der Arbeitnehmer nicht das eigentliche Problem ist. Bis dato liegen keine offiziellen Zahlen über das Ausmaß vor, in dem "Alternativen zur regulierten Zeitarbeit" bereits genutzt werden. Auch DGB-Chef Michael Sommer kann sich vorerst nur auf die Berichte von Kolleginnen und Kollegen stützen.

Amtliche Statistiken oder Zahlen der Bundesregierung gibt es nicht. Aber aus vielen Berichten unserer Kolleginnen und Kollegen erkennen wir ganz klar, dass der missbräuchliche Einsatz von Werkverträgen in den Betrieben zunimmt. Auf dem Bau, in Schlachthöfen oder im Einzelhandel gehören Werkverträge schon länger zum Geschäftsmodell der Arbeitgeber. Zunehmend werden Werkverträge aber auch in Industriebetrieben eingesetzt. Stammbelegschaften werden reduziert und durch Beschäftigte von Werkvertragsunternehmen ersetzt. Es handelt sich bei dem Missbrauch von Werkverträgen um ein zunehmendes Problem in vielen Branchen und Produktionsprozessen.

Michael Sommer

Eine gesetzliche Regelung könnte da Abhilfe schaffen, doch dafür sieht Ursula von der Leyen keine Notwendigkeit. Ernsthafter Handlungsbedarf besteht also noch immer nicht.