Acht gute Vorsätze und die ernüchternde Realität

Die Generalversammlung der Vereinten Nationen beschäftigt sich mit ihren Millenniums-Zielen

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Im September 2000 einigten sich die Mitgliedsstaaten der Vereinten Nationen auf acht sogenannte Millenniums-Entwicklungsziele. Das Projekt, das 18 Unterziele und 48 Indikatoren umfasst, sollte bis 2015 weltweit Hunger und Armut reduzieren und die Voraussetzungen für die allgemeine Primärschulbildung entscheidend verbessern. Darüber hinaus standen Fortschritte im Bereich der Gleichberechtigung, die Senkung der Sterblichkeitsrate von Kindern und Müttern, eine effektive Bekämpfung von schweren Krankheiten wie HIV/AIDS oder Malaria und die Sicherung ökologischer Nachhaltigkeit sowie der Aufbau globaler Entwicklungspartnerschaften ganz oben auf der Agenda.

Fünf Jahre nach dieser ehrgeizigen Absichtserklärung treffen sich die Regierungschefs auf der Generalversammlung der Vereinten Nationen vom 14. bis 16. September in New York, um hier u.a. über Fortschritte und Versäumnisse zu diskutieren. Der Gedankenaustausch auf höchster Ebene wird allerdings wenig Gelegenheit bieten, positive Bilanzen hin- und herzuschieben, und diese Vermutung stützt sich keineswegs auf Protestnoten von Nicht-Regierungsorganisationen oder Globalisierungsgegnern.

Das Kinderhilfswerk „terre des hommes“ hat ein umfangreiches Dossier zusammengetragen, das die Millenniums-Entwicklungsziele und ihre Umsetzung auf der Basis einer Vielzahl offizieller Berechnungen und Statistiken dokumentiert. Zu ihnen gehören die Millennium Indicator Database der Vereinten Nationen, OECD-Angaben zur Entwicklungshilfe einzelner Staaten im Jahr 2004 sowie Auswertungen des Statistischen Bundesamtes, aber auch Berechnungen der Weltgesundheitsorganisation, des deutschen Bundesministeriums für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung oder den BP Statistical Review of World Energy 2005 der Deutschen BP.

Im Jahr 2000 bekannten sich die Vereinten Nationen zu einer Vision, deren optimistischer, ja euphorischer Grundton noch in dem durchaus kritischen Zwischenbericht durchklingt, den Jeffrey Sachs, der Leiter des Earth Institute an der New Yorker Columbia University, im Auftrag von UN-Generalsekretär Kofi Annan im Januar vorstellte.

Wie wird die Welt im Jahr 2015 aussehen, wenn es gelingt, die Ziele zu verwirklichen? Mehr als 500 Millionen Menschen werden von extremer Armut befreit sein. Mehr als 300 Millionen werden nicht mehr Hunger leiden. Auch bei der Gesundheit von Kindern wird es spektakuläre Fortschritte geben. 30 Millionen Kinder, die vor Erreichen des fünften Lebensjahrs gestorben wären, werden überleben. Auch mehr als zwei Millionen Müttern wird das Leben gerettet werden. Das ist aber noch nicht alles. Wenn die Ziele erreicht werden, wird sich die Anzahl der Menschen, die nicht über einwandfreies Trinkwasser verfügen, um 350 Millionen verringern, und die Anzahl derjenigen, die ohne grundlegende sanitäre Einrichtungen leben, um 650 Millionen; sie alle werden ein gesünderes Leben in größerer Würde führen können. Hunderte Millionen mehr Frauen und Mädchen werden eine Schulbildung erhalten, Zugang zu wirtschaftlichen und politischen Chancen haben und mehr Sicherheit genießen.

Sachs-Report

Fünf Jahre später müssen sich die Visionäre von damals mit der ernüchternden Realität auseinandersetzen. Darauf deutete bereits der Sachs-Report hin, doch was dort noch als schwierige, aber zu bewältigende Aufgabe erschien, entpuppt sich bei fortgesetzter Betrachtung immer mehr als Wunschdenken. Die Ergebnisse, die nach einem Drittel des veranschlagten Zeitraums zu Buche stehen, geben wenig Anlass zur Hoffnung, dass sämtliche Millenniums-Entwicklungsziele oder nur der überwiegende Teil tatsächlich erreicht werden können.

Ziel 1: Extreme Armut und Hunger beseitigen

Die Zahl der Menschen, die unter extremer Armut leiden – d.h. von weniger als einem US-Dollar pro Tag leben müssen - sollte bis 2015 halbiert werden. Zu diesem Zweck müsste ihr Anteil in Ländern mit niedrigem und mittlerem Einkommen von 27,9 Prozent auf 14 Prozent gesenkt werden.

Zwischen 1990 und 2001 wurde bereits eine Absenkung auf 21,3 Prozent erreicht. Das Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung ist deshalb optimistisch, dass dieses Millenniums-Ziel tatsächlich erreicht wird. Verantwortlich wäre vor allem die Armutsbekämpfung in Indien oder China, während sich die Situation in Ländern südlich der Sahara noch verschlechtert hat.

Um die Anzahl der hungernden Menschen zu halbieren, müsste der Anteil der unterernährten Menschen an der Gesamtbevölkerung von 20 Prozent (1990-1992) auf 10 Prozent sinken und der Anteil der unterernährten Kinder, die unter fünf Jahre alt sind, von 33 Prozent auf 16,5 Prozent. Bis 2002 sank der eine auf 17 Prozent, der andere bis 2003 auf 28 Prozent. Fortschritte sind also erkennbar, doch das Ziel ist noch lange nicht in Sicht.

Ziel 2: Grundschulausbildung für alle Kinder gewährleisten

Die Einschulungsrate stieg bis 2002 auf 84,2 Prozent. Gegenüber 1991 bedeutete das ein schmales Plus von nur 2,6 Prozent. Da sie auf 100 Prozent angehoben werden soll, gilt das Erreichen dieses Ziels als unwahrscheinlich.

Besonders schwierig gestaltet sich die Situation in den afrikanischen Ländern südlich der Sahara, in Südasien und Teilen Ozeaniens. In manchen Staaten weist die Alphabetisierungsrate von Jungen und Mädchen besonders hohe Unterschiede zu Ungunsten des weiblichen Geschlechts auf, so z.B. in Mosambik (77,3/50,7) oder im Jemen 85,0/53,2).

Ziel 3: Gleichstellung und größeren Einfluss der Frauen fördern

Frauen besitzen nur 1 Prozent des globalen Vermögens, verrichten aber 70 Prozent der unbezahlten Arbeit. Mit dieser Gegenüberstellung wirbt nicht nur das Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung für mehr Gleichberechtigung. Auch die Millenniums-Ziele sollen dieses Thema vorrangig behandeln und sehen deshalb vor, das Verhältnis der Einschulungsrate von Mädchen und Jungen weltweit von 0,89 (1990/91) auf 1 und das Verhältnis junger Frauen und Männer, die im Alter von 15 bis 24 Jahren lesen und schreiben können, von 0,91 auf 1 zu erhöhen. Gleichzeitig sollte der Anteil der Frauen, die in einem Parlament an der politischen Willensbildung teilhaben, von 12,4 Prozent im Jahr 1990 auf 50 Prozent angehoben werden.

Einschulungs- und Alphabetisierungsrate konnten geringfügig gesteigert werden und liegen jetzt bei 0,93 und 0,92 Prozent. Bei den Parlamentsmandaten war wenig Bewegung zu verzeichnen. 2005 beläuft sich die Zahl auf 15,9 Prozent, sie ist damit immer noch 34,1 Prozent vom gewünschten Optimum entfernt.

Ziel 4: Die Kindersterblichkeit senken

Um die Sterblichkeit von Kindern unter fünf Jahren bis 2015 um zwei Drittel zu senken, müsste die Anzahl der Kinder, die pro 1000 Lebendgeburten schon vor dem Erreichen des fünften Lebensjahres sterben, von 95 (1990) auf 31 reduziert werden. Bis 2003 gelang jedoch nur eine Absenkung auf 80, und in 16 Ländern war die Kindersterblichkeit sogar gestiegen.

Die Weltgesundheitsorganisation befürchtet in einem aktuellen Report, dass kein einziges der ärmsten Länder der Welt eine realistische Chance hat, das für 2015 anvisierte Ziel zu erreichen. Wenn sich die derzeitigen Entwicklungen fortsetzen, könnte die Kindersterblichkeit allenfalls um ein Viertel und nicht um zwei Drittel gesenkt werden.

Ziel 5: Die Gesundheit der Mütter verbessern

Jahr für Jahr sterben 500.000 Frauen an Komplikationen während der Schwangerschaft oder bei der Geburt von Kindern. Auf 100.000 Lebendgeburten kommen 400 Todesfälle, wobei die Müttersterblichkeit in Industriestaaten bei 14 und in den Entwicklungsländern bei 450 liegt. Die Gesamtzahl sollte weltweit um drei Viertel verringert werden, doch die Weltgesundheitsorganisation hält dieses Ziel in dem gleichen Report für unerreichbar.

Nach aktuellen Hochrechnungen – gesicherte Basisdaten wurden zuletzt im Jahr 2000 ermittelt – dürfte die Müttersterblichkeit in den Ländern, in denen sie ohnehin niedrig war, weiter sinken. In den anderen Schätzungen rechnet die Weltgesundheitsorganisation mit einer Stagnation oder einem weiteren Anstieg. Die WHO geht davon aus, dass in ein funktionierendes Gesundheitssystem pro Jahr mindestens 30 bis 40 US-Dollar pro Kopf der Bevölkerung investiert werden müssten. In vielen Entwicklungsländern ständen dafür aber maximal zehn und bisweilen sogar nur zwei US-Dollar zur Verfügung.

Ziel 6: HIV/AIDS, Malaria und andere Krankheiten bekämpfen

1990 waren in den Entwicklungsländern 0,37 Prozent der Erwachsenen zwischen 15 und 49 Jahren mit dem HIV-Virus infiziert oder bereits an AIDS erkrankt. Bis 2004 konnte ihr Anteil nicht wie geplant reduziert werden. Im Gegenteil, er stieg in diesen 15 Jahren auf 1,26 Prozent.

Für Malaria-Erkrankungen liegen noch keine aktuellen Daten vor, der Versuch die Anzahl der Neuinfektionen mit Tuberkulose von weltweit 119 pro 100.000 Menschen im Jahr 1990 auf 0 im Jahr 2015 zu reduzieren, könnte aber ebenfalls zum Scheitern verurteilt sein. Bis 2003 ist die Zahl erst einmal auf 129 gestiegen.

Ziel 7: Eine nachhaltige Umwelt gewährleisten

Das grüne Millenniums-Ziel sieht den Schutz von Waldgebieten und viele weitere Maßnahmen zur Erhaltung der Biodiversität vor. Außerdem sollen CO2-Emissionen und Energieverbrauch verringert werden. Das bisherige Ergebnis hat viele widersprüchliche Aspekte. Während der Anteil der Wälder an der Landfläche von 30,3 Prozent (1990) auf 29,6 Prozent (2000) sank, vergrößerten sich die Schutzflächen immerhin von 11,2 Prozent (1994) auf 12,9 Prozent (2004). Außerdem stieg der Ausstoß von CO2 weltweit, während die CO2-Emissionen pro Kopf zurückgingen. Beunruhigend ist insbesondere der Anstieg des Weltenergieverbrauchs, der sich von 1990 bis 2004 um etwa 25 Prozent erhöht hat.

Erfreulicher sieht es da beim zweiten Unterziel aus. Der Anteil der Menschen, die Zugang zu gesundem Trinkwasser haben, sollte von 77 Prozent (1990) auf 88,5 Prozent und der Anteil derjenigen, die sanitäre Anlagen nutzen können, von 49 Prozent (1990) auf 74,5 Prozent angehoben werden. Schon 2002 lagen die Quoten hier bei 83 beziehungsweise 58 Prozent.

Ziel 8: Eine globale Partnerschaft im Dienst der Entwicklung schaffen

Was nach bloßem Lippenbekenntnis klingt, umfasst eine Vielzahl konkreter Unterpunkte, die eine Erleichterung des Zugangs der Entwicklungsländer zu den internationalen Märkten, die Steigerung der öffentlichen Entwicklungshilfe auf 0,7 Prozent des Bruttoinlandsprodukts, eine Verringerung der Zölle und Handelsbeschränkungen und die Unterstützung im Bereich moderner Kommunikationsmittel sowie Entschuldungsstrategien oder Hilfestellungen bei der Bekämpfung von Jugendarbeitslosigkeit umfassen.

In manchen Bereichen wurden Fortschritte erzielt und beispielsweise tatsächlich Schulden erlassen. In anderen wurden die positiven Entwicklungen gleich wieder aufgehoben, so etwa bei der Reduzierung von Zöllen und Importquoten für Waren aus Entwicklungsländern, denen pro Jahr Subventionen in Höhe von 350 Milliarden US-Dollar gegenüberstehen, mit deren Hilfe die reichen Industriestaaten ihre Landwirtschaft protegieren. Vielfach gibt es aber lediglich Rückschritte zu verzeichnen. Der Anteil der Entwicklungshilfe am Bruttoinlandsprodukt sank in den OECD-Ländern von mageren 0,33 Prozent (1990) auf klägliche 0,25 Prozent (2005), obwohl die 0,7 Prozent-Marge seit nunmehr 35 Jahren angepeilt wird.

Auf der Suche nach den Ursachen für diese wenig ermutigende Entwicklung, stößt man zwangsläufig auf die immer gleichen Faktoren, als da sind wirtschaftliche, politische oder geostrategische Interessen, Korruption, Krieg und Gewalt, mangelndes Problembewusstsein und viele weitere Gemeinplätze, die allesamt real sind, aber wenig Hinweise auf eine dauerhafte Verbesserung der Situation geben.

Vor diesem Hintergrund des belanglosen Alles und Nichts hat der „Verband Entwicklungspolitik Deutscher Nichtregierungsorganisationen“ (VENRO) ein Positionspapier mit dem Titel Wort halten - Mehr deutsches Engagement für die Millenniums -Entwicklungsziele! entworfen, dass sich dankenswerterweise erst einmal vor der eigenen Haustür umschaut. Und siehe da, auch in Deutschland wird mit den Millenniums-Zielen nicht so umgegangen, wie man es von einer Bundesregierung, die permanent mit den Adjektiven „sozial“ und „nachhaltig“ hantiert, erwarten dürfte.

Auch die Bundesregierung bleibt bisher weit hinter ihren internationalen Verpflichtungen und ihren Möglichkeiten zurück. Sie hat zwar bereits im April 2001 ein eigenes Aktionsprogramm 2015 verabschiedet. Aber weder ihre Entwicklungspolitik noch ihre Wirtschafts-, Finanz- und Handelspolitik ist bisher konsequent und kohärent auf die Bekämpfung der Armut und die Verwirklichung der MDGs (Millenniums-Entwicklungsziele) ausgerichtet. Dies spiegelt sich exemplarisch an der Höhe der öffentlichen Entwicklungshilfe wider. Trotz Zusage liegt sie noch weit unter dem international vereinbarten 0,7 Prozent-Ziel.

VENRO

Nämlich bei 0,28 Prozent. Doch eine nachhaltige Entwicklungspolitik ist nicht nur eine Frage des Geldes. Der Verband, in dem sich rund 100 Nicht-Regierungsorganisationen zusammengeschlossen haben, wartet deshalb mit einem detaillierten 11-Punkte-Programm auf. Die Bundesregierung soll sich dafür einsetzen, „dass internationale Abkommen, wie z.B. das TRIPS-Abkommen der WTO (Trade Related Intellectual Property Rights), den Zugang der armen Länder zu Medikamenten nicht behindern“, sie soll den britischen Vorschlag einer Internationalen Finanzfazilität und zeitnah erste IFF-Pilotprojekte unterstützen, dann aber auch substantielle Reformen des Wirtschafts- und Sozialrats der Vereinten Nationen (ECOSOC) anregen, um die Einrichtung eines „Economic and Social Security Council“ voranzubringen. Unter diesen Umständen würden die Millenniums-Ziele nach Meinung von VENRO nicht nur einen Beitrag zur nachhaltigen Entwicklung leisten, sondern auch ganz aktuellen Bedrohungsszenarien entsprechen und hier endlich neue Akzente setzen.

Die Bundesregierung sollte sich daher dafür einsetzen, dass die MDGs (Millenniums-Entwicklungsziele) auf konkrete Zielvorgaben im Bereich der Krisenprävention ausgedehnt werden. Dazu gehören vor allem präzise Ziele und Zeitvorgaben zur Beschränkung des Waffenhandels und zur Reduzierung der nationalen Rüstungsausgaben. Denn die weltweiten Rüstungsausgaben sind mit mehr als 950 Milliarden US-Dollar (2003) auf ein neues Rekordhoch geklettert, während die Entwicklungshilfeausgaben mit 78,6 Mrd. US-Dollar weniger als ein Zehntel dieser Summe ausmachen.

VENRO

Wenn auf dem Weltgipfel in vergleichbarer Weise detailliert und überhaupt in dieser Richtung diskutiert würde, könnten sich die Teilnehmer die wohlgeformten Vorworte des Generalsekretärs der Vereinten Nationen auf der Zunge zergehen lassen.

Der Weltgipfel 2005 ist eine Chance, die jede Generation nur einmal hat – hier kann die Welt zusammenkommen und etwas tun gegen schwerwiegende globale Bedrohungen, die kühne globale Lösungen erfordern. Er bietet aber auch die Möglichkeit, die Vereinten Nationen selbst wieder zum Leben zu erwecken. Er ist, kurz gesagt, eine Chance für die ganze Menschheit.

Kofi Annan

Da ein Drittel der knapp bemessenen Zeit schon verstrichen ist, besteht allerdings wenig Anlass für globale Selbstgefälligkeit. Wenn sich die einzelnen Staaten unumwunden zu ihren jeweiligen Versäumnissen bekennen und insgesamt eine schonungslose Fehleranalyse bevorzugt würde, wäre den Millenniums-Zielen sicherlich mehr geholfen. Schließlich sollen sie noch erreicht werden.