Nationales Energiekonzept ohne Atomstrom

Greenpeace holt "Plan B" aus der Schublade

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Das Thema Klimawandel ist in aller Munde, und das öffentlich behauptete Mitspracherecht fungiert längst als profilbildende Maßnahme. Doch gerade in der politischen Diskussion wird der Kern des Problems selten tangiert, weil vermeintliche Sachzwänge mit schöner Regelmäßigkeit die finanzielle, technische oder volkswirtschaftliche Unmöglichkeit beweisen sollen, in dieser Frage schnell und effektiv zu konsensfähigen Lösungen zu kommen.

Ob es Nicht-Regierungsorganisationen grundsätzlich leichter haben, weil sie weniger Rücksichten auf Wählerschichten und Interessenverbände nehmen müssen, und überdies nicht gezwungen sind, auf internationaler Ebene verbindliche Beschlüsse auszuhandeln, sei einmal dahingestellt. Wenn sie die Messlatte in vielen Fällen höher legen als die politischen Entscheidungsträger und nachzuweisen versuchen, dass ehrgeizige Ziele vielleicht schwieriger zu erreichen, aber doch realisierbar sind, erhöht sich in aller Regel wenigstens die öffentliche Aufmerksamkeit.

So auch im Fall der Umweltschutzorganisation Greenpeace, die am vergangenen Donnerstag eine umfangreiche Studie des Aachener Instituts EUtech vorstellte. Der „Plan B“ für den Klimaschutz, den Greenpeace als Nationales Energiekonzept bis 2020 verstanden wissen will, sorgt vor allem durch zwei Thesen für Aufsehen: Die Autoren der Studien halten es für möglich, dass Deutschland ab 2015 ohne Atomenergie auskommen und den Ausstoß der Treibhausgase bis 2020 um 40 Prozent reduzieren kann.

Grafik: EUtech/Greenpeace

In der Realität hat sich die Europäische Union gerade auf mindestens 20 Prozent geeinigt, wobei Deutschland mit gutem Beispiel vorangehen will. Wie das Endergebnis aussieht, lässt sich derzeit allerdings ebenso wenig vorhersagen wie die Zukunft der Atomenergie. CDU und CSU haben wenig Zweifel daran gelassen, dass sie den von der rot-grünen Bundesregierung beschlossenen Ausstieg aus der Kernenergie am liebsten ganz oder teilweise wieder rückgängig machen würden. Andererseits ist umstritten, ob der politische Flankenschutz in Form des Erneuerbare-Energien-Gesetzes und vieler gutgemeinter Absichtserklärungen ausreicht, um bis 2020 wenigstens 20 Prozent der Stromversorgung in Deutschland aus regenerativen Quellen zu gewinnen. Vor diesem Hintergrund wird sich gegen die Ausgangsthese der Studie wenig Sachdienliches einwenden lassen.

Der Bundesregierung ist es bisher nicht gelungen, ein überzeugendes, langfristig angelegtes Energieversorgungskonzept über das Kyoto-Jahr 2012 hinaus festzulegen, mit dem sich die verbindlichen mittel- und langfristigen Klimaschutzziele erreichen lassen.

Plan B – Nationales Energiekonzept bis 2020

Energie und Klimaschutz

Dabei kommt es vor allem auf die Energiekonzepte an, wenn Deutschland seine Klimaschutzziele erreichen will. Rund 80 Prozent aller Treibhausgas-Emissionen hängen unmittelbar mit der Erzeugung, der Umwandlung und dem Verbrauch von Energie zusammen, wohingegen das große globale Klimaproblem, das durch die Abholzung der (Regen)Wälder heraufbeschworen wird, hierzulande naturgemäß kaum eine Rolle spielt.

Wenn über die Rolle der Kernenergie und die drastische Senkung von CO2-Emissionen in Deutschland gesprochen wird, lohnt also zunächst ein Blick auf die nationale Stromproduktion. Sie belief sich im vergangenen Jahr auf 596 Milliarden Kilowattstunden. 27 Prozent wurden durch Kernkraftwerke beigesteuert, Braun- und Steinkohle lagen bei 23 beziehungsweise 21 Prozent, Erdgas und regenerative Energien kamen auf je 12 Prozent.

Besondere Beachtung verdient auch der Verkehrssektor, der Deutschlands - insgesamt durchaus erfolgreichem - Bemühen, den Schadstoffausstoß zu senken, traditionell im Wege steht. Während in den Bereichen Industrie, Gewerbe, Handel, Dienstleistungen oder private Haushalte zum Teil deutliche Einsparungen registriert wurden, stiegen die Emissionen hier zwischen 1990 und 2002 um mehr als 16 Millionen Tonnen.

Um eine grundlegende Kurskorrektur einzuleiten und die ehrgeizigen Reduzierungs- und Ausstiegsziele zu erreichen, fordern die Autoren der von Greenpeace beauftragten Studie eine substanzielle Effizienzsteigerung in allen relevanten Bereichen des täglichen Lebens und Arbeitens. Neben der Senkung der eingesetzten Strom-, Wärme- und Kraftstoffmenge soll das Potenzial der erneuerbaren Energien optimaler genutzt und Strom und Wärme möglichst dezentral in Kraft-Wärme-Kopplungsanlagen erzeugt werden, so dass sich der KWK-Anteil in diesen Bereichen in den kommenden 14 Jahren mindestens verdoppeln lässt.

Außerdem plädieren die EUtech-Wissenschaftler dafür, unabhängigen Kraftwerksbetreibern einen freien Zugang zum deutschen Strom- und Gasmarkt zu gewähren, Offshore-Windparks stärker zu fördern und Probebohrungen für Erdwärme-Anlagen über Bürgschaften abzusichern. Am Ende soll der Primärenergieverbrauch bis 2015 um 29 Prozent und bis 2020 um 37 Prozent sinken.

Top Runner gegen Schadstoffschleudern

Doch die Autoren begnügen sich nicht mit allgemeinen Empfehlungen. Stattdessen wird vorgerechnet. Dass etwa in der Industrie bis 2015 immerhin 8,8 Prozent Strom eingespart werden könnten, wenn sich die Politik entschließen würde, strenge Mindest-Effizienz-Standards für energieverbrauchende Antriebe, Kompressoren oder Beleuchtungen festzulegen. Die Haushalte sollen sogar auf ein Viertel ihres heutigen Verbrauchs verzichten können, für den Fall, dass der Gesetzgeber verbindliche Verbrauchsgrenzwerte für Elektrogeräte vorschreibt und ein Top-Runner-Modell favorisiert, bei dem das verbrauchsärmste Gerät den Standard bestimmt.

Auch im Bereich Wasser und Wärme gibt es nach Einschätzung von EUtech erheblichen Handlungsspielraum, und zwar sowohl für die privaten Haushalte als auch für den sogenannten GHD-Sektor, der Gewerbe, Handel, Dienstleistungen und ähnliche Verbraucher umfasst.

Für Raumwärme und Warmwasserbereitung betrug der Brennstoffeinsatz 2004 etwa 638 Terawattstunden bei den Haushalten und etwa 304 Terawattstunden (inkl. 63 Terawattstunden Prozesswärme) im GHD-Sektor. Durch Sanierungsmaßnahmen, vor allem effektive Wärmedämmung und Modernisierung von Heizungsanlagen, lässt sich der Brennstoffeinsatz bis 2015 um 77 Terawattstunden und bis 2020 um 112 auf dann 830 Terawattstunden verringern.

Plan B – Nationales Energiekonzept bis 2020

Für den Problembereich Verkehr setzt EUtech/Greenpeace auf Tempolimits und eine Revolution der Fahrzeugtechnologie, obwohl oder gerade weil die Automobilindustrie ihren Selbstverpflichtungen bislang nur teilweise nachgekommen ist. Bis 2020 soll der Durchschnittsverbrauch von Neufahrzeugen nicht über 4,5 Liter pro 100 Kilometer und im Idealfall noch deutlich darunter liegen.

Geht man von einem weiteren Zuwachs an PKW von einem Prozent pro Jahr, einer unveränderten Jahresfahrleistung pro Fahrzeug und einer Neuerungsrate von etwa sechs bis sieben Prozent pro Jahr aus, können im Verkehrssektor mit den beschriebenen Maßnahmen bis zum Jahr 2015 rund 15 Millionen Tonnen und bis 2020 circa 24,6 Millionen Tonnen CO2 eingespart werden.

Plan B – Nationales Energiekonzept bis 2020

Auch die in der öffentlichen Debatte kaum berücksichtigten Treibhausgasgruppen, die neben Kohlendioxid ausgestoßen und im Kyoto-Protokoll ausdrücklich erwähnt werden, spielen in den Berechnungen eine Rolle. „Plan B“ sieht vor, die Emission von Methan, Distickstoffoxid, Schwefelhexafluorid, perfluorierten und teilfluorierten Kohlenwasserstoffen von aktuell 125 Millionen Tonnen CO2-Äqivalente im Jahr bis 2015 auf 112 Millionen und bis 2020 auf 109 Millionen Tonnen zu reduzieren.

Bild: H.-G. Oed/BMU

Kernkraftwerke als Klimaschützer

Bei den Interessenvertretern der Kernenergiebranche stößt „Plan B“, der den von Greenpeace als gescheitert betrachteten Plan A der Bundesregierung baldmöglichst ablösen soll, auf keine Zustimmung. Der Präsident der Deutschen Atomforums, Walter Hohlefelder, gab bereits einen Tag vor der offiziellen Präsentation der neuen Studie mit Blick auf alle anderslautenden Meinungen zu Protokoll, dass er Kernkraftwerke für vorbildliche Klimaschützer hält. Die Treibhausgasemissionen lägen lediglich zwischen 5 und 33 Gramm CO2-Äquivalent pro erzeugter Kilowattstunde, während fossile Energieträger 399 bis 1.231 Gramm emittierten, meinte das Vorstandsmitglied der E.ON Energie AG.

Kernenergie wird somit den Anforderungen an eine umweltschonende Energieerzeugung voll und ganz gerecht und trägt entscheidend zur Klimavorsorge bei. Es ist an der Zeit, dass wir in der Energiepolitik zu mehr Sachlichkeit zurückkehren. Haltlose Argumente nutzen Keinem, sondern schaden vielmehr.

Walter Hohlefelder

Hohlefelder steht mit seiner Meinung nicht allein. Die Vorstellung, den immerhin beträchtlichen Anteil der Kernenergie an der Stromerzeugung durch Einsparungen, mehr Effizienz und den Einsatz erneuerbarer Energien in absehbarer Zeit egalisieren zu können, halten zahlreiche Vertreter aus Industrie, Wirtschaft und Wissenschaft für unrealistisch, und das gilt schon für das Zieljahr 2021, in dem nach rot-grünem Ausstiegsbeschluss der letzte Mailer abgeschaltet werden soll.

Wenn Deutschland diese Maßnahme um sechs Jahre vorziehen wollte, sehen viele nur die Möglichkeit, wieder auf die Klimakiller Braun- oder Steinkohle auszuweichen.

Doch ehrgeizige Ziele sind nicht verboten. Und das Nachdenken über die Frage, ob die Politik alles getan hat, um angemessen auf den Klimawandel und die Herausforderungen eines modernen Umwelt- und Naturschutzes zu reagieren, ebenfalls nicht.

Insbesondere die Kraft-Wärme-Kopplung wird von vielen Experten als erfolgversprechendes Zukunftsmodell betrachtet. Die Bundesministerien für Wirtschaft und Umwelt brauchten allerdings zwei Jahre, um den für 2004 angekündigten, 12seitigen Zwischenbericht über die Wirksamkeit des aktuellen Kraft-Wärme-Kopplungsgesetzes 2006 tatsächlich vorzulegen und eine Novellierung anzukündigen. Das ist umso bedauerlicher, als mit bloßem Abwarten niemandem gedient sein kann und in diesem Bereich tatsächlich noch eine Vielzahl ungeklärter Probleme hinsichtlich der Organisation, Finanzierung, technischen Umsetzung oder der Akzeptanz bei den Endkunden gelöst werden müssen.

Die forsche Behauptung der Umweltaktivisten, es sei „allein eine Frage des politischen Willens, ob das Klima endlich wirksam geschützt wird“, schießt womöglich über das Ziel hinaus. Aber es ist doch ganz wesentlich eine solche Frage, die vom politischen Willen nur sehr bedingt beantwortet wird.