Der Gerichtsreporter und die Kammer des Schreckens

Freiheitskämpfer Rolf Schälike leistet passiven Widerstand gegen die Pressejustiz

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Die Älteren unter uns erinnern sich an eine Zeit, in der es hierzulande so etwas wie Meinungsäußerungsfreiheit gab. Die Verfassungsväter hatten sich mit den in Artikel 5 des Grundgesetzes garantierten Äußerungsfreiheiten vom nationalsozialistischen Zensurstaat distanzieren wollen, und auch die Gerichte urteilten jahrzehntelang mit Seitenblick auf die totalitäre DDR überwiegend zugunsten der Meinungsfreiheit. So durfte man Strauß stoppen, Soldaten im allgemeinen als Mörder bezeichnen, Firmen und Sekten mit scharfen Begriffen kritisieren und bis zur Grenze von Beleidigungen und sogenannter "Schmähkritik" nahezu alles äußern, was ein Werturteil darstellte. Bewertete etwa ein juristischer Laie jemanden als „kriminell“, „Betrüger“ oder „Wegelagerer“, so war dies auch dann zulässig, wenn keine Straftatbestände im Rechtssinne erfüllt waren. Selbst bei Äußerungsverboten hatte das Bundesverfassungsgericht klargestellt, dass prinzipiell an die Wahrheitspflicht im Interesse der Meinungsfreiheit keine Anforderungen gestellt werden dürfen, die die Bereitschaft zum Gebrauch des Grundrechts herabsetzen und so auf die Meinungsfreiheit insgesamt einschnürend wirken können.

Diese Zeiten sind seit dem 25.10.2005 vorbei. An diesem Tag nämlich urteilte das Bundesverfassungsgericht, dass eine Äußerung, die mehrdeutig ausgelegt werden könne, bei einer denkbaren Verletzung des allgemeinen Persönlichkeitsrechts verboten werden kann. Was eigentlich wohl einen Einzelfall hätte regeln sollen, wurde speziell von den Hamburger Richtern zum Dogma erhoben. Wurde bei der Auslegung unklarer Begriffe früher im Zweifel zugunsten der Presse- und Meinungsfreiheit entschieden, so wird heute auf die ungünstigste Deutungsvariante abgestellt. Gedeutete „Meinungen“, die gar nicht gemeint waren, werden faktisch sogar wie unwahre Tatsachenbehauptungen behandelt.

Die Gerichte gehen erheblich weiter: Konnte man früher nur für das belangt werden, was man tatsächlich gesagt hatte und musste sich nicht darum scheren, dass die Zuhörer weiterdenken, so kann heute bereits eine Assoziation des Richters ausreichen, um ein Verbot einer unklaren Äußerung durchzusetzen. Man darf also noch frei denken, nicht aber seine Mitmenschen durch Andeutungen denkend machen. Schützenswerte Persönlichkeitsrechte – deren Umfang gesetzlich nicht fixiert ist - billigen Richter sogar juristischen Personen wie Firmen zu. Verdachtsberichterstattung, Enthüllungsbücher und kritischer Journalismus sind inzwischen ohne einen dicken Etat für Rechtsberatung nicht mehr möglich. Von Ironie, Übertreibungen und Anspielungen ist abzuraten. Voraussagen lassen Urteile inzwischen selbst von Experten nicht mehr.

Schleichende Beschneidung der Meinungs- und Pressefreiheit

Hätte es für diese Orwell-ähnlichen Zustände ein Gesetzgebungsverfahren gegeben, es wäre wohl zu einem ähnlich lauten Aufschrei gekommen wie gegenwärtig zur von Schäuble geforderten Lizenz zum Töten. Die schleichende Beschneidung der Meinungs- und Pressefreiheit wurde nur von wenigen wahrgenommen. Die Auswirkungen kann die Allgemeinheit naturgemäß nicht spüren: Was man nicht kennt, kann man schwerlich vermissen. Verschweigen ist noch immer die effizienteste Form der Medienmanipulation. In Zeiten ausgedünnter Redaktionen sind die Anforderungen an Recherche, wie sie die Hamburger Richter aufstellen, nur noch im Ausnahmefall realistisch. Paradoxerweise leisten es sich dieselben Richter, auf Beweisaufnahmen zu verzichten und durch subjektive Einschätzungen zu ersetzen.

Ein Mann jedoch hat dieser unterschwelligen Zensurpraxis entschieden den Kampf angesagt: Jeden Freitag während der wöchentlichen Sitzung der Pressekammer des Hamburger Landgerichts, wo die meisten Presseurteile Deutschlands gesprochen werden, stenographiert der unbeugsame Rentner Rolf Schälike die Vorgänge mit und verbreitet seine Eindrücke in einem Weblog. Seine Homepage hat er nach dem Vorsitzenden Richter der Pressekammer benannt, der ihn 2003 zum Schweigen verurteilt hatte. Schließlich vor die Wahl gestellt, entweder eine Strafe zu zahlen oder eine Woche im Gefängnis zu verbringen, zog der durchaus nicht unvermögende Unternehmer letzteres demonstrativ vor. Während man auf den ersten Blick geneigt ist, dies als kauzigen Kleinkrieg eines störrischen Rentners zu bewerten, hat Schälikes Engagement durchaus Tiefgang: In der DDR hatte er mit seinem Drang nach Meinungs- und Informationsfreiheit die gleichen Probleme gehabt.

Schälike, Jahrgang 1938, war als Sohn bekannter Berliner Kommnisten im Moskauer Exil geboren worden, wo die Familie mit vielen Personen der späteren politischen Führung der DDR befreundet gewesen war, Schälikes Schwester sogar mit der Tochter Stalins. Nach dem Krieg zogen die Schälikes nach Berlin-Friedrichsfelde. Obwohl sein Umfeld kommunistisch war, behielt der studierte Kernphysiker seinen eigenen Kopf und wurde daher in den sechziger Jahren aus der Partei ausgeschlossen. Nach einem Berufsverbot machte er sich als Dolmetscher und Übersetzer für russische Sprache selbständig. 1984 wurde er zu sieben Jahren Zuchthaus verurteilt, weil er Bücher von Heinrich Böll, Jürgen Fuchs, Wolfgang Leonhard, Alexander Solshenyzin, Manfred Wilke und Heinz Brandt verbreitet hatte. Nachdem sich u.a. Wolf Biermann bei Helmut Kohl für einen Freikauf eingesetzt hatte, konnte der Querdenker nach 10einhalb Monaten Haft 1985 ausreisen und machte sich in Hamburg selbständig, dolmetschte gar für Kohl, Voscherau und bei Gorbatschows Deutschlandbesuchen. Von der DDR wurde Schälike noch 1990 nachträglich für seine erlittene Haft entschädigt.

Nachdem ihm auch die Hamburger Pressejustiz ihre Auffassung zum Menschrecht "Meinungsfreiheit" demonstriert und wie die DDR-Kollegen für eine Lappalie ins Gefängnis gesteckt hatte, hat es sich Schälike zur Lebensafgabe gemacht, die Vorgänge in der Hamburger „Dunkelkammer“ zu dokumentieren. Meistens ist er der einzige Prozessbeobachter. Das Gefeilsche, das sich bis vor zwei Jahren diskret innerhalb der überschaubaren Gemeinde der creme de la creme deutscher Pressejuristen abgespielt hatte, ist seither einige Tage später öffentlich für jedermann einsehbar.

Medienanwälte klagen bevorzugt in Hamburg und Berlin

Staunend lernte Schälike, dass sich die Hamburger Presserichter für ganz Deutschland zuständig halten, ggf. sogar für Österreich, England und Russland. Im Presserecht darf nämlich grundsätzlich überall geklagt werden, wo ein Druckwerk angeboten wird bzw. ein Rundfunkanbieter empfangbar oder eine Website abrufbar ist. Ausreichend ist etwa, wenn eine Zeitung im Hamburger Bahnhofskiosk mit einem einzigen Exemplar vertreten ist. Da sich die Hamburger als die verbietungsfreudigsten herumgesprochen haben, klagen Medienanwälte dort bevorzugt.

Den Hamburger Presseanwälten ist der selbsternannte Gerichtsreporter nicht geheuer. Die meisten verweigern ihm kategorisch das Gespräch. Einer versucht es gar mit Prozessen, Schälike einzuschüchtern, während sich ein anderer über die Wahl seiner Mittel unklar ausdrückt – was nach Hamburger Gepflogenheiten ja äußerungsfeindlich auszulegen wäre. Nachdem sich herumgesprochen hatte, dass Schälike den Gang ins Gefängnis für seine große Klappe nicht scheut, gingen entsprechende Einschüchterungsversuche zurück. Dass man über Anwälte bei Schälike nur selten Schmeichelhaftes liest, darf also nicht verwundern. Schälikes Experimenten ist die Entdeckung zu verdanken, dass die Veröffentlichung von Anwaltsschreiben nicht mehr wegen Verstoßes gegen Urheberrecht verboten wird, sondern eine Verletzung des Persönlichkeitsrecht sein soll.

Schälike führt die richterliche Zensur als Realsatire vor: Alle Äußerungen, die von den Hamburger Richtern verboten werden, verbreitet Schälike auf seiner Website erst recht – was bei entsprechender Distanzierung durchaus zulässig ist. Was immer also teure Anwälte in Hamburg aus der Welt schaffen sollen, bringt Schälike der Welt zurück und führt das Theater stur ad absurdum. Äußerungen und Bilder im Internet können dank Schälike nicht mehr wirksam beseitigt werden, sondern erhalten nur einen anderen Gastgeber. Gipfel der Ironie ist, dass Äußerungen, die niemand beachtet hätte, durch den untauglichen Zensurversuch erst recht eine Aufwertung erfahren. Viele Verfahren, etwa solche, die als Vergleiche enden, finden mangels druckfähigem Urteil nie den Weg in die Fachpresse, sehr wohl allerdings auf Schälikes jutizkritischer Seite. Außerdem bietet der Gerichtsreporter auch skurrile Anekdoten.

Die Richter der Hamburger Pressekammer selbst sind mit den Gesetzmäßigkeiten der PR vertraut genug, um Schälike nicht durch offenen Streit publizistisch aufzuwerten, und gehen daher mit ihrem zähen Chronisten professionell gelassen um. So werden sogar Schälikes aus dem Zuschauerraum geäußerten Vorschläge oder Mahnungen freundlich aufgegriffen. Manchmal hat Schälike sogar den Eindruck, die Richter suchten über ihn die Öffentlichkeit. Inzwischen hat Schälike sein Informationsangebot nicht nur auf die Dienstagssitzung der nächsten Instanz, dem Hanseatischen Oberlandesgericht, erweitert, er besucht nun auch jeden Donnerstag die Sitzungen der ebenfalls gefürchteten Presserichter in Berlin, wo die ihm aus Hamburg bekannten Medienjuristen seine Anwesenheit ungläubig zur Kenntnis nahmen. Reise- und Rechtskosten finanziert er aus eigener Tasche.

Ungeschliffene Rohdiamanten

Obwohl juristischer Laie, vermag Schälike aufgrund seiner Praxiserfahrung äußerungsrechtliche Fälle erstaunlich gut einzuschätzen und Entscheidungen vorherzusagen. Ungehalten wird der Sohn eines politischen Verlegers, wenn es um das Verbieten ganzer Bücher geht. Eine gewisse Schadenfreude für das Verlieren von Anwälten, die er nicht mag, ist kaum zu übersehen. Bedauerlich ist, dass Schälikes Notizen meist ungeschliffene Rohdiamanten bleiben, die journalistisch aufgearbeitet werden müssten. Wenn er aber mal kommentiert, so lohnt sich die Lektüre meistens.

Landgericht Hamburg, chinesisch beflaggt. Bild: Lurusa Gross

Inzwischen unterstützen Schälike auch mehrer Karikaturisten, von denen eine etwa das Hamburger Landgericht wegen dessen „Zensurfreudigkeit“ chinesisch beflaggt hat. Aus Protest gegen das Ausufern des Urheberrechts signiert sie ihre Bilder stets mit einem Copyleft-Zeichen.

Nicht wenige sind der Ansicht, Schälikes Anwesenheit beeinflusse die sonst eher privaten Verhandlungen. Die Richter und Anwälte wissen nun, dass ihnen jemand auf den Mund schaut, keine umstrittenen eigenständige Interpretationen unbeachtet lässt und sich keinem standesgemäßen Gefälligkeitskodex fügt. Eigentlich müsste Schälikes Job von denen wahrgenommen werden, denen er am meisten nutzt: den Journalisten. Die aber finden sich in der Pressekammer praktisch nur ein, wenn über A-Prominente verhandelt wird - oder wenn sie vorgeladen werden.

Ebenso wenig, wie ein unbeirrbarer Schälike seinerzeit allein die Macht der Stasi beenden konnte, wird ein einziger couragierter Rentner auch die Aushöhlung der Meinungsfreiheit nicht zurückdrängen können. Aber ein Zeichen setzen, dass kann er, und das tut er. Notfalls eben im Knast, wie seinerzeit Gandhi im passiven Widerstand.

Im vorliegenden Artikel wurden mehrdeutige wie ehrabschneidende Begriffe wie etwa „Zensur“ verwendet, sowie Links, für die man nach hanseatischer Lesart haftet. Zudem eröffnet dieser Beitrag auch eine verantwortungsbegründende „Gefahrenquelle“, da unbotmäßige Kommentare im Leserforum provoziert werden könnten, die zu überwachen seien. Und falls die Pressekammer Hamburg auch ein Persönlichkeitsrecht für sich selbst beanspruchen sollte oder gar Harry Potters Anwälte in der Überschrift einen gefährlichen Eingriff in Urheber- oder Markenrechte erblicken, dann wird dieser Artikel hier demnächst ganz schnell wieder verschwinden – und noch schneller wieder auftauchen, nämlich auf Schälikes Website. Ob Schälike es in diesem Fall wohl schaffen wird, sich glaubhaft vom Inhalt zu distanzieren ...?