Mind-Doping für Alle?

Fünf Gründe gegen Psycho-Enhancement - Teil 2

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Das Thema des Psycho-Enhancements (manche sprechen auch vom „Mind Doping“) beschäftigt uns in jüngster Zeit immer wieder. Im ersten Teil dieses Artikels (Warum nicht sein Gehirn mit Medikamenten und Drogen aufputschen?) wurden die unbekannten Risiken sowie die Frage der Fairness im Wettbewerb diskutiert. Schon diese beiden Punkte ließen die Aussichten des Psycho-Enhancements unter ethischen Gesichtspunkten negativ erscheinen. Im Folgenden werden drei weitere Aspekte besprochen, die diesen vorläufigen Eindruck stützen.

Dritter Grund: Verteilungsgerechtigkeit

Dass in Deutschland wie in kaum einem anderen Land die soziale Herkunft den Ausbildungsweg festlegt, ist hinlänglich bekannt. Ebenso, dass die Unterschiede zwischen Armen und Reichen immer größer werden. Dabei hat die Politik der letzten Jahre diese Trends noch verstärkt, wenn man an die Kürzungen der sozialen Hilfe oder die Einführung von Studiengebühren denkt.

Würden auf dem freien Markt pharmakologische Mittel zur Leistungssteigerung zur Verfügung stehen, dürfte das die Unterschiede nur noch vergrößern: Die zumindest vorerst exklusiven und teuren Substanzen würden vor allem den Kaufkräftigen zur Verfügung stehen, die dadurch im Wettbewerb um Geld und Macht weitere Vorteile hätten. Erst auf längere Sicht könnten wahrscheinlich günstigere Produkte angeboten werden, wenn entweder die Substanzen nach Auslauf des Patentschutzes frei hergestellt werden dürften, oder eine neue Generation an Mitteln angeboten und damit die bisherigen zur zweiten Wahl degradiert würden. Dieser Prozess lässt sich an den Marktzyklen vorhandener Medikamente nachvollziehen. Man mag zwar darüber fantasieren, der Staat könne durch Subventionen das Problem der Verteilungsgerechtigkeit lösen. Doch anstatt Science-Fiction-Philosophie zu betreiben, sollte man die Denkarbeit besser in die Abschaffung bestehender Ungerechtigkeiten investieren.

Anjan Chatterjee, ein Neurologe an der University of Pennsylvania, der gerne von der „kosmetischen Neurologie“ spricht, vergleicht die Situation mit der kosmetischen Chirurgie. Schließlich würden wir in Kauf nehmen, dass sich Menschen durch solche Eingriffe schöner machen, als sie von Natur aus sind.

Wenn man sich allerdings die aktuellen Zahlen anschaut, denen zufolge allein im letzten Jahr 7.500 junge Frauen im Alter bis zu 20 Jahren in den USA die Brust vergrößern ließen und in Großbritannien jede zweite Frau im Laufe ihres Lebens über eine Schönheits-OP nachdenkt, dann darf man durchaus auch bezüglich dieser Entwicklung ethische Bedenken erheben.

Mit Autonomie oder Selbstbestimmung und -verwirklichung, die man oft als Gründe für den liberalen Umgang mit neuen Technologien anführt, scheint das jedenfalls nicht mehr viel zu tun zu haben. Vielmehr kann davon ausgegangen werden, dass geschickte Werbung und einseitige Mediendarstellung Druck erzeugen, die äußere Erscheinung einem überzogenen Schönheitsideal anzupassen. Die Selbstbestimmung wird dadurch also unterminiert anstatt gefördert.

Im Hinblick auf das Psycho-Enhancement wird ebenso gerne der Vergleich zu Privatschulen ins Feld geführt: Wenn wir diese für unbedenklich halten, obwohl sie nicht jedem zur Verfügung stehen, wieso sollten dann das Psycho-Enhancement anders bewerten? Auch diese Analogie beruht auf einer seltsamen Logik, schließlich unterstellt sie versteckt: Erlaubt gehört, was nicht verboten ist. Daraus folgt schon gar nicht, dass nicht verboten gehört, was (jetzt gerade) erlaubt ist. Wer so den Status quo als Messlatte für Richtigkeit definieren möchte, der kann nicht begründen, warum es überhaupt Gesetze gibt und begeht einen peinlichen Fehlschluss vom Sein aufs Sollen, den schon der schottische Moralphilosoph David Hume (1711-1776) brandmarkte.

Außerdem erinnern diese Vergleiche an das Kinderspiel, wer A sage, müsse auch B sagen. Doch ist das kein zwingendes Prinzip, vielmehr wäre es töricht, mit B einen weiteren Fehler zu begehen, wenn A schon verkehrt war. Wer also diese Analogien zur vermeintlichen Verteidigung des Psycho-Enhancements anführt, der kann sich schnell mit der Forderung nach Änderung der vorherrschenden Regelungen konfrontiert sehen, an denen er eigentlich festhalten wollte.

Vierter Grund: Soziale Lösungen für soziale Probleme

Eine wichtige Frage, die sich jeder stellen sollte, der mit dem Gedanken ans Mind Doping spielt, ist diejenige: Warum will ich das eigentlich? Man spricht immer öfter von der Leistungsgesellschaft, was sich ähnlich wie die Wissens- oder Informationsgesellschaft nach etwas Gutem anhört. Allerdings sollte klar sein, dass die Leistungsfähigkeit eines Menschen nicht ins Unermessliche gesteigert werden kann. Daraus folgt, dass an einem Punkt, früher oder später, eine Grenze gezogen werden muss. Zwar könnte man die Grenze in der Situation ziehen, in der man pharmakologisch gestützt 16 Stunden am Tag arbeitet, die Nacht pharmakologisch auf vier Stunden verkürzt und dabei noch glaubt, auf diese Weise vier Stunden Privatleben zu gewinnen.

Ernüchternd ist hingegen, dass sich auch an dieser Stelle dasselbe Problem stellen würde: Wenn Leistung etwas Gutes ist, und ein anderer jetzt gerade arbeitet anstatt sich auszuruhen, sollte ich meine Leistung dann nicht weiter steigern? Wenn Psychopharmaka eines Tages tatsächlich problemlos unsere geistige Leistungsfähigkeit steigern könnten, würden sie also mittelfristig nicht das Problem des Leistungsdrucks lösen, sondern es nur auf eine andere Ebene verschieben. Die einzige Lösung liegt vielmehr darin, sich ab einer bestimmten Grenze dem überzogenen Druck durch eine Entscheidung zu entziehen. In welchem normalen Rahmen sich dies bewegen kann, liegt nicht zuletzt an dem Verhalten der Teilnehmer in dieser Leistungsgesellschaft, die dadurch die Norm festlegen.

Der britische Nobelpreisträger, Philosoph und Mathematiker Bertrand Russell (1872-1970) hat in seiner Schrift „Lob des Müßiggangs“ dafür plädiert, diese Grenze lieber etwas niedriger anzusetzen als höher. Viele mögen es für absurd halten, eher an einen vier- als an einen 16-Stunden-Tag zu denken. Es geht bei dieser Entscheidung aber um nicht weniger als darum, was das gute Leben ist. Für Russell gehörte auch dazu, sich Zeit für andere Interessen, eigene Ideen, die Politik, Kultur oder Kunst nehmen zu können. Im Beruf geht es aber oft nicht mehr um andere Interessen, sondern um Interessen anderer, in einer langen Kette bis zu denjenigen anonymer und gesichtsloser Anteilseigner.

Bertrand Russell sah im technologischen Fortschritt die Möglichkeit, vielen Menschen eine müßiggängerische Welt zu ermöglichen, anstatt durch Rationalisierung immer wenigeren immer mehr Arbeit aufzubrummen. Die Arbeit der Maschinen könnte dafür sorgen, den Lebensstandard vieler auf einem hohen Niveau zu halten. „Ich denke, dass bei weitem zu viel Arbeit auf der Welt erledigt wird und dass immenses Leid durch den Glauben erzeugt wird, Arbeit sei tugendhaft“, schrieb er schon 1932. Das klingt fast nach Isaac Asimovs Roboterwelten, in denen sich die Menschen von Maschinen bedienen lassen anstatt hart zu arbeiten.

Diese Überlegungen zur Leistungsgesellschaft und zum guten Leben machen auch deutlich, welches Risiko pharmakologische Lösungen für soziale Probleme bergen. Hätten unsere Vorfahren zu Pillen gegriffen anstatt für Menschenrechte und Demokratie zu kämpfen, wir hätten wahrscheinlich heute noch die absolutistische Monarchie nach dem Prinzip Louis XIV. (1638-1715): L´État, c´est moi – der Staat bin ich; oder gar ein sklavenhalterisches Rom.

Bereits aus der heutigen Perspektive schaut man in die 1950er Jahre der Vereinigten Staaten zurück und spricht nach dem gleichnamigen Song der Rolling Stones von den damaligen Psychopharmaka wie Miltown, Librium und Valium als Mother´s little helpers – Mutters kleine Helfer. Hausfrauen seien damals massenweise durch Pharmakologie zufrieden gestellt worden in einer Situation, die tatsächlich unbefriedigend für sie war, stellt der US-Psychiater Peter Kramer fest, der als einer der ersten Gesunden Antidepressiva verschrieben hat. Denkt man an die vermehrte Arbeitslosigkeit und damit einhergehende psychische Erkrankungen wie Depressionen, könnten wir uns heute in einer ganz ähnlichen Lage befinden, indem wir die Lösung allein in selektiven Serotonin-Wiederaufnahmehemmern sehen, den Antidepressiva unserer Zeit.

Ein ganz wesentlicher Punkt ist aber auch das Menschenbild, das mit der pharmakologischen Verfügbarkeit über Hirnzustände einhergeht. Wer sich selbst zu einer Maschine degradiert, an der man bloß am richtigen Rädchen zu drehen braucht, um sie funktionstüchtig zu halten, der verzichtet damit auch auf Werte und Rechte, die in der Geschichte des Abendlandes mühsam errungen wurden. Eine Maschine ist schließlich immer ein Mittel zum Zweck eines anderen – Enhancement für den Chef, um den überzogenen Wünschen der anderen zu genügen, die Ansprüche der Leistungsgesellschaft zu erfüllen.

Der Glaube an Selbstverwirklichung entpuppt sich damit als Reinfall auf Fremdbestimmung. Die extreme Leistungsgesellschaft ist damit gar keine Gesellschaft mehr, in der autonome Personen Entscheidungen treffen, sondern eine allein marktwirtschaftlich produktive Maschinenwelt. Der Mensch hat dann die Macht nicht an die Maschinen übergeben, wie es manche Dystopien ausformulieren (zum Beispiel in Matrix oder Terminator), sondern sich selbst zum Maschinenartefakt gemacht. Das führt vor Augen, dass soziale Probleme auch eine soziale Lösung erfordern, keine pharmakologische.

Fünfter Grund: Nullrunde

Der letzte Grund beschäftigt sich mit der Frage, ob das Psycho-Enhancement überhaupt die Wünsche derjenigen erfüllen kann, die sich dafür entscheiden. Hierbei spielt eine wichtige Rolle, dass die geistige Leistungsfähigkeit eines Menschen eine Größe ist, deren Wert von der Verteilung in der Gesellschaft insgesamt abhängt. Man spricht von einem positionalen Gut, wenn es seinen Wert nicht durch seine inneren Eigenschaften erhält, sondern durch die relative Verteilung. Die gewonnene Goldmedaille ist nur deshalb etwas Besonderes, weil sie nicht jeder haben kann. Würde man sie schon für einen Spaziergang um die Ecke bekommen und nicht nur für eine Spitzenleistung, welchen Wert besäße sie dann noch?

Mit den geistigen Fähigkeiten verhält es sich im Wettbewerb aber ganz ähnlich; sie sind ein Auszeichnungs- und Alleinstellungsmerkmal, von dem wir im Konkurrenzkampf der Leistungsgesellschaft Gebrauch machen. Dass mehr davon etwas nutzt, sehen wir schon allein daran, dass es überhaupt so etwas wie eine Nachfrage nach Wegen zur Leistungssteigerung gibt. Wäre dem nicht so, bräuchten wir erst gar nicht über Psycho-Enhancement als gesellschaftliches Problem zu diskutieren, weil es auf eine Clique experimentierfreudiger Avantgardisten beschränkt bliebe. Beispiele hierfür sind die Wünsche der so genannten Psychonauten, durch auf die Psyche wirkende Substanzen einfach gute und neue Bewusstseinszustände zu erleben oder das Werk einer Künstlerin, die ihrer Verwirklichung oder der Kunst wegen malt und nicht, um ihre Werke möglichst teuer auf dem Markt zu platzieren.

Das Psycho-Enhancement nutzt seinen Anwendern also nur, so lange es ihnen einen kompetitiven Vorteil verschafft. Wenn die Substanzen allen zugänglich wären, würde sich der gewonnene Nutzen angleichen. Dann würden Menschen Geld dafür bezahlen und die Risiken tragen, ohne dass es sie im Wettbewerb besser stellt. Das heißt, die Idee der geistigen Leistungssteigerung durch Pharmakologie widerlegt sich selbst, wenn sie weite Verbreitung findet. Die Situation erinnert an die rote Königin in Lewis Carolls Erzählung „Alice hinter den Spiegeln“: Sie rennt und rennt und bewegt sich doch nicht von der Stelle weg.

Man kann das Nullsummenspiel des Psycho-Enhancements auch mit dem Gefangenendilemma vergleichen, einem Modell aus der Spieltheorie, mit dem man menschliches Verhalten in Konkurrenzsituationen untersucht. Angenommen, zwei Verbrecher werden wegen Drogenhandels gefasst. Die Beweise gegen sie reichen aber nicht aus, sie ihrer schweren Tat zu überführen, sondern nur wegen illegalen Waffenbesitzes. Der Staatsanwalt versucht jetzt, einen der beiden zur Aussage gegen den anderen zu bewegen und bietet ihm dafür als Kronzeuge Straffreiheit an. Dem anderen würde es dann besonders schlecht ergehen, weil er für die schwere Tat verurteilt würde. Der Nutzen der Entscheidung jedes Gefangenen hängt nun wesentlich davon ab, wie sich der andere verhalten wird. Wenn beide plaudern, werden sie beide hart bestraft. Nur wenn beide kooperieren und dicht halten, kommen sie mit einer geringen Strafe durch.

Genauso hängt der Nutzen des Psycho-Enhancements von der Entscheidung des Konkurrenten ab. Greift er ebenso zu den Pillen, dann hat keiner von beiden einen Vorteil, sondern bloß Nachteile. Nur wenn beide sich dagegen entscheiden, hat keiner einen Nachteil. Die Effektivität des Psycho-Enhancements geht damit wesentlich von einer ungleichen Situation aus, in der nur ich meine Leistung steigere, nicht aber der andere, und ist daher im Kern ungerecht. Das lässt nur einen kleinen Spielraum für volkswirtschaftliche Erwägungen, dass man die Gesamtleistung einer Gesellschaft pharmakologisch steigern könnte. Dann hätte zwar das Individuum keinen kompetitiven Vorteil mehr durch sein Verhalten, wäre aber wenigstens die Produktion der Volkswirtschaft insgesamt erhöht. Doch selbst auf dieser abstrakten Ebene herrscht wieder Konkurrenz mit anderen Volkswirtschaften und wird die Leistungsfähigkeit der einen in Relation zur anderen bewertet. Es wiederholt sich also das Gefangenendilemma und endet auch hier mit einer Nullrunde.

Fazit

Diskussionen über das Mind Doping bleiben oft bei einem Verweis auf die Freiheit in unserer Gesellschaft hängen und enden mit der Frage: Warum eigentlich nicht? Hier wurden fünf Gründe vorgestellt, die eine Antwort geben und in der gesellschaftlichen Debatte eine Rolle spielen sollten. Die Liste ist dabei sicher nicht vollständig. Im Hinblick auf psychologische oder pädagogische Aspekte könnte man beispielsweise die Wichtigkeit der Erfahrung der Selbstwirksamkeit in der Entwicklung eines Menschen anführen. Wer nicht die Erfahrung macht, aus sich und eigener Kraft heraus etwas Gutes bewirken zu können, der hat ein größeres Risiko für psychische Erkrankungen.

Es ist nämlich ein Fehlschluss, nur noch bis zur nächsten Hürde auf das Doping setzen zu wollen und ab dann plötzlich „clean“ zu werden. Wenn man die Hürde nämlich nur mithilfe leistungssteigernder Mittel schafft, dann ist es unwahrscheinlich, auf höherer Stufe plötzlich ohne die Helfer auszukommen.

Auf einen subtilen begrifflichen Aspekt macht Gabriel Curio, Professor für Neurologie an der Berliner Charité, aufmerksam. Indem man über „Enhancement“, also eine Verbesserung spreche, werde die Beweislast schon umgekehrt. Nun müssten nicht mehr seine Befürworter den Nutzen belegen, sondern vielmehr seine Gegner den Schaden. Umgekehrt beklagen Befürworter des Psycho-Enhancements oft, die Redeweise über „Mind Doping“ würde das Blatt von vornherein gegen sie wenden, da „Doping“ eindeutig negativ besetzt sei. Curio schlägt als Alternative vor, neutral von einer „Intervention“ zu sprechen, die gut oder schlecht sein könne. In einer gesellschaftlichen Auseinandersetzung mit dem Thema könnte dann die Entscheidung getroffen werden, entweder über „Enhancement“ oder über „Doping“ zu sprechen. Bis dahin sollte man sich aber darum bemühen, die Mythen sorgfältig von den Fakten zu trennen. Ein erster Schritt wäre, in den Schulen und Hochschulen Informationsveranstaltungen anzubieten, um der häufig selektiven oder gar falschen Darstellung in den jüngsten Fernsehberichten etwas entgegenzusetzen.