Justizfarce mit Folgen

Vor 75 Jahren, am 23. Dezember 1933, sprach das Reichsgericht in Leipzig im sogenannten Reichstagsbrandprozess das Urteil

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Für die Nazis geriet das als antikommunistischer Schauprozess inszenierte Verfahren zum Fiasko. Der „Reichstagbrandstifter“ Marinus van der Lubbe wurde zum Tode verurteilt. Die mitangeklagten Kommunisten hingegen mussten „mangels Beweisen“ freigesprochen werden.

Vom 21. September bis 23. Dezember 1933 fand vor dem 4. Strafsenat des Leipziger Reichsgerichts der Prozess gegen „van der Lubbe und Genossen“ statt.1 Van der Lubbes angebliche „Genossen“, das waren die in Berlin unter falschen Namen lebenden Exilbulgaren Georgi Dimitroff, bis Januar 1933 Leiter des Westeuropäischen Büros des Exekutivkomitees der Kommunistischen Internationale (EKKI), Blagoj Popoff und Vasil Taneff sowie der Vorsitzende der KPD-Fraktion im deutschen Reichstag, Ernst Torgler.

Die Hitler-Regierung, die das Verfahren nach den Vorstellungen Goebbels im Stil eines großen Schauprozess gegen den internationalen Kommunismus zu inszenieren gedachte, musste bald erkennen, dass ihr Plan, der internationalen Öffentlichkeit eine bürgerlich-rechtsstaatliche Fassade vorzugaukeln, zum Scheitern verurteilt war. Bereits wenige Tage nach Prozessbeginn ließ sie daher die Rundfunkübertragungen aus dem Reichsgericht abbrechen.

Um den Prozess gegen politische „Störungen“ abzuschotten, hatten die staatlichen Machtorgane außerordentliche Maßnahmen ergriffen. Auf Anregung des ersten Gestapo2-Chefs Rudolf Diels wurden alle einreisenden ausländischen Journalisten überwacht. Alle Staatspolizeistellen wurden zudem angewiesen, jegliche politische Aktionen gegen den Prozess „schärfstens“ zu beobachten und „rücksichtslos“ zu unterbinden. „Um eine Störung“ des Verfahrens zu vermeiden, wurde vom 17. September bis zum 7. November 1933 sogar der Luftraum über Leipzig gesperrt. Während der Hauptverhandlung überprüfte und überwachte die Politische Polizei Besucher, Journalisten, verhaftete „verdächtige“ Personen, kontrollierte Briefe und hörte Telefongespräche ab. Selbst vor Rechtsanwälten, dem Oberreichsanwalt und selbst den Richtern des Reichsgerichts machte sie nicht Halt. Sogar die Telefongespräche von Reichsgerichtsrat Dr. Walter Froelich, seinerzeit auch Präsident des Verwaltungsgerichts des Völkerbundes, wurden abgehört.

Dass das Verfahren für die Hitler-Regierung zu einem Bumerang geriet und sich in der Weltöffentlichkeit die Überzeugung von der Schuld der Nazis am Reichstagsbrand durchsetzte, ist vor allem drei Faktoren zu verdanken. Es ist zum einen das Verdienst des Mitangeklagten Georgi Dimitroff, der sich, obwohl er erst nach seiner Verhaftung Deutsch gelernt hatte, geistesgegenwärtig, couragiert und mit großem Geschick selbst verteidigte und seine Verteidigung so in eine Anklage der Hitler-Regierung verwandelte.

Eine wichtige Rolle spielte daneben das von antifaschistischen deutschen Emigranten unter Leitung von Willi Münzenberg verfasste und im Sommer 1933 veröffentlichte „Braunbuch über Reichstagsbrand und Hitlerterror“. Zwar nicht fehlerfrei, war es doch die erste umfassende Dokumentation des NS-Terrors in Deutschland, das die Nazis der Brandstiftung anklagte. Als „sechster Angeklagter“ war es im Prozess ständig präsent. Schließlich tagte in Paris und London die juristische Kommission eines Internationalen Untersuchungsausschusses („Londoner Gegenprozess“), die sich aus hervorragenden Juristen verschiedener Länder zusammensetzte. In ihrem am 20. September 1933, also ein Tag vor Eröffnung des Reichstagsbrandprozesses, veröffentlichten Bericht gelangte sie zu dem Schluss, dass „gewichtige Grundlagen für den Verdacht bestehen, dass der Reichstag durch führende Persönlichkeiten der nationalsozialistischen Partei oder in ihrem Auftrag in Brand gesetzt wurde“. Und weiter hieß es: „Der Ausschuss ist der Ansicht, dass jedes Gerichtsorgan, das in dieser Sache Rechtsprechung ausübt, diesen Verdacht genau untersuchen sollte.“

Infolge der insbesondere im Braunbuch erhobenen Anschuldigungen sah sich die Prozessführung gezwungen, auch dort beschuldigte Nazi-Größen wie Göring (vormals Reichstagspräsident und u.a. amtierender preußischer Ministerpräsident), Goebbels und Graf von Helldorf, zum Zeitpunkt des Reichstagsbrandes Führer der SA-Gruppe Berlin-Brandenburg, vor Gericht als „Zeugen“ zu laden. Letzter war in der Auslandspresse und im Braunbuch verschiedentlich als Auftraggeber van der Lubbes bezichtigt worden. Den Abschluss von Helldorfs Vernehmung am 20. Oktober bildete eine Gegenüberstellung mit van der Lubbe, wobei Helldorfs Kommandostimme den Angeklagten wie hypnotisiert den Kopf heben ließ. Helldorf und Göring verwickelten sich bei ihren Vernehmungen in offenkundige Widersprüche.

Dabei kam u. a. heraus, dass die Nazi-Führer bereits um 21 Uhr – da brannte es noch gar nicht! – über den Brand im Reichstagsgebäude informiert waren. Görings und Helldorfs Aussagen wurden in den Stenographischen Protokollen denn auch teilweise gekürzt bzw. verfälscht wiedergegeben So fehlen z.B. Helldorfs spärliche Aussagen über die Séance am Vorabend des Reichstagsbrandes beim „Hellseher“ Hanussen3 Abweichungen zu den Protokollen finden sich ebenfalls in den Aufzeichnungen des Schweizer Journalisten Ferdinand Kugler4, der den Prozess für die Schweizerische Depeschenagentur beobachtete und kritisch kommentierte.5

Berühmtheit erlangte das Rededuell zwischen dem intellektuell weit überlegenen Dimitroff und dem aufbrausenden Göring, der sich von Dimitroff wie auf Knopfdruck in seiner ganzen Anmaßung und Brutalität vorführen ließ. Hitler selbst trat vor dem Leipziger Reichsgericht nicht auf, sondern begnügte sich mit einem inszenierten Auftritt bei einer Rahmenveranstaltung, dem Deutschen Juristentag, der vom 29. September bis zum 2. Oktober 1933 in Leipzig stattfand und für den der Reichstagsbrandprozess eigens unterbrochen wurde. 15.000 Juristen, ein „Fackelzug der Referendare“, SA- und SS-Verbände defilierten am Reichsgericht vorbei, an dem ein riesiges Plakat prangte: „Durch Nationalsozialismus dem deutschen Volk das deutsche Recht“. Die Eröffnung einer „Akademie für deutsches Recht“ unter der Leitung von Dr. Hans Frank II (Reichsjustizkommissar und Leiter des Rechtsamtes der NSDAP) wurde bekannt gegeben. In einer Rede am 2. Oktober zum Abschluss der Veranstaltung drohte Hitler, „der totale Staat werde keinen Unterschied dulden zwischen Recht und Moral. Nur im Rahmen seiner gegebenen Weltanschauung könne und müsse eine Justiz unabhängig sein“. Die deutschen Juristen wussten dies zu beherzigen.

Van der Lubbe unter Drogen?

Das Urteil selbst bedeutete für die Nazi-Führung eine gewaltige juristische und moralische Niederlage. Die mitangeklagten Kommunisten mussten „mangels Beweisen“, wie es hieß, freigesprochen werden. Zum anderen hatte der Prozessverlauf, vor allem die Gutachten der Brandsachverständigen, aber auch die Unmöglichkeit einer Alleintäterschaft des Holländers Marinus van der Lubbe erwiesen und den Verdacht erhärtet, dass die NSDAP selbst in die Brandstiftung verwickelt war.

Der schwer sehbehinderte holländische Wirrkopf und Heißsporn, Anhänger einer rätekommunistischen Splittergruppe, war am Abend des 27. Februar 1933 im brennenden Reichstagsgebäude festgenommen worden. Im Reichstag war er nach eigenem Bekunden zuvor noch nie gewesen. Von seinem angeblichen Einstieg ins Gebäude bis zum Ausbruch des Großbrandes im Plenarsaal waren noch nicht einmal 15 Minuten vergangen – nicht annährend die Zeit, die nötig gewesen wäre, um als Einzelner einen derartigen Großbrand zu entfachen.

Zu diesem übereinstimmenden Ergebnis, das von der modernen Thermodynamik bestätigt wird, waren auch alle vom Reichsgericht eingesetzten Brandsachverständigen gelangt. Einer von ihnen, der Chemiker Dr. Wilhelm Schatz, hatte im Plenarsaal an allen Brandherden sogar die Verbrennungsprodukte einer selbstentzündlichen Flüssigkeit sowie Brandmittelspuren nachgewiesen. Beides hatte van der Lubbe nachweislich nicht bei sich gehabt. Gezündelt hatte er nach eigenen Angaben nur mit handelsüblichen Kohleanzündern und seinen Kleidern. Den Plenarsaal selbst will er sogar nur mit seiner brennenden Jacke in Brand gesetzt haben – indem er mit dieser den Vorhang anzündete!

Zwar soll er bei seiner Befragung durch die Politische Polizei und den Untersuchungsrichter stets betont haben, die Tat alleine begangen zu haben, und das bestätigte er auch vor Gericht; während des Verfahrens wirkte er aber völlig apathisch, saß vornüber gebeugt mit hängendem Kopf und laufender Nase, antwortete, wenn überhaupt, meist nur mit ja oder nein, so als stünde er unter Drogen. Zuletzt war sein Gesicht völlig aufgedunsen. Während Oberreichsanwalt Dr. Werner am 13. Dezember sein Plädoyer vortrug, in dem er u. a die Todesstrafe für den Holländer forderte, schlief van der Lubbe sogar ein! Der sichtbare Verfallsprozess wird auch von den psychiatrischen Gutachtern sowie unabhängigen (Presse-)Beobachtern beschrieben und ist bei Bahar/Kugel mit Fotos dokumentiert.6 Lediglich an zwei Verhandlungstagen (am 13. und am 23. November 1933) schien van der Lubbe vorübergehend aus seinem Dämmerzustand zu erwachen, sprach von inneren „Stimmen“ oder „Stimmungen“ und erklärte u. a. bestimmt, er sei für die verschieden Brandherde im Plenarsaal nicht verantwortlich.

Der festen Überzeugung, van der Lubbe (der zeitweilig die Nahrungsaufnahme gänzlich verweigerte) habe unter Drogen gestanden, war sein Mitangeklagter und Mithäftling Popoff. Der berichtete 1966, zwischen van der Lubbe und „unseren SS-Betreuern“ sei es „mehrfach zum Streit gekommen“, „meistens zur Zeit des Essensausteilens“. Popoff versuchte, den Grund für das „nicht normale Verhalten“ des Holländers herauszufinden, der wie „betäubt“ gewirkt habe. Dabei habe er festgestellt, dass van der Lubbe nicht „dasselbe Essen erhielt wie seine Mithäftlinge“. Im Hintergrund des [Brot-]Korbes [der den Gefangenen durch eine Türklappe ans Fenster gestellt wurde] lag ein in ein Papier eingewickeltes Stück Brot. Eines Tages habe ich mehr aus Spaß versucht, dieses Brot zu nehmen. Unser Betreuer, ein SS-Mann, sagte sofort, ich sollte das liegenlassen. Auf dem Papier, in welches das Brot eingeschlagen war, stand mit Bleistift 'Lubbe' geschrieben.“

Dr. Karl Soedermann, Privatdozent für Kriminalistik an der Universität Stockholm, der van der Lubbe in den ersten Tagen der Verhandlung in seiner Zelle besuchen durfte, bestätigte vor Gericht unabsichtlich diese Darstellung, als er ausführte: „Ich werde gern sagen, daß er besser behandelt wird als die anderen Gefangenen. Das hat man vom Essen und allem da gesehen.“7

„Lex van der Lubbe“

Dass man van der Lubbe unter Drogen gesetzt hatte, vermuteten damals viele unabhängige Beobachter. Die psychiatrischen Gutachter schlossen diese Möglichkeit aus, allerdings ohne Blut oder Urin des Angeklagten je selbst untersucht zu haben. Bonhoeffer und Zutt erklärten den Angeklagten zwar für zurechnungsfähig zum Zeitpunkt der Tat, wichen aber der Beantwortung der Frage nach seiner Verhandlungsfähigkeit aus.8

Ein weiterer Gutachter, der Leipziger Nervenarzt, Oberregierungs- und Medizinalrat Dr. Richard Schütz sprang in letzter Minute ein, um diese peinliche Scharte auszuwetzen. Im Unterschied zu Bonhoeffer und Zutt erklärte Schütz am 6.12.1933, 17 Tage vor der Urteilsverkündung in einem „Gutachten“ explizit, van der Lubbe sei „während der ganzen Dauer der Verhandlungen verhandlungsfähig gewesen“, und er sei „natürlich auch heute zurechnungsfähig, vollkommen geistig gesund.“ Ganz im Gegensatz hierzu kam der holländische Mediziner Dr. M. C. Bolten, Psychiater und Neurologe am städtischen Krankenhaus Haag in einem unabhängigen Gutachten zu dem Schluss, aufgrund der „psychischen Anomalien und Defekte“, die er bei van der Lubbe während des Prozesses beobachtet habe, müsse dieser „m.E. als vermindert zurechnungsfähig angesehen werden.“

Dennoch wurde van der Lubbe auf der Grundlage eines eigens für ihn nachträglich erlassenen, rückwirkenden Gesetzes („Lex van der Lubbe“)9, also grob rechtswidrig am 23. Dezember 1933 zum Tode verurteilt und am 10. Januar 1934 in Leipzig eiligst enthauptet – ursprünglich hatten Hitler und Göring den Holländer ohne Prozess hängen lassen wollen.

Laut der offiziellen Darstellung soll van der Lubbe vor seiner Hinrichtung ein ruhiges und gefasstes Verhalten an den Tag gelegt haben. Demgegenüber berichtete ein Gerichtsreferendar, der mit einigen Kollegen morgens gegen 6 Uhr von einem Dienstzimmer aus auf die Richtstätte hinuntersehen konnte, der Verurteilte habe beim Betreten des Hofes laut aufgeschrieen und sich heftig gewehrt. Offenbar war van der Lubbe erst jetzt bewusst geworden, dass es um seinen Kopf ging. Eine Autopsie der Leiche des Hingerichteten fand nicht statt, die Herausgabe des Leichnams nach Holland wurde verweigert.10

Auf höhere Weisung hatte das Reichsgericht so gut wie ausschließlich nach mutmaßlichen kommunistischen Tätern gesucht. Das geht nicht nur aus den Ermittlungsunterlagen und aus der Anklageschrift hervor. Das Reichsgericht selbst hat in seinem Urteil am Schluss des Prozesses wörtlich ausgeführt: Die NSDAP habe es „nicht nötig“ gehabt, „durch ein Verbrechen ihre Wahlaussichten zu verbessern. Die gesinnungsmäßigen Hemmungen dieser Partei schließen derartige verbrecherische Handlungen, wie sie ihr von gesinnungslosen Hetzern zugeschrieben werden, von vorne herein aus.“

Von einem rechtsstaatlichen Verfahren kann daher keine Rede sein.

Die Meinungen über den Prozessverlauf und das Urteil sind bis heute geteilt. Für die einen handelt es sich dabei um das erste Beispiel der Nazi-Willkürjustiz und bei van der Lubbe um deren erstes Opfer, andere dagegen sprechen von einem im Wesentlichen rechtsstaatlichen, das heißt objektiven, fairen und unparteiischen Verfahren. So nannte beispielsweise Hubertus Schorn in seiner Studie über Richter im Dritten Reich den Untersuchungsrichter Paul Vogt einen „mutvollen Verfechter von Recht und Gerechtigkeit“.

In den Augen von Dr. Andreas Roth, Professor für Deutsche Rechtsgeschichte und Bürgerliches Recht an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz, war der Reichstagsbrandprozess hingegen „eine politische Inszenierung der Nationalsozialisten“, der neben anderen Ereignissen „zur sogenannten Machtergreifung erheblich beigetragen hat“. Darüber hinaus sei „der Prozess ein Beispiel dafür, dass sich die Richter der ordentlichen Gerichtsbarkeit nicht, wie mitunter behauptet, neutral verhielten, sondern sich schon sehr früh für die Ideologie der neuen Machthaber instrumentalisieren ließen.“ Roths Einschätzung bezieht sich nicht nur auf das Ergebnis des Verfahrens, sondern „vor allem auf die Prozessführung, in der der Vorsitzende z.B. Göring sehr weit entgegenkam“. Es gelte „aber auch hinsichtlich einiger Passagen in der Urteilsbegründung, die bei der Einschätzung der politischen Situation die Auffassung der Nationalsozialisten übernahm“.

Die Stenographischen Protokolle des Prozesses wie auch die seit einiger Zeit zugänglichen Ermittlungsakten des Reichsgerichts, der Politischen Polizei und der Oberstaatsanwaltschaft belegen nicht nur offenkundige Verstöße gegen die Strafprozessordnung: so die Fesselung der Angeklagten bei Tag und Nacht, die Ablehnung ausländischer Rechtsanwälte, der mehrfache Ausschluss des kommunistischen Mitangeklagten Georgi Dimitroff von der Verhandlung. Im Verfahren wurden auch Beweismitteln manipuliert, es wurden Zeugen aus Konzentrationslagern vorgeführt: „Arbeiterzeugen“, die bekunden sollten, dass die KPD den Aufstand geplant habe und der Reichstagsbrand das „Fanal“ dafür hätte sein sollen. Darüber hinaus bediente sich die Anklage gedungener Zeugen, darunter Polizeispitzel und Provokateure. Auch war der Freispruch Torglers, dies geht aus den Akten hervor, schon vor Prozessbeginn abgesprochen. Von einem rechtsstaatlichen Verfahren kann daher keine Rede sein.

Juristisches Nachspiel in der BRD

Nachdem sein Bruder Johannes Markus (Jan) am 11. November 1965 zum wiederholten Mal die Aufhebung des Reichsgerichtsurteils gegen Marinus van der Lubbe beantragt hatte, änderte das Berliner Landgericht am 21. April 1967 den Schuldspruch des Reichsgerichts vom 23.12.1933 dahin gehend ab, dass es van der Lubbe nun nur noch „der menschengefährdenden Brandstiftung […] oder der versuchten einfachen Brandstiftung“ für schuldig befand. Die Verurteilung wegen Hochverrats und aufrührerischer Brandstiftung entfiel. Die erkannte Todesstrafe wurde auf eine Gesamtstrafe von acht Jahren Zuchthaus ermäßigt und die Aberkennung der bürgerlichen Ehrenrechte rückgängig gemacht. Im Übrigen wurde „der Aufhebungsantrag als unbegründet zurückgewiesen“.

Zwar wurde das Urteil nach entsprechenden juristischen Bemühungen Jan van der Lubbes am 15. Dezember 1980 von der 10. Strafkammer des Landgerichts Berlin aufgehoben und van der Lubbe freigesprochen. Am 13. Februar 1981 legte die Staatsanwaltschaft am Landgericht Berlin gegen dieses Urteil jedoch Beschwerde ein, welcher der 4. Strafsenat des Kammergerichts Berlin am 21. April 1981 stattgab. Alle Bemühungen der Familie van der Lubbe, die von Dr. Robert Kempner, ehemals stellvertretender Chefankläger am Nürnberger Militärgerichtshof, unterstützt wurden, eine Wiederaufnahme des Reichstagsbrandprozesses zu erreichen, scheiterten am Unwillen der BRD-Justiz. Das Urteil des Landgerichts Berlin vom 21. April 1967 hatte damit weiter Bestand.

Erst am 6. Dezember 2007, also beinahe 74 Jahre nach diesem Justizmord, hat die deutsche Generalbundesanwaltschaft in Karlsruhe das Todesurteil gegen van der Lubbe „von Amts wegen“ aufgehoben. Grundlage für diesen förmlichen Akt ist das Gesetz zur Aufhebung nationalsozialistischer Unrechtsurteile in der Strafrechtspflege vom 25. August 1998. Unberührt von der Karlsruher Entscheidung bleibt das Urteil freigesprochenen kommunistischen Mitangeklagten. Mit der formaljuristischen Rehabilitierung van der Lubbes hat die deutsche Justiz die Akte Reichstagsbrand nach der übereinstimmenden Ansicht von Strafrechtlern endgültig geschlossen. Zu einer Aufarbeitung des Reichstagsbrandprozesses trage die Karlsruher Urteilsaufhebung jedenfalls nicht bei, urteilt Andreas Roth.11

Innerhalb Deutschlands sowie – mit gewissen Abstrichen – im gesamten deutschen Sprachraum wird eine objektive Auseinandersetzung über den Reichstagsbrand und den ihm folgenden Prozess bis heute durch das unsägliche Wirken einer mafiösen Seilschaft von Meinungsführern in Medien, staatsnaher Geschichtswissenschaft, Verfassungsschutz und Politik verhindert. Bis heute hält dieses Kartell von „Gralshütern“ hartnäckig und unbelehrbar an der längst widerlegten Gestapo-These12 von der angeblichen Alleintäterschaft des nahezu blinden Holländers fest.

Warum diese zähes Festhalten an einer These, die nicht nur alle Wahrscheinlichkeit im Sinne des gesunden Menschenverstands gegen sich hat, sondern die auch wissenschaftlich völlig unhaltbar ist? Warum nur dürfen die Nazis nicht die Täter gewesen sein? Mit Blick auf jene, die diese These ursprünglich in die Welt gesetzt haben, ist diese Frage leicht zu beantworten. Rudolf Diels und seine Mitarbeiter, die sich opportunistisch in den Dienst der Hitler-Regierung stellten, brauchten nach 1945 eine Entlastung. Da passte ihnen die These, wonach 1933 alles noch gar nicht so schlimm, die Entwicklung hin zum NS-Unrechtsstaat gar nicht absehbar gewesen sei, hervorragend in den politischen Kram.

Im Februar 1947 schrieb Rudolf Diels – der die Verhaftungsaktion nach dem Reichstagsbrand, die er selbst leitete, sechs Stunden zuvor in einem Polizeitelegramm angekündigt hatte – an seinen früheren Mitarbeiter und Intimus Heinrich Schnitzler: „Es scheint mir wichtig, unsere Arbeit als eine einheitliche Widerstandsleistung darzustellen, die zunächst den Gang der Entwicklung weg vom Rechtsstaat und hin zum reinen Terrorismus verzögert hat.“ Dank Rudolf Augstein durfte sich der Ex-Gestapochef zwei Jahre später im „Spiegel“ dann ungeschminkt zum Demokraten und frühen Widerstandskämpfer stilisieren.

Einen entlarvenden Einblick in die Motive und Denkweise der heutigen Apologeten der Gestapo-These lieferte unfreiwillig einer von deren jüngeren Nachbetern in einem Radio-Interview13 im Februar 2008. Darin behauptete er: „Wenn der Plan, den Reichstag anzustecken, von den Nazis ausgegangen wäre, wäre die gesamte Machteroberung der NSDAP über [sic] Deutschland ein Staatstreich gewesen, dem die Deutschen unterworfen worden wären. Das hat letztlich eine exkulpierende, eine entschuldigende Wirkung. Heute ist die Geschichtswissenschaft viel weiter. Wir wissen, dass große Teile der deutschen Gesellschaft bewusst und auch willig der Diktatur Hitlers gefolgt sind.“

Diese Behauptung stellt den wirklichen Sachverhalt auf den Kopf. Denn der hier geleugnete Staatstreich hat stattgefunden – getarnt als pseudolegale Machtübernahme. Er erfolgte im Bündnis mit den herrschenden Eliten in Großindustrie, Hochfinanz, Militär, Politik, Beamtenapparat und Kirche –, und der Reichstagsbrand lieferte den Vorwand dazu. Erst danach konnten die Nazis zusammen mit ihren bürgerlichen Koalitionären die Reichstagswahlen gewinnen, folgte eine Mehrheit der Deutschen Hitler.

Die Absicht ist offenkundig, die Schuld an den Verbrechen des NS-Regimes schön gleichmäßig über die deutsche Bevölkerung zu verteilen. Mit dieser Argumentation sollen all jene entlastet werden, die die Errichtung der Nazi-Diktatur von Anfang an befürworteten oder gar aktiv unterstützten. Denn wenn schon die Nazis keinen Plan für die Errichtung der Diktatur, die Vernichtung der politischen Opposition und die Zerschlagung des Restbestands an parlamentarischer Demokratie hatten, wer wollte dann ihren bürgerlichen Unterstützern einen Vorwurf daraus machen, dass sie sich mit ihnen eingelassen hatten?