Das Ende der Ära Chávez

Innenpolitische Seiltänze des Präsidenten waren entscheidend für das Scheitern der Bolivarianischen Revolution á la Hugo Chávez

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Kaum ein südamerikanischer Präsident hat in den letzten Jahren so viele Fragen aufgeworfen wie Hugo Chávez. Der Mann mit den zwei Gesichtern galt weithin als politisch nicht kalkulierbare Persönlichkeit. War er ein Demokrat, der gegen die putschsüchtige Oberschicht ankämpfte, oder ein Diktator, dem die Meinung der Straße in seinem politischen Experiment nicht interessierte? Ein Demokrator: Zwar hatte er in äußerst autoritärem Führungsstil kontinuierliche Kämpfe mit den einflussreichsten Sektoren herauf beschworen, jedoch verbal, unter demokratischen Spielregeln und ohne physische Übergriffe. Bis zum letzten Tag seiner Amtszeit: Anhänger und Elite-Soldaten töteten elf Menschen einer Grossdemonstration und brachten so die Regierung Chávez zu Fall (Der zweite Sturz von Bolívar).

Ein Draufgänger und unbelehrbarer Idealist ohne politisches Feingefühl war Chávez während seiner dreijährigen Amtszeit im Präsidentenpalast Miraflores (Website der Regierung). Unter dem Eindruck eines erdrutschartigen Wahlsiegs im Dezember 1998 führte er eine Verfassungsreform durch, die dem korrupten Staatsapparat der Vorgängerregierungen den Garaus machen und das Land politisch reformieren sollte. Was zunächst blieb, waren weitreichende Befugnisse für das Staatsoberhaupt: Per Dekret gab sich Chávez Sondervollmachten, mit denen er am Parlament vorbei Gesetze verabschieden lassen konnte. Gesetze, die seiner Bolivarianischen Revolution Profil einhauchen sollten.

Nach zwei Jahren großer Sprüche lancierte Chávez erstmals im Oktober 2001 ein Gesetzespaket, das als Initialzündung im folgenden offenen Konflikt mit beinahe allen großen und einflussreichen Gesellschaftsbereichen galt. Neben einer quasi Verdoppelung der staatlichen Steuereinnahmen für privat gefördertes Öl stand ein neues Landgesetz auf Platz Eins der Kritik. "Eine Gefahr für die Prinzipien und Rechte des Landbesitzes in Venezuela", nannte Pedro Carmona, Präsident der Industriellenvereinigung Fedecámaras den Versuch Chávez', dem Großgrundbesitzertum im Land ein Ende zu setzen. Das Gesetz sah vor, dass der Staat die Größe des Landbesitzes zukünftig von der Bodenqualität und der Produktivität abhängig machen kann. Die Normen sollten von einer staatlichen Kommission festgesetzt werden. Bei brachliegenden Ländereien kann der Staat intervenieren und den Besitzer enteignen. Grund genug also für die Mittel- und Oberschicht, gegen den "Kommunisten" Chávez Front zu machen.

Auf einem internationalen Forum in Caracas erklärte der Vizeagrarminister Efrén Andrade Anfang Dezember zwar, dass es der Regierung nicht um Aneignung von Land, sondern um eine nachhaltige Produktion von Nahrungsmitteln sowie eine gerechtere Landverteilung geht. Die Anti-Chávez-Maschinerie aus Medien und Interessenverbänden war laut Carmona jedoch bereits "ein nicht mehr zu stoppender Zug".

Konflikt mit den Medien

Am 10. Dezember legte ein erster Generalstreik Teile Venezuelas lahm, hinter dem auch der größte Gewerkschaftsverband CTV des Landes stand. Dass bereits zu diesem Zeitpunkt offenbar immer weniger Venezolaner ihrem Präsidenten vertrauen schenkten, lag an dessen undefinierbaren Kurs. Hatte er im Dezember noch eine Überarbeitung und Kompromisssuche mit der Opposition zu den Gesetzen angekündigt, verschärfte er im Januar den Konfrontationskurs.

Im Blickfeld standen dabei besonders die oppositionellen Medien, allen voran die einflussreiche Tageszeitung El Nacional, welcher der Staatschef "Lügen über seine Politik" vorwarf. Eine Karawane von aufgebrachten Chávez-Anhängern zog demonstrierend am 7. Januar vor verschiedene Redaktionsgebäude und drohte den Journalisten wegen Parteinahme für die Opposition. Ein Sprengsatz explodierte Ende Januar vor dem Eingang einer Fernsehanstalt, deren Urheber jedoch bisher unbekannt sind.

Die Interamerikanische Menschenrechtsorganisation (IACHR), die zur Organisation Amerikanischer Staaten OAS gehört, warf der Regierung daraufhin vor, eine Anfang Januar ausgesprochene Mahnung zur Einhaltung der Pressefreiheit nicht zu beachten. Außenminister Alfonso Dávila erklärte, dass es keinen Grund zu der Annahme gäbe, von einer laut IACHR herrschenden "Einschüchterung" der Presse zu sprechen. Er habe die Staatsanwaltschaft zu einer Prüfung der Pressefreiheit veranlasst, sehe aber keinen Grund, gegen Demonstranten vorzugehen, solange diese "friedlich ihre Meinung äußern".

Tatsächlich gab es nie eine großangelegte Knebelung der Presse, jedoch wurde der Konflikt mit den oppositionellen Medien, die nichts unversucht ließen, Chávez zu demontieren, gezielt geschürt. So war die Zahl der betroffenen Journalisten bei den Schüssen vom letzten Donnerstag erschreckend hoch: Ein Fotograf wurde getötet, drei Reporter verletzt.

Kontakte zur kolumbianischen Guerilla

Einen für die Regierung folgenreichen Skandal deckte ein Anfang Februar in Venezuela erschienenes Video auf, dass venezolanische Militärs in Gesprächen mit kolumbianischen Guerilleros der kommunistischen FARC-EP zeigte. Aufgenommen im Juni 1999, wurde es zur Nagelprobe für das Ansehen des venezolanischen Präsidenten. Darauf war kein minderer als der amtierende venezolanische Innenminister Ramon Rodríguez Chacín zu sehen, welcher zuvor Chef des venezolanischen Geheimdienstes war. Laut venezolanischen Angaben handelte es sich dabei um Gespräche für eine Freilassung entführter Staatsbürger durch die kolumbianische Guerilla.

Ein 1999 entwickelter Plan "Projekt Grenzen" durch die Chávez-Regierung sah vor, dass diese in begrenztem Umfang Kontakt mit der Guerilla aufnehmen könne, um "sofort den teils grenzübergreifenden Konflikt zu mildern und mittelfristig Entführungen und Erpressungen beenden zu können". Allerdings sah dieser Prozess eine für die kolumbianische Regierung transparente Umsetzung vor. Von einem Besuch der hochrangigen Funktionäre in der FARC-Zone wusste das Nachbarland jedoch nichts, scheinbar genauso wenig wie Hugo Chávez selbst. Nach tagelangen Untersuchungen räumte er am 8. Februar ein, dass die Kontakte zur Guerilla ein Fehler waren. Sein Stigma als Guerilla-Sympathisant haftete ihm dennoch weiter an und wurde im März dieses Jahres weiter genährt.

Am 23. März entwickelten sich schwere Kämpfe zwischen der FARC-Guerilla und der kolumbianischen Armee im Grenzgebiet zu Venezuela. Zu neuen diplomatischen Spannungen kam es, als der zuständige kolumbianische General Martín Carreño behauptet hatte, die Rebellen würden die Armee von venezolanischer Seite aus beschießen, sporadisch auf kolumbianisches Territorium vordringen, um danach wieder Zuflucht in Venezuela zu suchen. Der venezolanische Verteidigungsminister José Vicente Rangel wies die Vorwürfe umgehend als Denunziationsversuch zurück. "Bis jetzt haben wir keinen einzigen Rebellen auf unserem Territorium ausgemacht", so Rangel. Mehrere Helikopter wurden damals in die Zone geschickt, um die kolumbianischen Vorwürfe zu überprüfen. Von einer Kooperation war laut kolumbianischer Seite aber nichts zu spüren. Ein Team der kolumbianischen Tageszeitung El Tiempo recherchierte in der Gegend und fand angeblich mindestens 50 kolumbianische Guerilleros in zivil und Rebellencamps auf venezolanischer Seite.

Amtsenthebungsverfahren gegen Chávez

Innenpolitisch bekam es Chávez mit alten Weggefährten zutun. Vertreter der gemäßigt linken Partei der Bewegung zum Sozialismus (MAS) reichten im Januar eine Klage ein, die in ein Amtsenthebungsverfahren münden sollte. Der Vorwurf: Veruntreuung von Staatsgeldern, die Chávez für parteipolitische Zwecke eingesetzt haben soll. Noch vor einem Jahr gehörte die MAS zur Unterstützerkoalition der Regierung im Parlament, schlug sich dann aber wegen Meinungsverschiedenheiten auf Oppositionsseite. Laut MAS-Generalsekretär Leopoldo Puchi, ehemaliger Arbeitsminister in der Chávez-Regierung, habe der Präsident "systematisch und wiederholt die Verfassung verletzt". In sieben Anklagepunkten wurden ihm unter anderem vorgeworfen, vor der Wiederwahl vor zwei Jahren Gelder aus der Staatskasse sowie öffentliche Gebäude und Schulen für Wahlveranstaltungen seiner Partei benutzt zu haben.

Bereits zu diesem Zeitpunkt hatte es sich Chávez mit allen ehemals Verbündeten verscherzt. Die Gewerkschaften schmiedeten ungewöhnliche Bündnisse mit Unternehmerverbänden, um Druck auf den Präsidenten auszuüben. Zu einem sechs Wochen anhaltenden Streik im staatlichen Erdölsektor fiel Chávez nichts besseres ein, als in einer Fernsehansprache mit Listen zu winken, auf denen potenzielle Nachfolgernamen für frei werdende Arbeitsstellen standen. Er drohte mit einer Kündigung aller, die weiter streiken wollen. Nur vier Tage später musste er dem Druck der Strasse und allen Interessenverbänden des Landes samt Militär weichen. Ihm soll nun der Prozess gemacht werden.

Was bleibt einem Land, das nun eine Alternative zur Alternative suchen muss? Chávez galt vor drei Jahren als der Hoffnungsträger des viertgrößten Erdölexporteurs der Welt, das gleichzeitig an immenser Armut leidet. Noch Anfang April bestätigte eine Umfrage, dass die Venezolaner Chávez wiederwählen würden. Dazu reichen laut Umfrage ganze 26 Prozent. Links und rechts von Chávez gibt es keinen Nachfolger. In der Not wurde Pedro Carmona, Vorsitzender des Industriellenverbands Fedecamaras, als Interimspräsident eingesetzt. Ausdruck einer politischen Dauerkrise, die aber wie in den letzten Jahrzehnten nicht dem Export von Erdöl im Wege stehen soll.

Die amerikanische Regierung unterstützt den Putsch und nannte ihn nur eine "Veränderung der Regierung". Überdies vertritt sie die Ansicht, Chávez sei zurückgetreten. Aus Venezuela kommen nach Kanada und Saudi Arabien die größte Menge an Erdölimporten in die USA. Andere Länder wie Mexiko, Argentinien oder Paraguay wollen die neue Regierung nicht anerkennen und verlangen freie Wahlen. Die Teilnehmer des Gipfels der Rio-Gruppe in Costa Rica verurteilten "den Bruch der verfassungsmäßigen Ordnung". Die Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch zeigte sich besorgt über Informationen, dass Chávez zum Rücktritt genötigt worden sei, und fordert die Wiederherstellung der demokratischen Institutionen.

Tommy Ramm, Bogotá