Das ist doch der Gipfel!

Die NATO in Prag verfasst die neue militärische Weltordnung

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Im Grunde hätte die NATO längst abgetakelt werden müssen, seitdem sich der Warschauer-Pakt in Luft auflöste und die potenziellen militärischen Bedrohungen für Westeuropa durch ehemalige Pakt-Mitglieder selbst die kältesten Krieger nicht mehr auf den Schlachtplan rief. Aber dieser Militärgigant ist zu mächtig, um ihn zu beerdigen, zumal Organisationen, wie wir seit Parkinson wissen, sich ihre Aufgaben auch unabhängig von ihrer Umwelt beschaffen.

Offiziell klingt das freilich anders: Für Bundesaußenminister Fischer markiert der diesjährige Prager NATO-Gipfel eine neue Ära globaler kooperativer Sicherheit. Fischer redet von der "Lösung der großen europäischen Sicherheitsfragen", aber US-Präsident Bush spannt den Bogen der künftigen NATO noch erheblich weiter.

Nach Bush soll die seit dem Ende des Kalten Kriegs verwaiste Megamilitärmaschine nun zum Kampf gegen den Terrorismus umgewidmet werden. Das zeichnete sich bereits kurz nach Beginn des immer währenden Freiheitskampfes ab (Vgl. Die Neue-Anti-Terror-Organisation (NATO)). Auch der allen Zeichen nach bevorstehende Einsatz gegen den finsteren Achsenfürsten Saddam Hussein gilt nach der großzügigen Auslegung des amerikanischen Freiheitswahrers als Kampf gegen den Terror.

Bush macht damit seine Doktrin des amerikanischen Internationalismus (vgl. Amerikanischer Internationalismus) nun auch für die zukünftigen erweiterten Kompetenzen der NATO verbindlich. Denn wenn er und seine Geheimdienste zur Auffassung kämen, dass Antiterror-Einsätze nötig sind, wäre die NATO nach ihrem neuen Globalisierungsideal mehr oder minder automatisch zur Beteiligung verpflichtet. Die Selbstermächtigungen der "preemptive strikes" reichen viel weiter als die frühere Feststellung eines Verteidigungsfalls mit der wechselseitigen Beistandsverpflichtung der NATO-Mitglieder. Das einstige Verteidigungsbündnis verwandelt sich so im Zeichen der amerikanisch verordneten Präventivschlagslehre zum globalen Militärbündnis, das eine militärmachtpolitische Weltordnung unter dem "star spangled banner" anstrebt.

Gegenüber dem tschechischen Präsidenten Vaclav Havel erklärte Bush, dass Saddam Hussein sich der Weltgemeinschaft zu beugen habe. Wer das für "offtopic" halten mochte, wurde gleich eines Besseren belehrt. Bush bezeichnete die NATO in Prag blumig als die "Allianz der Entschlossenen", was nichts anderes formuliert als Bushs Entschlossenheit, diesen und andere Kriege im Schulterschluss der NATO-Allianz zu führen. Völlig unberührt von den jetzt eingeleiteten UNO-Waffeninspektionen laufen die Vorbereitungen für den Krieg gegen den Irak hochtourig weiter. Die Anfragen an zahlreiche Nationen, im Fall der Fälle zu kooperieren, sind gerade vor dem Hintergrund, dass der Irak sich willig zeigen soll, das Paradebeispiel für die Paradoxie friedlicher Lösungen in Zeiten der NATO-Erweiterung.

Wie stellt sich die NATO nach Prag dar? Die NATO-Erweiterung der 19 Mitgliedsstaaten um die nun eingeladenen Staaten Bulgarien, Rumänien, Slowenien, die Slowakei und die baltischen Republiken Estland, Lettland, Litauen ist nach dem so globalen wie diffusen Auftragswechsel für die NATO nur der Anfang einer unabsehbaren Totalisierung. Mazedonien, Albanien und Kroatien müssen zwar diesmal als demokratisch unsichere Kantonisten draußen bleiben. Aber was noch nicht ist, kann schon bald werden. O-Ton-Nato-Generalsekretär Lord Robertson:

Today's the invitees will not be the last. Through the MAP [Membership Action Plan] process, we will continue to help you pursue your reform process, and we remain committed to your full integration into the Euro-Atlantic family of nations...

Denn weder ist die "Osterweiterung" mit diesem Riesenpaket neuer Mitgliedschaften abgeschlossen noch spricht nach der neuen Allzuständigkeit der NATO irgendetwas gegen die Aufnahme solcher Staaten, die Präsident Bush in die breite Achse der Guten einreihen will. Nach dem US-NATO-Botschafter Nicholas Burns sollen auch Georgien und Usbekistan demnächst eine Chance bekommen, "Mitglied der Familie" zu werden. So nähert sich die NATO langsam den Grenzen Chinas und die Kampfzone "westlicher" Interessen könnte auf neue Widersacher erweitert werden, wenn "al Qaida" und "Usama bin Ladin" längst in der Geschichte versenkt sind.

Mit der Neuen NATO wird die ohnehin so brüchige Souveränität von Nationalstaaten diesseits und jenseits der Frontlinie des Antiterrorkriegs noch weiter strapaziert. Die Aufstellung einer neuen, schnellen Eingreiftruppe - ca. 20.000 Soldaten, die an jedem Ort des Globus binnen Wochenfrist in Erscheinung treten können - verwickelt die NATO-Mitglieder potenziell in sämtliche Konflikte des Globus, die in Washington für regulierungsbedürftig erachtet werden. Wer also wie Bush und der britische Premier Tony Blair von Frieden und Sicherheit in Europa redet, knüpft nur scheinbar an das traditionelle Selbstverständnis der NATO an, die nun in Prag nicht die Moldau, sondern endgültig den Rubikon überschritten hat. Lord Robertson spricht folgerichtiger als einige Staatschefs bereits von "einer globalen Organisation" und die Gipfelerklärung verbindet die Emphase der NATO-EU-Kooperation dann auch gleich mit Erwägungen einer sogenannten strategischen Partnerschaft mit nichteuropäischen Staaten (Prague Summit Declaration).

Selbst Außenminister Fischer will in der NATO kein reines Verteidigungsbündnis mehr sehen, sondern eine über den Atlantik reichende "Wertegemeinschaft". Dass ein Militärbündnis eine Wertegemeinschaft ist, scheint eher der hybride Ausweis für die Fragilität dieser Wertegemeinschaft zu sein. Entwickelt sich nun die militärische Wertegemeinschaft der NATO zur schlagkräftigen Alternative der entscheidungsschwachen UNO - mit dem fundamentalen Vorteil, dass alle Weltregulierungen demnächst unter militärischen und machtpolitischen Aspekten gestrafft werden können?

Die Hegemonie der USA in dieser nach fast allen Seiten hin offenen Wertegemeinschaft ist ohnehin klar. Bereits jetzt zeigen die Appelle der USA, das Militärbudget der einzelnen Länder zu erhöhen, dass sich zukünftige Interessenhierarchien je nach den einzelnen Verteidigungsbeiträgen ergeben. Geht es nach Präsident Bushs NATO-Verständnis könnte Bundeskanzler Schröders Absage an eine deutsche Beteiligung im Irak schon bald gegenstandslos werden, zumindest aber in der von den USA schon länger behaupteten Isolation müder deutscher Krieger enden. Was des Kanzlers Erklärung für das Versagen von Wirtschafts- und Arbeitsmarktpolitik ist, könnte dann morgen schon die mehr oder weniger elegante Erläuterung für globale Verteidigungsaufträge unter deutscher Beteiligung sein: NATO-Zwänge, weil Deutschland sonst nicht mehr Teil der militärisch verfassten Wertegemeinschaft wäre. Die vorgesehene deutsche Aufgabe der Anmietung von Transportflugzeugen, die insbesondere bei der globalen Antiterror-Eingreiftruppe relevant werden kann, wird damit zu einem weiteren Risikofaktor einer selbst bestimmten Friedenspolitik.

Vergrößert sich die NATO mit diesem unstillbaren Appetit auf neue Mitglieder noch weiter, entsteht damit ein transnationaler Leviathan, von dem Thomas Hobbes nur träumen konnte. Und dass die Kausalität zwischen souveränen Entscheidungen der einzelnen Mitglieder und globalen Weltrettungsaufträgen nur in eine Richtung verläuft, mag wohl niemand glauben, der weiß, dass nicht nur Medien, sondern auch Organisationen ihre eigene Botschaft sind. Die vorliegende Botschaft ist eindeutig: Mit der sich abzeichnenden Aufgabenentgrenzung entsteht ein Militärmoloch unter amerikanischer Führung, dem kaum mehr Einhalt zu gebieten wäre, wenn die Interessen der Welt nicht die Interessen der NATO sein sollten. Was selbstverständlich nicht denkbar ist.