Wie provoziert man einen Putsch?

Die Ereignisse in Venezuela weisen verblüffende Ähnlichkeit mit dem von den USA unterstützten Putschversuch im April auf

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In Venezuela hat der vierte Generalstreik in einem Jahr eine blutige Wendung genommen. Wieder beschuldigen sich beide Seiten der Toten. Wieder zeigen sich US-Vertreter betroffen, wieder wird das Militär zum Aufstand aufgerufen.

Der venezolanische General Efrain Vázquez Velazco zog sich in der Nacht zum Samstag zum ersten Mal seit fast acht Monaten wieder seine Uniform an und wies seinen Chauffeur an, zur Zentrale des Senders Globovisión zu fahren. Fernsehauftritte hoher Militärs sind in dem südamerikanischen Land nicht ungewöhnlich, wäre Velazquez nicht wegen seiner Beteiligung am Militärputsch Mitte April vom Militärdienst suspendiert worden.

Nichtsdestotrotz verlas er in den frühen Morgenstunden in Generalsuniform eine Mitteilung, in dem er erklärte: "Nie habe ich gedacht, diese Uniform wieder anzuziehen, die Ereignisse der letzten Stunden aber zwingen mich dazu." Es folgte der Aufruf an den Präsidenten, zurückzutreten, und der an die Militärspitze, "dem Volk die Freiheit zurückzugeben, die es verlangt". Wenige Stunden zuvor, am Freitag Abend um 19.00 Uhr (Ortszeit) hatte es bei einer Demonstration der Opposition im Zentrum von Caracas drei Tote und mehrere Dutzend Verletzte gegeben, als bislang Unbekannte das Feuer auf die Demonstration eröffneten.

Dabei weisen die Ereignisse verblüffende Ähnlichkeit mit denen im April auf. Auch damals hatte es nach mehreren Tagen mehr oder weniger ergebnisloser Demonstrationen der Mittelklasse und Oberschicht des Landes Tote bei einer Demonstration gegeben. Damals hatte eine Gruppe oppositioneller Militärs die Ereignisse zum Anlass genommen, Präsident Hugo Chávez festzunehmen (Das Ende der Ära Chávez, Der zweite Sturz von Bolívar). Erst der massive Widerstand der Einwohner der armen Stadtteile um die Hauptstadt herum und regierungstreuer Truppen hatte das Blatt wenden können (Chávez wieder an der Macht). Auch dieses Mal ist es die Opposition, die von den Ereignissen politischen Profit schlägt.

Dass die Situation nach den Todesschüssen dieses Mal nicht eskaliert, ist ein Ergebnis Regierungspolitik der vergangenen Monate. "Seit April war uns klar, dass die Opposition mit allen Mittels versucht, polizeiliche und militärische Strukturen in ihrer Kontrolle zu behalten", erklärte Gilberto Giménez, ein Sprecher von Chávez, die Situation gegenüber Telepolis. So sei im Hinblick auf bevorstehende politische Aktionen die Hauptstadtpolizei von der Armee übernommen worden. Sie untersteht dem den rechten Lager zugehörigen Oberbürgermeister Alfredo Peña.

Auch wenn ein Putschversuch diesmal ausbleibt, wird mit den Ereignissen von Freitag deutlich, dass an eine politische Aussöhnung zwischen Regierung und Opposition in Venezuela nicht zu denken ist. Zu tief sind die sozialen und kulturellen Differenzen. Der aus einer indigenen Familie stammende Chávez wird von der traditionell das Land beherrschenden Oberschicht schlichtweg nicht als Präsident anerkannt. Hinzu kommt eine vehemente Opposition gegen die von dem 47-jährigen vorangetriebenen Sozialprogramme in den veramten Außenbezirken der großen Städte und auf dem Land (Sozialprogramme zur Armutsbekämpfung?). Nach Ansicht der kubanischen Soziologin Isabel Monal jedenfalls wird der Transformationsprozess in Venezuela auch weiterhin nicht konfliktfrei verlaufen. "Eine von beiden Seiten wird sich durchsetzen müssen", kommentierte die Wissenschaftlerin am Samstag die jüngsten Ereignisse. Eine Doppelherrschaft aber sei weiter kaum aufrechtzuerhalten.

Es zeichnet sich ab, dass sich diese Entscheidung zunehmend in den militärischen Bereich verlagert. Seit dem gescheiterten Putsch im April sind in Venezuela eine Reihe bewaffneter Untergrundgruppen wie Pilze aus dem Boden geschossen (Paramilitärs wollen Chavez ermorden). In seinem ersten Auftritt nach den Schüssen auf die Demonstration beschuldigte Chávez die Opposition am späten Freitag Abend, von "obskuren Interessen" gesteuert zu werden. Die vergangenen Tage habe er damit verbracht, Sabotageakte in der Ölindustrie zu vereiteln. Noch in der Nacht übernahm ein Marinekommando die Kontrolle über den vor Anker liegenden Öltanker "Pilín León".

Der Konflikt in Venezuela folgt zunehmend dem Schema der "schmutzigen Kriege" in Guatemala, El Salvador oder Nicaragua. Der US-Botschafter Charles Shapiro indes erklärte seine "tiefe Betroffenheit" in Anbetracht der Toten vom Freitag. Die Situation sei äußerst beunruhigend und fordere rasches Handeln.